BEANTWORTUNG DER FRAGE: WAS IST AUFKLÄRUNG ?
Berlinische Monatsschrift. Dezember-Heft 1784. S. 481-494
AUFKLÄRUNG ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten
Unmündigkeit.
Unmündigkeit ist das Unvermögen,
sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.
Selbstverschuldet
ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel
des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich
seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen.
Sapere aude! Habe
Mut, dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch
der Aufklärung.
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil
der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung freigesprochen
[A482] (
naturaliter maiorennes), dennoch gerne
zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird,
sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig
zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger,
der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät
beurteilt usw., so brauche ich mich ja nicht selbst zu bemühen. Ich
habe nicht nötig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden
das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.
Daß der bei weitem größte Teil der Menschen (darunter
das ganze schöne Geschlecht) den Schritt zur Mündigkeit, außer
dem daß er beschwerlich ist, auch für sehr gefährlich halte,
dafür sorgen schon jene Vormünder, die die Oberaufsicht über
sie gütigst auf sich genommen haben. Nachdem sie ihr Hausvieh zuerst
dumm gemacht haben und sorgfältig verhüteten, daß diese
ruhigen Geschöpfe ja keinen Schritt außer dem Gängelwagen,
darin sie sie einsperreten, wagen durften, so zeigen sie ihnen nachher
die Gefahr, die ihnen drohet, wenn sie es versuchen, allein zu gehen. Nun
ist diese Gefahr zwar eben so groß nicht, denn sie würden durch
einigemal Fallen wohl endlich gehen lernen; allein ein Beispiel von der
Art macht doch schüchtern und schreckt gemeiniglich von allen ferneren
Versuchen ab.
Es ist also für jeden einzelnen Menschen schwer, sich aus der ihm
beinahe zur Natur gewordenen Unmündigkeit [A483]
herauszuarbeiten. Er hat sie sogar liebgewonnen und ist vorderhand wirklich
unfähig, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, weil man ihn
niemals den Versuch davon machen ließ. Satzungen und Formeln, diese
mechanischen Werkzeuge eines vernünftigen Gebrauchs oder vielmehr
Mißbrauchs seiner Naturgaben, sind die Fußschellen einer immerwährenden
Unmündigkeit. Wer sie auch abwürfe, würde dennoch auch über
den schmalesten Graben einen nur unsicheren Sprung tun, weil er zu dergleichen
freier Bewegung nicht gewöhnt ist. Daher gibt es nur wenige, denen
es gelungen ist, durch eigene Bearbeitung ihres Geistes sich aus der Unmündigkeit
herauszuwickeln und dennoch einen sicheren Gang zu tun.
Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich;
ja es ist, wenn man ihm nur Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.
Denn da werden sich immer einige Selbstdenkende, sogar unter den eingesetzten
Vormündern des großen Haufens finden, welche, nachdem sie das
Joch der Unmündigkeit selbst abgeworfen haben, den Geist einer vernünftigen
Schätzung des eigenen Werts und des Berufs jedes Menschen, selbst
zu denken, um sich verbreiten werden. Besonders ist hiebei: daß das
Publikum, welches zuvor von ihnen unter dieses Joch gebracht worden, sie
hernach selbst zwingt, darunter zu bleiben, wenn es von einigen seiner
Vormünder, die selbst aller Aufklärung unfähig sind, dazu
aufgewiegelt [A484] worden; so schädlich ist
es, Vorurteile zu pflanzen, weil sie sich zuletzt an denen selbst rächen,
die oder deren Vorgänger ihre Urheber gewesen sind. Daher kann ein
Publikum nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution
wird vielleicht wohl ein Abfall von persönlichem Despotism und gewinnsüchtiger
oder herrschsüchtiger Bedrückung, aber niemals wahre Reform der
Denkungsart zustande kommen; sondern neue Vorurteile werden, ebensowohl
als die alten, zum Leitbande des gedankenlosen großen Haufens dienen.
Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als
Freiheit;
und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen
mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken
öffentlichen
Gebrauch zu machen. Nun höre ich aber von allen Seiten rufen:
Räsonniert nicht! Der Offizier sagt: Räsonniert nicht,
sondern exerziert! Der Finanzrat: Räsonniert nicht, sondern bezahlt!
Der Geistliche: Räsonniert nicht, sondern glaubt! (Nur ein einziger
Herr in der Welt sagt:
Räsonniert, soviel ihr wollt und worüber
ihr wollt,
aber gehorcht!) Hier ist überall Einschränkung
der Freiheit. Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich,
welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich? – Ich antworte: Der
öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei
sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zustande [A485]
bringen; der
Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr
enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung
sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche
seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als
Gelehrter von
ihr vor dem ganzen Publikum der
Leserwelt macht.
Den Privatgebrauch
nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten
bürgerlichen
Posten oder Amte von seiner Vernunft machen darf. Nun ist zu manchen
Geschäften, die in das Interesse des gemeinen Wesens laufen, ein gewisser
Mechanism notwendig, vermittelst dessen einige Glieder des gemeinen Wesens
sich bloß passiv verhalten müssen, um durch eine künstliche
Einhelligkeit von der Regierung zu öffentlichen Zwecken gerichtet
oder wenigstens von der Zerstörung dieser Zwecke abgehalten zu werden.
Hier ist es nun freilich nicht erlaubt zu räsonnieren; sondern man
muß gehorchen. Sofern sich aber dieser Teil der Maschine zugleich
als Glied eines ganzen gemeinen Wesens, ja sogar der Weltbürgergesellschaft
ansieht, mithin in der Qualität eines Gelehrten, der sich an ein Publikum
im eigentlichen Verstande durch Schriften wendet, kann er allerdings räsonnieren,
ohne daß dadurch die Geschäfte leiden, zu denen er zum Teile
als passives Glied angesetzt ist. So würde es sehr verderblich sein,
wenn ein Offizier, dem von seinen Oberen etwas anbefohlen wird, im Dienste
[A486] über die Zweckmäßigkeit oder
Nützlichkeit dieses Befehls laut vernünfteln wollte; er muß
gehorchen. Es kann ihm aber billigermaßen nicht verwehrt werden,
als Gelehrter über die Fehler im Kriegesdienste Anmerkungen zu machen
und diese seinem Publikum zur Beurteilung vorzulegen. Der Bürger kann
sich nicht weigern, die ihm auferlegten Abgaben zu leisten; sogar kann
ein vorwitziger Tadel solcher Auflagen, wenn sie von ihm geleistet werden
sollen, als ein Skandal, (das allgemeine Widersetzlichkeiten veranlassen
könnte), bestraft werden. Ebenderselbe handelt demohngeachtet der
Pflicht eines Bürgers nicht entgegen, wenn er als Gelehrter wider
die Unschicklichkeit oder auch Ungerechtigkeit solcher Ausschreibungen
öffentlich seine Gedanken äußert. Ebenso ist ein Geistlicher
verbunden, seinen Katechismusschülern und seiner Gemeine nach dem
Symbol der Kirche, der er dient, seinen Vortrag zu tun, denn er ist auf
diese Bedingung angenommen worden. Aber als Gelehrter hat er volle Freiheit,
ja sogar den Beruf dazu, alle seine sorgfältig geprüften und
wohlmeinenden Gedanken über das Fehlerhafte in jenem Symbol und Vorschläge
wegen besserer Einrichtung des Religions- und Kirchenwesens dem Publikum
mitzuteilen. Es ist hiebei auch nichts, was dem Gewissen zur Last gelegt
werden könnte. Denn was er zufolge seines Amts als Geschäftträger
der Kirche lehrt, das stellt er als etwas vor, in Ansehung [A487]
dessen er nicht freie Gewalt hat, nach eigenem Gutdünken zu lehren,
sondern das er nach Vorschrift und im Namen eines andern vorzutragen angestellt
ist. Er wird sagen: unsere Kirche lehrt dieses oder jenes; das sind die
Beweisgründe, deren sie sich bedient. Er zieht alsdann allen praktischen
Nutzen für seine Gemeinde aus Satzungen, die er selbst nicht mit voller
Überzeugung unterschreiben würde, zu deren Vortrag er sich gleichwohl
anheischig machen kann, weil es doch nicht ganz unmöglich ist, daß
darin Wahrheit verborgen läge, auf alle Fälle aber wenigstens
doch nichts der innern Religion Widersprechendes darin angetroffen wird.
Denn glaubte er das letztere darin zu finden, so würde er sein Amt
mit Gewissen nicht verwalten können; er müßte es niederlegen.
Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor
seiner Gemeinde macht, ist bloß ein
Privatgebrauch, weil diese
immer nur eine häusliche, obzwar noch so große Versammlung ist;
und in Ansehung dessen ist er als Priester nicht frei und darf es auch
nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter,
der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt spricht,
mithin der Geistliche im
öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft,
genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen
Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen. Denn daß
die Vormünder des Volks [A488] (in geistlichen
Dingen) selbst wieder unmündig sein sollen, ist eine Ungereimtheit,
die auf Verewigung der Ungereimtheiten hinausläuft.
Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung
oder eine ehrwürdige Classis (wie sie sich unter den Holländern
selbst nennt), berechtigt sein, sich eidlich auf ein gewisses unveränderliches
Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft
über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk
zu führen und diese so gar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich.
Ein solcher Kontrakt, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte
abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig;
und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten
Friedensschlüsse bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht
verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand
zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine (vornehmlich
so sehr angelegentliche) Erkenntnisse zu erweitern, von Irrtümern
zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiterzuschreiten.
Das wäre ein Verbrechen wider die menschliche Natur, deren ursprüngliche
Bestimmung gerade in diesem Fortschreiten besteht; und die Nachkommen sind
also vollkommen dazu berechtigt, jene Beschlüsse, als unbefugter und
frevelhafter Weise genommen, zu verwerfen. Der Probierstein [A489]
alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann,
liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen
könnte? Nun wäre dieses wohl, gleichsam in der Erwartung eines
bessern, auf eine bestimmte kurze Zeit möglich, um eine gewisse Ordnung
einzuführen: indem man es zugleich jedem der Bürger, vornehmlich
dem Geistlichen, frei ließe, in der Qualität eines Gelehrten
öffentlich, d. i. durch Schriften, über das Fehlerhafte der dermaligen
Einrichtung seine Anmerkungen zu machen, indessen die eingeführte
Ordnung noch immer fortdauerte, bis die Einsicht in die Beschaffenheit
dieser Sachen öffentlich so weit gekommen und bewähret worden,
daß sie durch Vereinigung ihrer Stimmen (wenngleich nicht aller)
einen Vorschlag vor den Thron bringen könnte, um diejenigen Gemeinden
in Schutz zu nehmen, die sich etwa nach ihren Begriffen der besseren Einsicht
zu einer veränderten Religionseinrichtung geeinigt hätten, ohne
doch diejenigen zu hindern, die es beim alten wollten bewenden lassen.
Aber auf eine beharrliche, von niemanden öffentlich zu bezweifelnde
Religionsverfassung auch nur binnen der Lebensdauer eines Menschen sich
zu einigen, und dadurch einen Zeitraum in dem Fortgange der Menschheit
zur Verbesserung gleichsam zu vernichten und fruchtlos, dadurch aber wohl
gar der Nachkommenschaft nachteilig zu machen ist schlechterdings unerlaubt.
Ein Mensch kann zwar für seine Person [A490]
und auch alsdann nur auf einige Zeit in dem, was ihm zu wissen obliegt,
die Aufklärung aufschieben; aber auf sie Verzicht zu tun, es sei für
seine Person, mehr aber noch für die Nachkommenschaft, heißt
die heiligen Rechte der Menschheit verletzen und mit Füßen treten.
Was aber nicht einmal ein Volk über sich selbst beschließen
darf, das darf noch weniger ein Monarch über das Volk beschließen;
denn sein gesetzgebendes Ansehen beruht eben darauf, daß er den gesamten
Volkswillen in dem seinigen vereinigt. Wenn er nur darauf sieht, daß
alle wahre oder vermeinte Verbesserung mit der bürgerlichen Ordnung
zusammenbestehe, so kann er seine Untertanen übrigens nur selbst machen
lassen, was sie um ihres Seelenheils willen zu tun nötig finden; das
geht ihn nichts an, wohl aber zu verhüten, daß nicht einer den
andern gewalttätig hindere, an der Bestimmung und Beförderung
desselben nach allem seinen Vermögen zu arbeiten. Es tut selbst seiner
Majestät Abbruch, wenn er sich hierin mischt, indem er die Schriften,
wodurch seine Untertanen ihre Einsichten ins reine zu bringen suchen, seiner
Regierungsaufsicht würdigt, sowohl wenn er dieses aus eigener höchsten
Einsicht tut, wo er sich dem Vorwurfe aussetzt:
Caesar non est supra
grammaticos, als auch und noch weit mehr, wenn er seine oberste Gewalt
soweit erniedrigt, den geistlichen Despotism einiger Tyrannen [A491]
in seinem Staate gegen seine übrigen Untertanen zu unterstützen.
Wenn denn nun gefragt wird: leben wir jetzt in einem
aufgeklärten
Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der
Aufklärung.
Daß die Menschen, wie die Sachen jetzt stehen, im ganzen genommen,
schon imstande wären oder darin auch nur gesetzt werden könnten,
in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines andern
sicher und gut zu bedienen, daran fehlt noch sehr viel. Allein, daß
jetzt ihnen doch das Feld geöffnet wird, sich dahin frei zu bearbeiten
und die Hindernisse der allgemeinen Aufklärung oder des Ausganges
aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit allmählich weniger
werden, davon haben wir doch deutliche Anzeigen. In diesem Betracht ist
dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung oder das Jahrhundert
FRIEDERICHS.
Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet zu sagen, daß
er es für
Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts
vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also
selbst den hochmütigen Namen der
Toleranz von sich ablehnt,
ist selbst aufgeklärt und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt
als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht
der Unmündigkeit, wenigsten von seiten der Regierung, entschlug und
jedem frei ließ, sich [A492] in allem, was Gewissensangelegenheit
ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen. Unter ihm dürfen verehrungswürdige
Geistliche, unbeschadet ihrer Amtspflicht, ihre vom angenommenen Symbol
hier oder da abweichenden Urteile und Einsichten in der Qualität der
Gelehrten frei und öffentlich der Welt zur Prüfung darlegen;
noch mehr aber jeder andere, der durch keine Amtspflicht eingeschränkt
ist. Dieser Geist der Freiheit breitet sich auch außerhalb aus, selbst
da, wo er mit äußeren Hindernissen einer sich selbst mißverstehenden
Regierung zu ringen hat. Denn es leuchtet dieser doch ein Beispiel vor,
daß bei Freiheit für die öffentliche Ruhe und Einigkeit
des gemeinen Wesens nicht das mindeste zu besorgen sei. Die Menschen arbeiten
sich von selbst nach und nach aus der Rohigkeit heraus, wenn man nur nicht
absichtlich künstelt, um sie darin zu erhalten.
Ich habe den Hauptpunkt der Aufklärung, d. i. des Ausganges der
Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit, vorzüglich
in
Religionssachen gesetzt, weil in Ansehung der Künste und
Wissenschaften unsere Beherrscher kein Interesse haben, den Vormund über
ihre Untertanen zu spielen, überdem auch jene Unmündigkeit, so
wie die schädlichste, also auch die entehrendste unter allen ist.
Aber die Denkungsart eines Staatsoberhaupts, der die erstere begünstigt,
geht noch weiter und sieht ein: daß selbst in Ansehung seiner
Gesetzgebung
[A493] es ohne Gefahr sei, seinen Untertanen zu erlauben,
von ihrer eigenen Vernunft
öffentlichen Gebrauch zu machen
und ihre Gedanken über eine bessere Abfassung derselben, sogar mit
einer freimütigen Kritik der schon gegebenen, der Welt öffentlich
vorzulegen; davon wir ein glänzendes Beispiel haben, wodurch noch
kein Monarch demjenigen vorging, welchen wir verehren.
Aber auch nur derjenige, der, selbst aufgeklärt, sich nicht vor
Schatten fürchtet, zugleich aber ein wohldiszipliniertes zahlreiches
Heer zum Bürgen der öffentlichen Ruhe zur Hand hat, – kann das
sagen, was ein Freistaat nicht wagen darf:
Räsonniert, soviel ihr
wollt, und worüber ihr wollt; nur gehorcht! So zeigt sich hier
ein befremdlicher, nicht erwarteter Gang menschlicher Dinge; sowie auch
sonst, wenn man ihn im großen betrachtet, darin fast alles paradox
ist. Ein größerer Grad bürgerlicher Freiheit scheint der
Freiheit des
Geistes des Volks vorteilhaft und setzt ihr doch unübersteigliche
Schranken; ein Grad weniger von jener verschafft hingegen diesem Raum,
sich nach allem seinen Vermögen auszubreiten. Wenn denn die Natur
unter dieser harten Hülle den Keim, für den sie am zärtlichsten
sorgt, nämlich den Hang und Beruf zum
freien Denken, ausgewickelt
hat: so wirkt dieser allmählich zurück auf die Sinnesart des
Volks, (wodurch dies der
Freiheit zu handeln [A494]
nach und nach fähiger wird), und endlich auch sogar auf die Grundsätze
der
Regierung, die es ihr selbst zuträglich findet, den Menschen,
der nun
mehr als Maschine ist, seiner Würde gemäß
zu behandeln.¹
Königsberg in Preußen, den 30. Septemb. 1784. I. Kant.