NZZ-Online
Speicherkraftwerke auf Rädern
Steckdosen-Hybridautos schaffen Synergien zwischen Verkehr und Stromversorgung
Noch sind Verkehr und Stromversorgung strikt getrennt.
Verkehr und Stromversorgung sind heute zwei strikt getrennte Bereiche. Mit dem gegenwärtigen Trend zu Hybridautos ergeben sich jedoch interessante Überschneidungen. So wird untersucht, ob Hybridautos mit Netzanschluss jene Energiereserven bereitstellen könnten, die die Stromversorger zur Regulierung des Stromnetzes benötigen.
29. Oktober 2008, Neue Zürcher Zeitung
NZZ-Online
Speicherkraftwerke auf Rädern
Steckdosen-Hybridautos schaffen Synergien zwischen Verkehr und Stromversorgung
Noch sind Verkehr und Stromversorgung strikt getrennt.
Verkehr und Stromversorgung sind heute zwei strikt getrennte Bereiche. Mit dem gegenwärtigen Trend zu Hybridautos ergeben sich jedoch interessante Überschneidungen. So wird untersucht, ob Hybridautos mit Netzanschluss jene Energiereserven bereitstellen könnten, die die Stromversorger zur Regulierung des Stromnetzes benötigen.
Christian Speicher
Vor einem Jahr war in der «New York Times» Folgendes zu lesen. Ein Autofahrer hatte während eines Stromausfalls in Florida sein Hybridfahrzeug (einen entsprechend umgerüsteten Toyota Prius) an die Stromversorgung seines Hauses angeschlossen und den Motor angeworfen. Vom Verbrennungsmotor immer wieder aufgeladen, versorgte die Batterie des Hybridautos den Haushalt mit Strom. So konnten alle elektrischen Geräte ausser der Klimaanlage über längere Zeit am Laufen gehalten werden. Auch wenn ein Notstromgenerator in diesem Fall vielleicht die bessere Lösung gewesen wäre, zeigt dieses Beispiel doch, dass die zunehmende Elektrifizierung des Individualverkehrs zu grösseren Veränderungen in der Elektrizitätswirtschaft führen könnte. Die nächste Generation von Hybridautos wird nämlich nicht nur an der Steckdose tanken können. Mit geringen Modifikationen wird sie den Strom auch ins Netz zurückspeisen können. Damit werden Hybridfahrzeuge gewissermassen zu rollenden Speicherkraftwerken, auf die die Energieversorger bei Bedarf zurückgreifen könnten.
Die Steckdose als Tankstelle
Dass sich im Individualverkehr grössere Veränderungen anbahnen, lässt sich inzwischen kaum mehr übersehen. Toyota hat mit über einer Million verkauften Exemplaren des Modells Prius bewiesen, dass es trotz dem Aufpreis einen Markt für Autos gibt, die durch das intelligente Zusammenspiel von Benzin- und Elektromotor fast 30 Prozent weniger Sprit verbrauchen (und entsprechend weniger Kohlendioxid emittieren). Inzwischen haben auch andere Fahrzeughersteller die Hybridtechnologie für sich entdeckt und treiben die Elektrifizierung des Autos weiter voran. Der Trend geht zu sogenannten Plug-in-Hybriden. Diese Fahrzeuge besitzen eine deutlich leistungsfähigere Batterie, die sich zudem direkt an der Steckdose aufladen lässt. Anders als der Toyota Prius, dessen Batterie laufend vom Benzinmotor aufgeladen wird, soll die nächste Generation von Hybridfahrzeugen 30 bis 50 Kilometer rein elektrisch fahren können. Der Benzinmotor kommt erst auf längeren Strecken oder bei höheren Leistungen zum Zuge.
Bis jetzt gibt es noch keine Plug-in-Hybriden von der Stange zu kaufen. Mit ihrer Markteinführung wird ab 2010 gerechnet. Dass die Hybridtechnologie eine reine Modeerscheinung ist, glaubt Konstantinos Boulouchos vom Institut für Energietechnik der ETH Zürich nicht. Er ist überzeugt, dass mindestens die nächsten 30 Jahre von einer Koexistenz von Elektro- und Verbrennungsmotoren geprägt sein werden. Die Vorteile von Hybridfahrzeugen kann Boulouchos mit Zahlen belegen. Zusammen mit seinem Doktoranden Fabrizio Noembrini hat er die Kohlendioxid-Emissionen eines Plug-in-Hybriden mit jenen eines vergleichbaren Benziners verglichen. Naturgemäss hängt der Nutzen für die Umwelt stark davon ab, wie der Strom produziert wird. Stammt dieser aus einem Kohlekraftwerk, schneiden Plug-in-Hybriden schlechter ab als Fahrzeuge mit Benzinmotor. Mit dem im europäischen Netzverbund üblichen Strommix reduzieren sich die CO 2 -Emissionen jedoch um 26 Prozent, mit dem Strommix in der Schweiz sogar um 53 Prozent. Noch bessere Werte ergeben sich, wenn der Strom mit Wasser- oder Windkraftwerken erzeugt wird. Diese Zahlen beruhen auf der Annahme, dass die Plug-in-Hybriden die Hälfte der gefahrenen Kilometer rein elektrisch zurücklegen. Von den Plug-in-Hybriden könnte nicht nur die Umwelt profitieren. Auch die Automobilhersteller dürfen sich grosse Marktchancen erhoffen, wenn sie auf die wachsende Nachfrage nach sparsamen und damit umweltfreundlicheren Autos reagieren. Wie aber steht es mit den Energieversorgern, die den zusätzlich benötigten Strom zur Verfügung stellen müssen? Ohne ihre Mitwirkung dürfte es die Hybridtechnologie schwer haben, sich auf breiter Front durchzusetzen. Einer der Ersten, die darauf hinwiesen, dass die Elektrifizierung des Individualverkehrs auch für die Energieversorger reizvoll sein könnte, ist Willett Kempton von der University of Delaware in Newark. Schon in den 1990er Jahren entwickelte er mit seinen Mitarbeitern das sogenannte «Vehicle to grid»-Konzept. Diesem liegt die Idee zugrunde, dass der Strom nicht nur vom Netz zum Auto, sondern auch wieder zurück fliessen kann.
Regeldienste für das Stromnetz
Autos stehen im Durchschnitt über 23 Stunden am Tag still. Während dieser Zeit, so Kempton, könnte man die in den Batterien gespeicherte Energie anderweitig nutzen. Kempton dachte dabei vor allem an die sogenannte Netzregulierung. Um die Frequenz in einem Stromnetz stabil zu halten, muss der Stromversorger rasch reagieren, wenn das Stromangebot oder die Stromnachfrage im Netz schwankt. Er tut das, indem er automatisch die Leistung von gewissen Generatoren anpasst und bei Bedarf schnell regulierbare Kraftwerke (etwa Pumpspeicher- oder Gasturbinenkraftwerke) hoch- oder herunterfährt. Mit der Bereitstellung dieser Regelenergie lässt sich viel Geld verdienen – die Schweiz mit ihren Pumpspeicherkraftwerken weiss das bestens. Kempton überlegte nun, ob die benötigte Regelenergie nicht durch die Plug-in-Hybriden bereitgestellt werden könnte. Schliesslich sind die Batterien dieser Fahrzeuge dafür ausgelegt, ihre Leistung rasch dem jeweiligen Bedarf anzupassen. Für die Energieversorgungsunternehmen hätte das den Vorteil, dass sie auf den Bau von teuren Reservekraftwerken verzichten könnten. Und die Autofahrer hätten die Möglichkeit, die Mehrkosten für ihr Hybridauto teilweise durch den Verkauf von Regelenergie zu amortisieren.
Wie Kempton am Beispiel von Kalifornien vorrechnete, liesse sich die benötigte Regelenergie bereitstellen, wenn 3 Prozent der gesamten Fahrzeugflotte Plug-in-Hybriden wären. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine kürzlich veröffentlichte Vorstudie, die die Enco Energie-Consulting AG im Auftrag des Bundesamtes für Energie erstellt hat. Die Vorstudie widerlegt zudem Befürchtungen, dass die Einführung von Plug-in-Hybriden zu einer Überlastung des Schweizer Stromnetzes führen würde. Inzwischen wurde in der Schweiz eine Trendwatching Group «Smart Grid / Plug-in-Fahrzeuge» gegründet, der Vertreter der Forschung der Energiewirtschaft der Autobranche und Nichtregierungsorganisationen angehören. Deren Aufgabe sei es, die Marktentwicklung auf diesem Gebiet zu unterstützen und dem Bundesamt für Energie bei der Festlegung von Rahmenbedingungen zu helfen, so Pierre Strub, der Leiter der Gruppe.
Um Plug-in-Hybriden fit für die «Vehicle to grid»-Technologie zu machen, sind auf der Fahrzeugseite nur geringfügige Veränderungen nötig. Auf der Netzseite müsste man dafür sorgen, dass die Autos nicht nur zu Hause und am Arbeitsplatz, sondern auch in Parkhäusern oder auf öffentlichen Parkplätzen ans Stromnetz angeschlossen werden können. Vor allem aber müsste das Stromnetz um moderne Kommunikationssysteme und neue Messzähler für den Energieverbrauch erweitert und dadurch «intelligenter» gemacht werden. Denn nur wenn der Energieversorger jederzeit über den Zustand der ans Netz angeschlossenen Batterien informiert ist, kann er sie zur Netzregulierung einsetzen.
Von der Simulation zur Realität
Über das wirtschaftliche Potenzial des «Vehicle to grid»-Konzepts liegen bis jetzt erst grobe Schätzungen vor. Der Teufel stecke jedoch im Detail, sagt Göran Andersson vom Institut für elektrische Energieübertragung und Hochspannungstechnik der ETH Zürich. Jeder Autofahrer sei ein Individualist. Während der eine seine Batterie unbedingt voll haben wolle, wenn er ins Auto steige, sei der andere möglicherweise gewillt, gegen ein entsprechendes Entgelt eine teilweise Entladung seiner Batterie in Kauf zu nehmen. Solche Unwägbarkeiten in den Griff zu bekommen und ein wirtschaftliches Abrechnungsmodell für das «Vehicle to grid»-Konzept zu entwickeln, ist eines der Ziele eines Gemeinschaftsprojekts an der ETH Zürich, an dem sich neben Andersson und Boulouchos auch Kay Axhausen vom Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme beteiligt. Mit einem Simulationsmodell, das die Verkehrsflüsse in der Agglomeration Zürich mit hoher räumlicher und zeitlicher Auflösung nachbildet, wollen die drei Arbeitsgruppen herausfinden, wie sich die Systeme Elektrizität und Mobilität besser aufeinander abstimmen lassen. Von dem auf drei Jahre angelegten Projekt, an das sich ein realer Test mit einem Demonstrationsfahrzeug anschliessen soll, erhoffen sich die Forscher konkrete Hinweise, wie die Zukunft des urbanen Individualverkehrs aussehen könnte.
Anderenorts hat die Erprobungsphase bereits begonnen. So haben Google und die Pacific Gas and Electric Company schon letztes Jahr in Kalifornien einen Versuch mit einer Flotte von Plug-in-Hybriden gestartet, die über eine zweigleisige Verbindung zum Stromnetz verfügen. Der Strom zum Laden der Batterien stammt vornehmlich aus einer auf dem Firmensitz von Google installierten Photovoltaikanlage, die eine Spitzenleistung von 1,6 Megawatt besitzt. Auch in Deutschland sind inzwischen die ersten Flottenversuche angelaufen. So haben Daimler und der Stromkonzern RWE in Berlin ein Gemeinschaftsprojekt mit 100 (reinen) Elektrofahrzeugen und einem flächendeckenden Versorgungsnetz von 500 Ladestationen lanciert.
In einem anderen Projekt kooperieren VW, der Energieversorger E.On und weitere Partner. Das Projekt wird vom deutschen Bundesumweltministerium gefördert und soll Wege aufzeigen, wie sich erneuerbare Energien effizient für den Verkehr nutzen lassen. VW und E.On wollen im Rahmen des Flottenversuchs bis zu 20 Plug-in-Hybriden des Modells «Golf Twin Drive» einsetzen, die mit vier verschiedenen Typen von Lithium-Ionen-Batterien ausgerüstet sind. Für den Autohersteller geht es nach Aussagen von Wolfgang Steiger, dem Chef der Antriebsforschung bei VW, in erster Linie darum, die Batterien und das Energiemanagement unter realen Bedingungen zu testen.
E.On möchte Techniken zur Laststeuerung und zur Kommunikation mit den Fahrzeugen erproben. Vor allem will der Energieversorger herausfinden, unter welchen Voraussetzungen Plug-in-Hybriden und Elektrofahrzeuge dazu beitragen könnten, den Anteil von erneuerbaren Energien im Individualverkehr zu erhöhen. Schon heute ist die Elektrizitätswirtschaft gezwungen, zusätzliche Regelenergie bereitzuhalten, um das schwankende Angebot von Sonnen- oder Windenergie auszugleichen. Mit dem Vormarsch der regenerativen Energien dürfte sich dieses Problem noch verschärfen. Theoretisch könnte hier eine hinreichend grosse Flotte von Plug-in-Hybriden Abhilfe schaffen. Der Energieversorger würde überschüssigen Wind- oder Solarstrom in den Autobatterien zwischenspeichern und ihn zurückspeisen, wenn gerade Energiemangel herrscht.
Ob das praktikabel (und vor allem auch rentabel) ist, wird ein Flottenversuch mit 20 Fahrzeugen kaum abschliessend beantworten können. Ein ermutigendes Zeichen ist aber, dass Automobilhersteller und Energieversorger gewillt scheinen, die anstehenden Probleme gemeinsam anzupacken. Das sollte die Automobilindustrie davor bewahren, Geld in die Entwicklung von Fahrzeugen zu stecken, für die es derzeit noch keine Infrastruktur gibt (Wasserstoffautos). Und die Elektrizitätswirtschaft erhält wertvolle Hinweise, welche Infrastrukturmassnahmen sie in Zukunft ergreifen muss, um von der Elektrifizierung des Individualverkehrs profitieren zu können.
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