Tages Anzeiger Online 16.03.2011
«Allen Krisen ist gemein, dass sie als kaum vorstellbar galten»
Von Andreas Zielcke.
Ulrich Beck, der Theoretiker der «Risikogesellschaft», analysiert die Katastrophe in Japan. Was bedeutet sie für unseren Umgang mit Gefahren – und was für unser Verständnis von Verantwortung?
Vor 25 Jahren explodierte das Atomkraftwerk in Tschernobyl, zum selben Zeitpunkt kam Ihre «Risikogesellschaft» heraus. Jetzt haben wir eine vergleichbare Katastrophe in Japan. Haben wir nichts gelernt?
In der Tat, die grossen Krisen seit Tschernobyl schienen weitgehend dem Drehbuch der «Risikogesellschaft» zu folgen. Die herausragenden Beispiele sind der Tsunami in Indonesien, die Katrina-Überflutung von New Orleans, aber auch der Rinderwahnsinn, die Schweinegrippe; selbst die Finanzkrise von 2008 gehört dazu. Allen Krisen war gemeinsam, dass sie vorher als kaum vorstellbar galten. Jedes Mal wurde der bisherige Erwartungsrahmen überholt. Das Makabre der jetzigen Katastrophe ist, dass sie sich in einem grusligen Wettbewerb der Grossrisiken ereignet. Viele glaubten ja, dass sich das Risiko des Klimawandels durch vermehrten Einsatz umweltfreundlicher Kernenergie mindern lässt.
Welchen soziologischen Begriff muss man sich von einem Super-GAU machen?
Ein GAU bewegt sich noch im Rahmen der vorhandenen Ressourcen und Gefahrenszenarien der Nuklearenergietechnik. Der Super-GAU stellt genau diese Voraussetzungen infrage.
Inwiefern unterscheiden sich die Voraussetzungen von Fukushima und Tschernobyl?
Die geradezu geniale Antwort von Franz-Josef Strauss war damals, Tschernobyl als «kommunistische» Katastrophe auszugrenzen – mit der Unterstellung, dass der hoch entwickelte kapitalistische Westen über sichere Atomkraftwerke verfüge. Nun ist die Havarie in Japan passiert, das als das bestmöglich ausgestattete und auf Sicherheit hin organisierte Hightechland der Welt gilt. Die Fiktion, dass man sich im Westen in Sicherheit wiegen kann, ist dahin.
Ist im Vergleich zu Tschernobyl nicht zwischen natürlicher und technischer Katastrophe zuunterscheiden?
Die Kategorie «Naturkatastrophe» signalisiert, dass sie nicht von Menschen verursacht und daher auch nicht von Menschen zu verantworten ist. Das ist aber die Sicht eines vergangenen Jahrhunderts. Der Begriff......
ist schon deshalb falsch, weil die Natur keine Katastrophen kennt, allenfalls dramatische Veränderungsprozesse. Solche Veränderungen wie ein Tsunami oder ein Erdbeben werden erst im Bezugshorizont menschlicher Zivilisation zur Katastrophe. Der aktuelle japanische Fall macht augenscheinlich, wie das, was wir der Natur zurechnen, und das, was wir der Technik und menschlichem Können zurechnen, miteinander verwoben ist. Das Beispiel, wie hier Erdbeben und Flutwellen erst aufgrund der (mangelnden) Sicherheitstechnik der Atomkraftwerke die Katastrophe bewirkt haben, zeigt, dass natürliche und zivilisatorische Sphären nicht als getrennt zu sehen sind.
Was bedeutet das für die Frage der Verantwortung?
Schon das historische Erdbeben von Lissabon im Jahr 1755 alarmierte die gesamte intellektuelle Welt, weil man es auch damals nicht mehr als natürliche Katastrophe ansah. Man setzte Gott auf die Anklagebank, dessen Vorsehung die Katastrophe zugelassen hatte. Heute werden Katastrophen weder Gott noch dem Weltgeist angelastet, stattdessen rechnet man sie schwer zu durchschauenden politischen, unternehmerischen und technischen Institutionen und Entscheidungen zu.
Lastet man Katastrophen mehr oder weniger pauschal der Zivilisation an, wird die Verantwortlichkeit zwar nicht mehr auf eine transzendentale, aber doch auf eine ungreifbare Instanz verlagert.
In der Tat folgt man auch hier immer demselben Drehbuch. Indem man die Risiken und die Ursachen der Katastrophen komplexen Strukturen und Organisationen zuschreibt, landet man in der Sphäre der organisierten Verantwortungslosigkeit. Zwar sind, wie auch jetzt in Japan, bestimmte Politiker und Atomkraftwerkbetreiber gezwungen, öffentlich Stellung zu beziehen. Doch noch stets sind so gut wie alle Versuche, Ursache und Wirkung oder Vorhersehbarkeit und Sicherheitstechnik konkret miteinander in Beziehung zu setzen, ebenso leergelaufen wie die Versuche, Rechtsnormen auf die zur Katastrophe führenden Kausalketten und ihre Akteure anzuwenden. Dasselbe haben wir bei der Finanzkrise erlebt. Kein Ökonom, der die Modelle des Risikomanagements entwickelt hatte, musste sich öffentlich rechtfertigen. Die geltenden Rechtsnormen scheinen die juristische Zurechnung nicht zu ermöglichen, eher umgekehrt: Sie erlauben es den Zuständigen, sich hinter ihnen zu verbergen.
Die Argumentation der Atomkraft-Befürworter ist nach Havarien immer dieselbe: Man führt sie auf Umstände des Einzelfalls zurück, die nicht zu verallgemeinern seien. Unsere Atomkraftwerke stehen weder am Ozean noch in einem Gebiet mit hohem Erdbebenrisiko.
Aus soziologischer Sicht beruht diese Argumentation auf einem strategisch inszenierten Irrtum. Die Kernenergiewirtschaft hat die Welt zum Labor gemacht, zu einem Experiment mit offenem Ausgang, dessen wissenschaftliche und auch politische Befunde überall präsent sind. Der Versuch, den experimentellen Ort Japan vom experimentellen Ort Westeuropa zu trennen, wird wohl nicht gelingen. Die Sicherheitsphilosophie, um nicht zu sagen der Sicherheitsmythos, der für die Kernenergietechnik geschaffen wurde, steht insgesamt zur Disposition, zumal eben Japan den höchstentwickelten Sicherheitsstandard repräsentiert. Nicht nur das: In Japan hat man ja das Sicherheitskonzept über die eigentlichen kerntechnischen Risiken hinaus erweitert auf die Einbeziehung von Naturkatastrophen, wenn auch nicht in der passenden Grössenordnung. Dagegen spielen zum Beispiel in Deutschland natürliche Risiken bei den Genehmigungsverfahren keine vergleichbare Rolle. Umso mehr wird die Politik versuchen, den japanischen Fall als Sonderrisiko im Pazifikraum hinzustellen.
Zurück zum Risikobegriff: Wie soll man das Problem lösen, dass man stets nur das Vorstellbare einkalkulieren kann, nicht aber das bis dato Unvorstellbare? Wie weit reicht die Risikofantasie? In Japan machte sie bei 8,25 Punkten auf der Richterskala halt.
Das ist der zentrale Punkt. Risiken haben es nun mal an sich, dass sie sinnlich nicht erfahrbar sind, sie entziehen sich der Wahrnehmung. Entscheidend ist darum, wie der Prozess gesellschaftlich gestaltet ist, in dem geklärt wird, wer auf welcher Grundlage was als reales Risiko anerkennt oder eben als irreales ausschliesst. Der Risikobegriff besagt, dass wir vergangene Erfahrungen zur Grundlage und damit zum Erwartungshorizont künftiger Katastrophen machen. Gerade diese Annahme wird aber infrage gestellt, weil wir inzwischen wissen, dass uns Katastrophen drohen, die wir noch nicht erfahren haben und die wir vor allem auf keinen Fall erfahren dürfen. Aufgrund dieser veränderten Prämisse stehen wir vor dem Problem: Wie sind Risiken, für die wir kein empirisches Wissen haben, zu beurteilen? Anders gesagt, wie können wir rational mit dem unbekannten Risiko umgehen? Auf diese Frage gibt es meines Wissens bisher keine angemessene Antwort.
Das scheint schon methodisch aussichtslos zu sein. Wo setzt man an?
Wir haben es mit Konsequenzen der Erfolge der Moderne und ihrer technischen Fantasie zu tun. Sie stellen uns vor mögliche Katastrophen, die unser begriffliches und institutionelles Fassungsvermögen übersteigen. Trotzdem sind wir zu Entscheidungen gezwungen. Die Frage lautet daher, welche Sicherheits- oder besser gesagt welche Unsicherheitskultur wollen wir akzeptieren. Sie kann nicht von Technikern oder Juristen allein entschieden werden, sondern bedarf eines neuen öffentlichen Diskurses.
Ist eine neue gesellschaftliche Risiko- und Sicherheitskultur denn realistisch? Immerhin ist der Diskurs spätestens seit Tschernobyl und der «Risikogesellschaft» im Gang – ohne viel zu bewirken, oder?
Die Soziologie beansprucht zunächst einmal, nachzuzeichnen, wie die Gesellschaft mit ihren Risiken umgeht. Immerhin sind aber einige Elemente der Risikotheorien in den Diskurs politischer Entscheidungsträger eingedrungen, insbesondere bei der Klimapolitik. Risiken werfen ja nicht mehr nur technische und sicherheitstheoretische Fragen auf, sondern haben längst Marktchancen für alternative Technologien eröffnet. Voraussetzung dafür war, dass hoch riskante Technologien wie die Atomkraftwerke, aber auch andere Technologien mit weitreichenden Folgen etwa für das Klima, zum Beispiel das Auto, einer Legitimationskrise ausgesetzt wurden.
Die japanische Havarie wird die Legitimität der Nukleartechnik weiter schwächen. Wichtig aber ist, dass die Kritik nicht ins Leere oder nur zu Untergangsszenarien führt, sondern zu alternativen Techniken und Märkten, die helfen, riskante Techniken zu kompensieren. Gerade Japan hat sich bei der Energietechnik jedoch gegen solche Alternativen und für die Kernenergie entschieden. Der Trend zur Diskussion von Alternativen bis hin zu Debatten über eine alternative Moderne ist nun aber weniger denn je aufzuhalten. Bisher hat sich der Horizont des gesellschaftlichen Lernprozesses allerdings als sehr begrenzt erwiesen. Um den Prozess anzukurbeln, muss die wirtschaftliche und technische Kreativität noch ganz anders mobilisiert werden. (Tages-Anzeiger)
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