Kultur
«Das sind Heuchler, Egoisten und Nostalgiker»
Von Philippe Zweifel.
Den Teufel an die Wand zu malen: Das überlasse ich gerne den amtierenden Wutbürgern. Insofern ist die Lage zwar ernst, aber nicht hoffnungslos. Richtig ist aber, dass gerade in Deutschland eine tendenziell überalterte Gesellschaftsschicht dominiert, der die Belange der nachfolgenden Generationen im Grunde egal sind.
Ihrer Meinung nach liegt das Problem in einer Angst vor der Zukunft, die sich in einem Wutbürgertum ausdrückt. Wer sind die Wutbürger? Ist der «klassische» Wutbürger soziodemografisch kategorisierbar? Ist er politisch kategorisierbar?
Interessant ist hier die Studie des Göttinger Politikwissenschaftlers Franz Walter, die kürzlich vorgestellt wurde. Demnach rekrutiert sich das Wutbürgertum vor allem aus älteren, akademisch gebildeten und wohlhabenden Menschen, die aber keineswegs uneigennützig sind. Vielmehr haben sie egoistische Motive. Sie sind mehrheitlich Grundstückseigentümer, die um den Wert ihrer Immobilien fürchten. Es ist also logisch, dass sie sowohl gegen infrastrukturelle, langfristige Vorhaben wie Bahnhöfe wettern – aber auch gegen Windkraftanlagen vor der eigenen Tür.
Sehnen sich solche Menschen nicht einfach nach den guten alten Zeiten?
Ja, sie flüchten vor den Herausforderungen einer schwierigen Gegenwart und ungewissen Zukunft in die neobiedermeierliche Vorstellung einer vermeintlich besseren Vergangenheit. Das nimmt bisweilen sogar reaktionäre Züge an. Einerseits also dürfte der Wutbürger ein Relikt der links sozialisierten, grün angehauchten 68er-Bewegung darstellen, erfahren in der Protestkultur; andererseits trifft man ihn auch in rechten Zirkeln an. Letztlich sind sie vor allem eines: gefährlich. Mit den Worten Bernard Shaws: «Alte Männer sind gefährlich, denn ihnen ist die Zukunft egal.»
Wenn der Wutbürger politisch nicht klar definierbar ist – wie steht es eigentlich mit dem Begriff «Innovation»: Ist das ein rechter oder linker Begriff?
Weder noch. Früher, in fortschrittsfreundlicheren Zeiten, war der Begriff positiv besetzt, das Neue war oft ein Versprechen auf eine bessere Welt, links wie rechts – heute wird die Innovation oft als Neuerungssucht geschmäht. Dagegen hat das Alte Konjunktur. Denken Sie an die Rückkehr zum Griechisch-Unterricht, an die Renaissance von Benimmkursen – bis hin zu den Retrowellen in der Automobil- oder Mode-Branche. Womit wir wieder bei der wohlhabenden
Schicht sind, die solche Nostalgieprodukte im törichten Glauben konsumiert, damit die Welt zu retten. Die Lust auf das Neue ist in vielen gesellschaftlichen Sphären einer Angst vor dem Neuen gewichen.
Woher rührt diese Angst? Hat sie mit dem Wohlstand zu tun, den man zu verlieren fürchtet?
So ist es. In der Glücksforschung ist bekannt, dass vor allem reiche Gesellschaften, die also auch viel zu verlieren haben, von Verlustängsten geprägt sind. Dazu kommen natürlich die überall spürbaren Zentrifugalkräfte der Globalisierung, die zu Verunsicherung führen. Und: Alte Menschen scheuen das Risiko und die Veränderung eher als junge Menschen. Kein Wunder also, dass eine überalterte und zudem reiche Gesellschaft auch von grossen Ängsten geprägt ist.
Wenn Sie die Altersgesellschaft verantwortlich machen, dürfte sich die Unzufriedenheit in Zukunft noch zuspitzen.
Genau. Die Überalterung hat eine Überängstigung zufolge. Und das wiederum befeuert die Wutkultur. Die Wutbürger wird man in Zukunft immer häufiger antreffen.
Wohlstand, Altersgesellschaft: Das gilt auch für die Schweiz und andere Länder. Weshalb aber sind die Wut und die Angst, die Sie beschreiben, ausgerechnet in Deutschland so ausgeprägt?
Das Phänomen ist ja weltweit bekannt als «German Angst». Als sich das Atomreaktor-Unglück von Fukushima ereignete, waren am nächsten Tag auf der schwäbischen Alb rund um Stuttgart die Geigerzähler ausverkauft. Vielleicht, weil hier die technisch geprägte, fortschrittshungrige Epoche der Moderne besonders stark ausgeprägt war. Das antimoderne Pendel, das nun allerorten zurückschwingt, ist hier ebenso überdeutlich wahrzunehmen.
Sehen sie weltweit ähnliche Tendenzen? Auch in der Schweiz reagierte man mit einem Atomausstieg auf Fukushima.
Diese Tendenzen gibt es. Aber der Atomausstieg, den ich übrigens grundsätzlich für richtig halte, hat auch gezeigt: Deutschland ist hier Vorreiter, ja Extremist. Im Grunde wurde der Ausstieg ohne Rücksicht auf die Nachbarländer und auch gegen eine europäische Gesamtlösung betrieben. Das ist reiner Wankelmut.
In der Schweiz haben wir mit der SVP eine Partei, die sich die Dagegen-Parole zum Parteiprogramm gemacht hat. Das ist auch jene Partei, die auf Bürgerentscheide und den Souverän pocht.
In Deutschland gibt es eine grosse Begeisterung für die schweizerische Form der stärker auf dem Bürgerwillen fussenden, direkten Demokratie. Am Minarett-Verbot hat man aber auch gesehen, worin die Gefahren liegen: darin, dass eine Minderheit von der Mehrheit dominiert wird.
Führt der Volkswille paradoxerweise zu mehr Angst, mehr Verboten gar?
Das kennt man auch aus der deutschen Vergangenheit: Es ist eben nicht überall Volk drinnen, wo Volk draufsteht. Soll heissen: Minderheiten, abweichende Meinungen, andere, auch fremde Lebenskulturen – das verdient einen Schutz, der im reinen Plebiszit so nicht gegeben ist.
Sie prangern auch die grassierende Landlust an. Wieso?
Ich kann diese Landlust als irrationale, romantische Gestimmtheit nach einem Jahrhundert der Maschinenästhetik gut verstehen, wir alle sehnen uns nach einem Leben im Einklang mit der Natur. Aber die Nachkriegszeit hat doch gezeigt, dass die Sehnsucht nach dem Leben im Grünen absolut naturfeindlich wirkt. Und aus ökologischen Gründen ist die städtische, hochverdichtete Lebensweise sinnvoll, das Nebeneinander von Arbeit und Wohnen, das Leben der kurzen Wege. Zuletzt: Die Landlust heute ist das, was sie auch vor zwei Jahrhunderten war: eine Möglichkeit für extrem wohlhabende, elitäre Schichten, ihr Glück im Apfelbäumchengärtlein zu suchen. Mit den Problemen einer sieben Milliarden Menschen zählenden Welt hat diese Form des Neo-Nature-Phänomens nichts zu tun.
Charlie Chaplin in «Modern Times» oder aktuell auch der britische Intellektuelle Tom Hodgkinson behaupten, dass moderne Arbeitsstrukturen und Technologien Unfreiheit mit sich bringen, weil sie immer neue Bedürfnisse kreieren, die befriedigt werden müssen.
Da stimme ich zu. Deshalb brauchen wir ja nicht nur neue Gesellschaftsmodelle, sondern eine völlig neue Form der Ökonomie, die sich wieder als Teilgebiet der wesentlich komplexeren Ökologie begreifen muss. Aber es ist nicht mit romantischen Rückgriffen auf die «gute alte Zeit» getan. Im Gegenteil: Wir brauchen eine neue Zeit und neue Ideen, für Technik, Gesellschaft, Politik. Wir brauchen Fortschritt, keine Stagnation. Und: Wir haben keine Zeit zu verlieren, die Probleme sind doch drängend genug.
Zurück-aufs-Land-Bewegungen gab es immer wieder. Gesellschaftserschütternd waren die nie. Ist es nicht ein Individualentscheid, wenn einer aussteigen will?
Wenn Sie am Zürichsee leben: gewiss. Aber fragen Sie mal einen Bewohner der Slums in Sao Paulo, wie er die Sache mit dem Ausstieg sieht. Erst versuchen wir, alle Menschen satt zu machen und mit Nahrung und Kleidung zu versorgen – und danach steigen wir aus. Okay?
Okay. Doch was kann man tun?
Wir sollten das Leben der anderen und jener, die nach uns kommen, achten. Wir sind die, welche die Ressourcen verbraucht haben und ein Leben wie die Made im Speck geniessen. Jetzt aber, da das ökologische Zeitalter vor der Tür steht, haben wir plötzlich keine Lust mehr auf Veränderung. Wir wollen nicht die Natur oder die Gesellschaft bewahren, sondern nur unser schönes Leben. Wir müssen umdenken, wir brauchen wieder einen humanen Utopismus, die Lust auf ein besseres Morgen. Und ein Verständnis dafür, dass die Begriffe Wut und Bürger sich ausschliessen. Wut kann man den kleinen Kindern überlassen. Was wir stattdessen brauchen, ist etwas ganz anderes: Mut. Die Wutbürger sind nur Heuchler, Egoisten und Nostalgiker. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)
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