Dienstag, April 24, 2007

Ein Nachruf der NZZ auf Boris Jelzin

24. April 2007, 05:56, NZZ Online
Eine Symbolfigur mit Reizpotenzial
Verhaltene Trauer in Moskau um Boris Jelzin

Am Montag ist unerwartet der erste Präsident des unabhängigen Russland, Boris Jelzin, in Moskau gestorben. So kontrovers seine Präsidentschaft zu beurteilen ist – er bleibt ein Symbol für das Ende der Sowjetunion und Russlands beschwerlichen Weg der Transformation.



24. April 2007, 05:56, NZZ Online
Eine Symbolfigur mit Reizpotenzial
Verhaltene Trauer in Moskau um Boris Jelzin

Am Montag ist unerwartet der erste Präsident des unabhängigen Russland, Boris Jelzin, in Moskau gestorben. So kontrovers seine Präsidentschaft zu beurteilen ist – er bleibt ein Symbol für das Ende der Sowjetunion und Russlands beschwerlichen Weg der Transformation.

mac. Moskau, 23. April

«Eine starke, breite, bedeutsame und widersprüchliche Persönlichkeit – er war so wie Russland.» Mit diesen etwas unbeholfenen, aber emotionalen Worten hat Dmitri Jakuschkin, Ende der neunziger Jahre Pressesprecher des Kremls, am Montagabend im russischen Äther wenig und doch sehr viel über Boris Jelzin gesagt, den ersten Präsidenten der Russischen Föderation nach 1991. Die Nachricht vom Hinschied Jelzins hat Russland überrascht und die Medien, die Politik und die Öffentlichkeit unvorbereitet getroffen.
Ein widersprüchliches Bild

Im pluralistischen Grundwerten verpflichteten Radiosender Echo Moskwy gab es nur noch ein Thema, es waren die Stimmen und Einschätzungen von politischen Weggefährten und Gegnern zu hören. Und mit den Bildern aus Moskaus Strassen vom Augustputsch 1991, dem Beschuss des Parlamentsgebäudes 1993 und den immer unsichereren Auftritten des Präsidenten zum Ende seiner Amtszeit brachten die Hauptnachrichtensendungen der Fernsehkanäle mehr als anderthalb Dekaden stürmischer russischer Geschichte und widersprüchlicher Interpretationen erneut in die Wohnzimmer des Landes.

Boris Nikolajewitsch Jelzin starb am Montagnachmittag in einem der angesehensten Moskauer Spitäler an einem Herzversagen im Alter von 76 Jahren. Seit Jahren hatte er an Herzproblemen gelitten. Die schweren gesundheitlichen Probleme während seiner Amtsjahre, die ihm zeitweise und zunehmend die Führung der Regierungsgeschäfte verunmöglicht und seiner berüchtigten Entourage aus Familienmitgliedern, Kreml-Beamten und einflussreichen Wirtschaftsführern die faktische Herrschaft über Russland in die Hände gegeben hatten, waren zuletzt zum Symbol eines dahinsiechenden Staates geworden. Die Macht hatte der von Amt und Bürden, von Krankheit und ungesundem Lebensstil gezeichnete Revolutionär des neuen Russland bis zu seinem überraschenden Rücktritt Ende Dezember 1999 trotzdem mit aller Gewalt auf sich zu vereinen versucht.

Fast alle, die sich zu öffentlichen Stellungnahmen am Todestag veranlasst sahen, liessen Hemmungen spüren, eine überschwängliche Würdigung des Verstorbenen auszusprechen. So erbärmlich wie der Kommunistenführer Gennadi Sjuganow, im Wahlkampf 1996 Jelzins erbittertster Gegner, der sich einzig darauf berief, nach den Bräuchen dürfe über einen Verstorbenen nichts Schlechtes gesagt werden, weshalb er gar nichts zu sagen habe, reagierten auch die einst mächtigsten Gegner Jelzins nicht – nicht Michail Gorbatschew, der letzte Präsident der Sowjetunion, und auch nicht Alexander Ruzkoi, Jelzins erster Vizepräsident und Widersacher im blutigen Konflikt mit dem Parlament 1993. Sie und viele andere – langjährige Weggefährten wie der frühere Ministerpräsident Wiktor Tschernomyrdin und viele erste Führer der unabhängig gewordenen Sowjetrepubliken – nannten zuvorderst den Einsatz für die Freiheit als bleibendes Erbe Jelzins.

Die Bilder, die Jelzin auf einem Panzer vor dem Weissen Haus in Moskau zeigen, als im August 1991 eine Gruppe ewiggestriger Sowjetfunktionäre das Ende der Sowjetunion zu verhindern versuchte und dadurch ihr Zerbrechen beschleunigte, sind das stärkste Symbol für den Kampf um Freiheit und für die Hoffnung, die mit der Person des damals 60-jährigen systeminternen Oppositionellen verbunden waren. Ein paar Monate vorher war er überlegen und als erster Politiker überhaupt zum Präsidenten Russlands (damals noch eine Sowjetrepublik) gewählt worden. Er sprach als Demokrat, auch wenn er vom Funktionieren einer Demokratie kaum eine Ahnung hatte. Er trat als Populist in den Ring einer verkrusteten Politik, die diesem kraftvollen, charismatischen Machtmenschen nicht gewachsen war.

Jelzin war ein sowjetischer Kadermann – aus einer Bauernfamilie hinter dem Ural, bei Swerdlowsk (heute Jekaterinburg), stammend, der nach dem Bauingenieur-Studium die Parteileiter erklommen hatte und vom westsibirischen Provinzstatthalter zum Parteichef der Hauptstadt aufgestiegen war. Im Zentrum der Macht legte er sich alsbald mit den etablierten Grössen an – auch mit Gorbatschew, dessen Reformkurs er guthiess, jedoch für zu wenig radikal hielt. Er hatte zwar selbst die Freiheit der Bürger im Sinn, erkannte den unbedingten und kompromisslosen Veränderungsbedarf der sowjetischen Wirtschaft und besiegelte, als er Ende 1991 den Rahmen der Sowjetunion dafür für nicht mehr tragfähig hielt, die Auflösung der Sowjetunion.

Sein äusserst rudimentäres Verständnis von Marktwirtschaft und Demokratie wendete sich später jedoch gegen ihn, als er vom erklärten Demokraten zum skrupellosen Machtpolitiker wurde. Zunächst liess er das offenkundig destruktiv widerborstige Parlament beschiessen. Später regierte er oft nur noch am Rande im Rahmen der von ihm selbst eingeführten Verfassung – oder liess regieren, weil er angesichts seiner Krankheit häufiger dazu selbst gar nicht mehr in der Lage war. Damit hatte er wesentlich seinen einstigen Bonus als Hoffnungsträger verspielt.
Transformation mit Verlierern

Russlands beeindruckende Transformation, die trotz allen inneren Wirren, die heute als Gegenbild für die Stabilität unter Präsident Putin herhalten müssen, weitgehend friedlich war, ist ohne Zweifel Jelzins Verdienst. Er holte junge liberale Wirtschaftsreformer in die Regierung, die einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit verordneten und das Land zunächst in einen Schock führten. Freiheit wurde zuweilen als Anarchie verstanden. Sicherheit war in allen Lebenslagen und -bereichen ein Wort der Vergangenheit. Die Verteilung des oft maroden und daher billig bewerteten Staatseigentums unter einige wenige, die davon reich und mächtig geworden sind, hat die breite Bevölkerung zunehmend abgestossen.

Das fatale an dem auch vom Westen unterstützten Umbau war der fehlende institutionelle Rahmen, in dem das neue Russland gebaut wurde. Die deutsche Politologin Margareta Mommsen hat dies, auf die Politik bezogen, eine «Demokratie ohne Demokraten» genannt. In gewisser Weise mangelt es Russland daran bis heute. Als gefallener Hoffnungsträger bleibt Jelzin dennoch eine markante Symbolfigur für das neue Russland. Ähnlich wie Gorbatschew im Westen mehr geschätzt als im eigenen Land, wo ihm der Zusammenbruch des sowjetischen Vaterlands und die wirren Zeiten der neunziger Jahre zum Vorwurf gemacht werden, ist der schillernde Demokrat Jelzin derjenige, der in gewissem Sinn den Grundstein für den Aufbruch neuer Generationen gelegt hat.
R.M.

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