31. Dezember 2007, Neue Zürcher Zeitung
«Wenn wir ehrlich sind, wollen wir keine gewaltfreie Gesellschaft»
Psychiater Kiesewetter und Kriminologe Killias über Ursachen von Gewalt
Psychiater Kiesewetter und Kriminologe Killias über Ursachen von Gewalt
Verschiedene schwere Gewalttaten haben im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit beschäftigt und politische Debatten geprägt. Gewalt gehöre zur Gesellschaft und werde von uns zum Teil geradezu verherrlicht, sagen der Gerichtspsychiater Martin Kiesewetter und der Kriminologe Martin Killias. Bestimmte Strukturen machten diese Gewalt unkontrollierbar.
Verschiedene schwere Gewalttaten haben im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit beschäftigt und politische Debatten geprägt. Gewalt gehöre zur Gesellschaft und werde von uns zum Teil geradezu verherrlicht, sagen der Gerichtspsychiater Martin Kiesewetter und der Kriminologe Martin Killias. Bestimmte Strukturen machten diese Gewalt unkontrollierbar.
Interview: fur./rib.
Herr Killias, nimmt die körperliche Gewalt in unserer Gesellschaft zu?
Martin Killias: Ja. Verschiedene Indikatoren deuten darauf hin. Bei einer Gesamtschau aller Daten zur Kriminalität zeigt sich: Bestimmte Kriminalitätsformen sind seit etwa 20 Jahren rückläufig, andere haben stark zugenommen. Laut den Polizeistatistiken stagniert die Zahl der Eigentumsdelikte oder geht zum Teil zurück, bei den Gewaltdelikten aber ist ein starker Zuwachs festzustellen. Diese Zunahme betrifft hauptsächlich Jugendliche – bei den Tätern wie auch bei den Opfern. Sogenannte Crime-Surveys, also Befragungen der Bevölkerung, bestätigen dieses Bild, ebenso die Befragungen von Jugendlichen zu begangenen Delikten. Anhand solcher Erhebungen stellen wir zudem fest, dass nicht unbedingt mehr Leute betroffen sind. Aber die Leute, die es sind, sind häufiger Opfer oder Täter als früher.
Gewalt hat in der Schweiz «Tradition»
Sind die Gewalttaten schwerer geworden?
Killias: Genau das hat sich verändert. Leute, die betroffen sind, sind es nicht nur häufiger, sondern tendenziell auch schwerer. Im Berner Inselspital haben die Einweisungen in die Notfallstation mit schweren, vorsätzlich beigebrachten Verletzungen seit 2001 sehr stark zugenommen. Das deckt sich mit anderen Daten.
Martin Kiesewetter: Die Opfer von Gewalttaten werden übrigens oft nicht als Opfer wahrgenommen, weil sie derselben kulturellen Gruppe angehören wie die Täter. Es gibt eine Subkultur, in der Gewalt zunehmend eine grosse Rolle spielt. Es geht um Auseinandersetzungen, um Machtentfaltung, um die Frage, wer sich wehren und durchsetzen kann. In dieser Subkultur sind körperliche Gewalt und Waffengewalt akzeptiert. Das sind übrigens oft Menschen, die ganz strenge Ordnungsvorstellungen haben. Ich wundere mich bei den Gewalttätern, die ich untersuche, immer wieder, mit welcher Inbrunst sie rechtsbürgerliche Positionen vertreten: Ordnung, Gesetz, Durchgreifen. Sogar in der Ausländerpolitik vertreten sie – auch wenn sie Ausländer sind – klar rechtsbürgerliche Positionen. Das birgt natürlich Gewalt.
Wie stark spielt denn die ausländische Herkunft vieler Gewalttäter eine Rolle?
Kiesewetter: Gewalt hat bei vielen Immigranten einen historischen Hintergrund. Gewalt gehört allerdings auch zum historischen Kontext der Schweizer. Wir stammen aus einer bäuerlichen Gesellschaft, in der gewalttätige Auseinandersetzung eine anerkannte Rolle spielten. Bis in die jüngste Zeit gab es zum Beispiel in verschiedenen Berner Dörfern geradezu eine entsprechende Tradition. Die Erzählungen von Jeremias Gotthelf sind voll von oft ritualisierter Gewalt. Körperliche Auseinandersetzungen, lebensgefährliche Verletzungen, Wirtshausschlägereien – das gehörte dazu. Nur haben wir heute keine gotthelfschen Wirtshäuser mehr. Die Auseinandersetzungen spielen sich in einer modernisierten Form ab. Dabei ist Gewalt nicht notwendigerweise ein Zeichen dissozialer Einstellung. Gewalt ist ein Weg, eine Haltung durchzusetzen. Wenn ich intellektuell oder wirtschaftlich etwas nicht schaffe oder nicht so privilegiert bin wie andere, ist körperliche Gewalt eine Möglichkeit.
Wo liegen die Unterschiede zwischen den früheren Wirtshausprügeleien und der heutigen Gewalt?
Kiesewetter: Ich bin mir nicht sicher, ob die Unterschiede enorm gross sind. Eines ist aber klar: Die Gewalttäter nehmen die sie umgebende Welt als eine Welt voller Aggressionen war. Es gibt niemanden, der die Welt als so aggressiv erlebt wie der Aggressive. Ständig fühlt er sich bedroht. Alle erlebt er sich selber gegenüber als feindselig. Man will ihn fertigmachen, man will ihm etwas verweigern; er kann den Menschen nicht vertrauen. Und dagegen muss er sich wehren. Aggressive Leute sagen immer: «Ich bin doch nicht aggressiv, die anderen sind aggressiv.» Sie glauben, dass sie selbst nur auf eine feindliche und bösartige Umwelt reagieren. Da stellt sich natürlich die Frage, wie strukturell gewalttätig die Gesellschaft eigentlich ist, gegen die sie sich wehren wollen. Also: Stellen schlechte schulische und berufliche Chancen auch strukturelle Gewalt dar?
Killias: Natürlich gab es früher schon Schlägereien, aber ich wehre mich dagegen, so zu tun, als sei alles schon immer so gewesen. Manche Politiker sind ja geradezu süchtig nach Daten, die nahelegen, dass die Gewalt angeblich nicht zunimmt und alles nur eine Medienhysterie ist. Der Grund dafür ist klar: Wenn man sich sagen kann, Gewalt habe es schon immer gegeben, hat man als Politiker nichts zu hinterfragen. Wenn wir aber Trends nicht mehr leugnen, kann man der Frage nicht ausweichen, was man tun müsste.
«Manche von diesen Leute sind »
Sie sprachen von Gewalt als Reaktion auf Bedrohung. Kann jeder Mensch gewalttätig reagieren?
Kiesewetter: Natürlich gibt es lebensgeschichtliche und genetische Voraussetzungen für Aggressivität. Aber an sich kann jeder Mensch gewalttätig werden. Die Schicht, die über der Gewaltbereitschaft liegt, ist oft sehr dünn. Die Vorstellung «Den möchte ich am liebsten . . .» hatte ja jeder schon einmal. Das tut man natürlich nicht. Die Selbstkontrolle ist ja da. Doch manchmal ist die Selbstkontrolle eben doch nicht da. Das sieht man bei Gewalttaten von Leuten, die ihr Leben lang nie gewalttätig waren. Amokläufer etwa zeichnen sich oft durch zuvor fehlende Gewalttätigkeit, durch Aggressionshemmungen aus. Viele Gewalttäter, die ich untersuche, sind aggressionsgehemmt. Eine Aggression ist da. Und wenn man die Bremse loslässt, ist die Gewalt ungehemmt.
Gibt es bei uns zu wenig Möglichkeiten, Gewalt in gesellschaftlich akzeptiertem Rahmen auszuleben?
Kiesewetter: Früher haben sich Gruppen oder Vereine zum Beispiel an Schützenfesten geprügelt. Heute gehen viele Jugendliche nicht mehr in Vereine; sie bilden Gangs und gehen aufeinander los. Und das ist bei diesen Leuten weitgehend anerkannt; die Gewalt findet meist innerhalb dieser Gruppen statt. Da uns diese Gewalt über die Medien vermittelt wird, denken wir, wir seien persönlich betroffen. Die Gewalt in diesen Gruppen bedroht uns aber verhältnismässig wenig.
Killias: Die Umgebung prägt dieses Verhalten übrigens stark. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Quartieren, in denen die Kinder aufwachsen, und ihrem späteren Verhalten. Wenn man in einem Umfeld voll illegaler Gelegenheiten aufwächst, entstehen Motivationen, die in anderer Umgebung nie entstanden wären.
Kiesewetter: Es gibt Gruppen von Jugendlichen, deren Ausbildung nicht mehr reicht für einen qualifizierten Job. Und wer auf dem Bauch landet, sucht eine Möglichkeit, um wieder Selbstbewusstsein zu gewinnen. Wir hatten beispielsweise Einreisebestimmungen, die Gastarbeiterkinder dazu verurteilten, erst im Jugendalter in die Schweiz zu kommen. Ihre Berufschancen sind gering. Wir haben also politische Entscheidungen getroffen, die in bestimmten Bereichen einen Anstieg von Gewalt zur Folge haben. Wenn ich eine Entscheidung treffe, die eine Gruppe – Schweizer oder Ausländer – daran hindert, erfolgreich zu sein, dann muss ich wissen, dass ich eine Quelle erhöhter Gewaltbereitschaft schaffe. Manche von diesen jungen Leuten sind im Grunde «nichts». Sie scheinen uns verzichtbar. Sie sind uns egal. Und das wissen sie. Auch mein Selbstbewusstsein wäre auf dem Nullpunkt, wenn ich das Gefühl hätte, ich sei für alle ganz überflüssig.
«Wir fordern die ganze Zeit Gewalt»
Ist eine gewaltfreie Gesellschaft überhaupt möglich?
Kiesewetter: Wenn wir ehrlich sind, wollen wir keine gewaltfreie Gesellschaft. Wir fordern die ganze Zeit Gewalt. Wir fordern Durchsetzungsstärke, eine klare Haltung, die aggressive Führung eines Betriebes: Das sind lauter gewalttätige Vorstellungen über eine funktionierende Gesellschaft. Wir dürfen nur nicht körperlich gewalttätig werden. Wir können es uns auch nicht leisten, körperliche Gewalt ins Negative zu schieben, weil wir dann keinen Platz mehr hätten für unseren Körperkult. Auch die Werbung lebt ja zum Teil von aggressivem und imponierendem Auftreten. Im Grunde verherrlichen wir Gewalt.
Killias: Eine Gesellschaft ohne Kriminalität und Gewalt wird es nie geben. Das heisst aber nicht, dass es immer gleich viel Gewalt gegeben hat oder geben muss. Gewalttaten haben zudem auch Folgen für die Täter. Gerät jemand auf die schiefe Bahn, führt das meist zu massiver Beeinträchtigung von Lebenschancen. Wenn jemand zum Problem wird für die Kameraden, die Lehrer und schliesslich für die weitere Öffentlichkeit, dann sind Berufs- und Ausbildungschancen stark beschnitten. Es droht eine lebenslange Abhängigkeit vom Staat. Prävention liegt deshalb nicht nur im Interesse der Opfer und der Öffentlichkeit.
Welche Rolle spielt Gewalt in Medien und Videospielen als Ursache von Gewalttaten?
Killias: Es gibt viele Studien, die einen engen Zusammenhang zwischen Gewalt in Medien und Computerspielen und tatsächlichen Gewalttaten nahelegen. Offen bleibt die Frage nach dem Kausalzusammenhang. Um diesen Beweis zu erbringen, müsste man etwa einer Gruppe zehnjähriger Kinder regelmässig Gewaltfilme oder solche Videospiele vorsetzen, wogegen eine andere Gruppe Harmloses zu sehen bekäme. Nach ein paar Jahren würde man messen, ob sich das Verhalten der beiden Gruppen unterscheidet. Ein solches Experiment wäre theoretisch sauber, ethisch aber nicht machbar, weil eine Gruppe womöglich geschädigt würde. Man muss sich daher mit Plausibilitäten begnügen. So setzt etwa der Anstieg von Gewalt in Europa Ende der achtziger Jahre ein, als die Videogeräte und Computer in die Haushalte kamen. Ab dann verloren die Eltern die Kontrolle über den Medienkonsum ihrer Kinder.
Gewalt in Medien verschwinden lassen
Kann man den Konsum von Gewalt in den Medien überhaupt verhindern?
Killias: Das wäre wünschbar. Ich sehe nicht ein, weshalb es nicht möglich sein sollte, die Gewalt in den Medien zum Verschwinden zu bringen. Ich bin überzeugt, dass es in ein paar Jahren eine technische Lösung gibt, um den Zugang zu Gewalt in den Medien effizient zu verhindern.
Wie die Armeewaffe, die Sie im Zeughaus lagern wollen. Verhindern wir damit auch Gewalttaten?
Killias: Ich bin kein Pazifist. Die Armeewaffe zu Hause hatte einmal die Funktion, eine rasche Mobilmachung zu ermöglichen. Wenn es eine grosse Bedrohung von aussen gäbe, dann müsste man wohl ein paar Tote durch den Missbrauch der Waffe in Kauf nehmen. Heute aber bringt dieses System nur noch Nachteile.
Kiesewetter: Die Lagerung der Armeewaffe im Zeughaus würde eine Gruppe von Gewalttätern betreffen, über die wir noch nicht gesprochen haben: die Angepassten und Anständigen, die zu Hause in einer Streitsituation zur Waffe greifen. Taten mit der Armeewaffe sind affektiv geprägte Handlungen im engsten sozialen Raum. Es sind Situationen momentaner Ausweglosigkeit oder überschäumender Wut. Deshalb ist es töricht zu sagen, die Täter nähmen eine andere Waffe, wenn die Armeewaffe nicht greifbar wäre. Oft nähmen sie nichts anderes, nicht einmal ein Küchenmesser: Es ist ein riesiger Unterschied, ob man mit einem Messer auf jemanden einsticht oder ihn mit der Schusswaffe hinrichtet.
Ist es sinnvoll, mehr Repression im Sinne von härteren Strafen gegen Gewalttäter auszusprechen?
Killias: Es wird immer gesagt, es sei wissenschaftlich bewiesen, dass schärfere Strafen nichts brächten. Das stimmt so nicht. Natürlich: Wenn man fünf Jahre statt zwei Jahre Gefängnis aussprechen kann, bringt das nicht viel. Wenn aber eine Tat vorher keine Sanktionen nach sich zog und dann plötzlich doch, macht das einen Unterschied. Wir haben im Jugendstrafrecht ein Problem, nämlich dass es für Jugendliche unter 15 Jahren bei schweren Verbrechen keine glaubwürdige Sanktion vorsieht. Freiheitsentzug ist grundsätzlich nur in ganz bescheidenem Rahmen erst ab 15 und im eigentlichen Sinne erst ab 16 Jahren möglich. Dieser Nulltarif bei Sanktionen bis zum Alter von 15 Jahren ist das Problem.
Kiesewetter: Das Jugendstrafrecht ist vor allem ein Massnahmenstrafrecht. Es ist von der Idee getragen, dem jungen Täter in seiner Bedürftigkeit gerecht zu werden. Im Mittelpunkt stehen Erziehung, Förderung, Hilfe und auch Beratung für die Eltern. Dafür leuchtet man sein Umfeld aus. Das ist ein sehr guter Ansatz, nur braucht das Zeit. Und das Problem ist, dass bei jugendlichen Straftätern meistens lange keine Entscheidungen gefällt werden. Die Tat hat keine sofortigen Konsequenzen. Ein Fehlverhalten muss aber sofort sanktioniert werden. Die Jugendlichen müssen spüren, dass ihr Verhalten missbilligt wird.
Zur Person
Martin Kiesewetter ist Leitender Arzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Leiter des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes und ist als Gutachter – u. a. von Gewalttätern – tätig.
Martin Killias ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie am rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich und Co-Direktor des Kriminologischen Instituts.
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Montag, Dezember 31, 2007
Gespräch mit Tim Guldimann (Früherer CH-Botschafter im Iran)
Tages Anzeiger
Schweiz
31. Dezember 2007, 10:07
«Man kann nicht verlangen, dass alle Coca-Cola trinken und Krawatte tragen»
Ob in Tschetschenien, im Iran oder in Kosovo: Der Schweizer Spitzendiplomat Tim Guldimann bemüht sich um Verständigung zwischen den Kulturen und fragt nach universellen Werten.
Mit Tim Guldimann sprachen Enver Robelli und Res Strehle in Pristina
Tim Guldimann: Wir sollten einen roten Faden in diesem Gespräch haben.
Gerne. Was schlagen Sie vor?
Ich möchte generell über die Frage der Gültigkeit universeller Werte reden. Nehmen wir Kosovo und Iran und vielleicht noch etwas Drittes...
Nahost?
Ja, zum Beispiel. Wie verhält sich der Westen zu diesen Konflikten und woher nehmen wir die Legitimation für unseren Standpunkt? Das interessiert mich. Oder genauer: Wie definieren wir den Anspruch auf die Universalität unserer Werte bei gleichzeitigem Respekt vor kultureller Vielfalt? Man kann ja nicht verlangen, dass alle Coca-Cola trinken und Krawatte tragen. Man kann aber nach Auschwitz verlangen, dass Völkermord weltweit geahndet wird. Wo liegt damit die Grenze zwischen Multi-Kulti und universell Gültigem?
Das Verbot des Völkermords, die Anerkennung der Menschenrechte, die Wahrung der körperlichen und psychischen Integrität - das scheinen universelle Werte. Aber wie steht es mit Demokratie? Da wird es heikler und interpretationsbedürftig. Schwierig wird es vor allem deswegen, weil die USA, die weltweit ihre Demokratie exportieren wollen, nie frei sind vom Verdacht, eigene Machtinteressen zu verfolgen.
Entscheidend sind für mich die Grundsätze der Aufklärung: Man muss sich über das, was gilt, verständigen. Das heisst in der Wissenschaft Wahrheit, in der Wirtschaft Vertrag, in der Politik «Contrat social». Im Völkerrecht gibt es die Verständigung zwischen den Staaten über gemeinsame Regeln, an die man sich halten muss. Deshalb ist der Begriff der internationalen Gemeinschaft so wichtig, auch wenn sie oft keine polizeiliche Gewalt zur Durchsetzung dieser Regeln hat. Unser zentrales Problem ist, dass der Westen, der ja die Aufklärung erfunden hat, im Innern seiner Gesellschaften diesen Grundsätzen nachlebt, aber im Verhältnis zum Rest der Welt oft die eigenen Grundsätze verletzt. Das gilt vor allem für die USA in den letzten Jahren.
Vorher müsste man klären, welche Werte universell gültig sein müssen.
Ja, man könnte eine Liste machen, aber das geht nicht. Der Theologe Hans Küng hat das versucht mit seinem Weltethos. Das funktioniert nicht, weil viel zu abstrakt, zu statisch. Nein, man muss auf die konkreten Probleme kommen. Und dort geht es dann um die Frage, wie man sich mit anderen Kulturen über die Grenzen des universell Gültigen verständigen kann. Das ist ein kontinuierlicher Prozess.
Seit wann interessieren sich Schweizer Diplomaten für philosophische Fragen?
Das hat mich immer fasziniert. Ich habe mich kürzlich mit dieser Frage an meinen alten Lehrmeister, den Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas, gewandt. Er sagte Folgendes: Alle Kulturen sitzen im Modernisierungszug. Alle sind auf dem Übergang von der Tradition zur Moderne oder sind dort angekommen. Damit werden in allen Gesellschaften Rechte und Pflichten zunehmend individuell definiert. Eine wirkliche Verständigung innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen ist nur möglich, wenn sich alle am demokratischen Prozess beteiligen können. Es geht deshalb nicht darum, universelle Werte zu definieren. Man kann sich leichter über das Verfahren einigen, das universell gültig sein soll. Konkret darüber, dass sich alle an der Festlegung der eigenen Werte beteiligen dürfen.
Schön, aber was heisst das in Bezug auf eine islamische Gesellschaft, in der Frauen diskriminiert werden?
Wenn sich dort Frauen demokratisch am politischen Leben beteiligen können, würde ich ihre Benachteiligung im Erbrecht nicht verdammen, weil ich glaube, dass dieses Erbrecht bald geändert wird.
Und was, wenn diese Gesellschaften autoritäre Demokratien sind, die mit unserem westlichen Verständnis von Demokratie nur wenig gemeinsam haben? Die Demokratur hatte 2007 ja durchaus Hochkonjunktur, wenn man an Länder wie Pakistan, Russland oder Venezuela denkt.
Das sind gute Beispiele, gegenüber denen der Westen zu lasch ist, demokratische Freiheiten einzufordern. Aber das müsste unabhängig vom Ergebnis des demokratischen Prozesses erfolgen.
Das heisst, dass es keine ultimativen Forderungen gibt, auch nicht jene nach Einhaltung der Menschenrechte? Was, wenn ein Staat demokratisch die Wiedereinführung der Todesstrafe beschliesst?
Erstaunlich ist, dass die Resultate überall ähnlich sind. Es zeigt sich nämlich, dass im Zuge der weltweiten Demokratisierung der letzten 30 Jahre die Zahl der Staaten ohne Todesstrafe zugenommen hat. Ein Freund aus einem islamischen Land hat mir kürzlich gesagt, er hätte ein hohes religiöses Amt aufgegeben, weil er Todesurteile hätte unterschreiben müssen. Es war für mich schön, wie er, der sonst wenig Kontakt zum Westen hatte, zum selben Schluss kam wie wir. Ich bin überzeugt, dass westliche und nicht-westliche Kulturen im Zuge der Modernisierung in wichtigen Fragen zu denselben Schlüssen kommen werden.
Und wenn die Steinigung von Ehebrecherinnen demokratisch beschlossen würde?
Dagegen muss man Stellung nehmen, klar. Aber ändern wird sich das erst, wenn die Modernisierung demokratisch abgestützt wird. Dann werden die Frauen selbst dafür schauen, dass solche Gesetze geändert werden.
China?
Die Frage ist noch offen, wie lange und ob überhaupt die Modernisierung auf Demokratie verzichten kann.
Die westlichen Gesellschaften sind in der Regel demokratisch. Trotzdem scheint der Westen moralisch nicht viel besser als der Rest der Welt.
Besser ist er allenfalls im Innern seiner Gesellschaften, nicht aber in einer Haltung gegenüber dem Rest der Welt, wenn er von der Arroganz geprägt ist, eine Verständigung zu verweigern und sich über das Völkerrecht hinwegzusetzen.
Es soll auch Schweizer Politiker geben, die sich ganz gerne übers Völkerrecht hinwegsetzen würden.
Ja, aber einer von ihnen wurde ja kürzlich abgewählt.
Die Arroganz des Westens scheint Ihr grosses Thema zu sein. Wann hatten Sie eigentlich die Erkenntnis, dass dieses Thema so wichtig ist? Im Iran?
Schon vor 35 Jahren in Lateinamerika. Iran erlebte ich auch als Beispiel dieser Konfrontation. Der Umsturz von 1979 war vor allem auch eine antikoloniale Revolution gegen die von den Amerikanern unterstützte Schah-Herrschaft. Bill Clinton hat während seiner Präsidentschaft versucht, den Dialog wieder aufzunehmen, aber die Iraner waren damals noch nicht bereit. Als die Iraner bereit waren, verweigerte George W. Bush das Gesprächs. Die Eskalation des Nuklearkonflikts ist eine Folge des verweigerten Dialogs. Die neue Einschätzung der US-Geheimdienste ist für mich eine Bestätigung meiner Behauptung: Der Iran will die nukleare Kapazität, aber er will nicht die Bombe.
Er will die Möglichkeit der Bombe.
Ja, darauf werden sie wohl nicht verzichten. Zumindest waren die Iraner aber bereit, im Gegensatz zu den Atommächten Israel, Indien und Pakistan ihr Atomprogramm offen zu legen. Die positive Wende kam 2003, nicht nur wegen des Endes von Saddam Hussein, von dem sie sich bedroht fühlten, sondern auch wegen der Haltung der Europäer. Die EU brachte ihnen für die Aufnahme von Verhandlungen den notwendigen Respekt entgegen.
Sie haben im Iran schon früh einen Vorschlag zur Deeskalation gemacht, der vernünftig schien, aber nichts gebracht hat.
Sie bringen da zwei Geschichten durcheinander. Es gab 2003 einen iranischen Vorschlag für einen umfassenden Dialog mit den USA, zu dem ich aber nicht Stellung nehmen darf, weil ich damals mit der Wahrung amerikanischer Interessen im Iran beauftragt war. Und 2005 nahm ich während meines Urlaubs an einer Arbeitsgruppe mit amerikanischen Atomphysikern teil. Wir entwickelten mit einem hohen iranischen Vertreter einen Lösungsansatz zur Nuklearfrage. Damit regte ich ein Papier der in Brüssel ansässigen Denkfabrik International Crisis Group an, das ich später mitverfasst habe. Es ging darum, den Iranern eine beschränkte, international überwachte Urananreicherung zuzugestehen, wenn sie mit der Internationalen Atomenergie-Agentur zusammenarbeiten würden.
Das hat wenig bewirkt.
Der Vorschlag hat immerhin dazu beigetragen, dass die USA ihre Haltung gegenüber dem Iran modifiziert haben und bloss noch eine Suspendierung der iranischen Urananreicherung verlangten - aber da war es schon zu spät, weil sich mit Mahmoud Ahmadinejad die iranische Haltung verhärtet hatte. Eigentlich gehts immer um dasselbe: Eine Verständigung ist nur im gegenseitigen Respekt aller Beteiligten möglich. So lange die USA militärische Gewalt androhen, wird es nicht zu einer Verständigung kommen.
Warum eigentlich ist Ihnen die Frage des Respekts in den internationalen Verhandlungen so wichtig? Weil die Schweiz international auch kaum mehr ernst genommen wird?
Das habe ich nie so erlebt. Da müssten Sie mir erst sagen in welchem Zusammenhang.
Die Schweiz spielt aussenpolitisch heute kaum eine Rolle mehr.
Ich weiss nicht, ob das nach Marignano je anders war.
Immerhin spielte Genf nach Gründung des Völkerbunds und während der Phase des Kalten Kriegs eine wichtige Rolle.
Das ist ein grosser Mythos. Genf wurde zur Konferenzstadt, weil dank dem Calvinismus damals gute private Beziehungen zum amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson bestanden, aber faktisch hat die Schweiz international nie eine wichtige Rolle gespielt. Die Grossmächte haben nichts gegen uns, wir sind nicht relevant. Die Europäische Union bemüht sich aktuell in der Kosovo-Frage um die Meinungen von Zypern und Malta, die Schweiz ist da weniger wichtig. Wenn wir in der EU wären, wäre unsere aussenpolitische Bedeutung ungleich grösser.
Sie persönlich haben heute schon eine wichtige Rolle.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa suchte für ihre Mission in Kosovo einen Nachfolger für meinen deutschen Vorgänger. Die Deutschen stellten niemanden, und da schaute man halt, ob sonst einer da ist, dem man das zutraute. Voilà, das hatte aber nichts zu tun mit der Rolle der Schweiz.
Könnte die Schweiz aussenpolitisch wieder eine spezielle Rolle spielen?
In Ihrer Frage schwingt mit, dass die Schweiz etwas Spezielles ist. Hören wir doch auf mit solchen Illusionen! Das heisst nicht, dass die Schweiz international nicht aktiv sein kann, wie heute in der Uno. Aber so lange wir nicht Mitglied der Europäischen Union sind, wird unser Einfluss absolut gering bleiben, besonders in Europa. Die Meinung, weil wir nicht EU-Mitglied sind, hätten wir spezifische Einflussmöglichkeiten, halte ich jedenfalls für gänzlich unbegründet.
Ist die EU mit 27 Mitgliedern aussenpolitisch überhaupt noch handlungsfähig?
Ja, sicher. Die Rolle, die sie jetzt etwa in Kosovo spielt, ist sehr substanziell. Die Europäische Union wird in dieser Region die Rolle übernehmen, die die Uno bisher spielte. Das ist eine der wichtigsten aussenpolitischen Aktionen in der Geschichte der EU überhaupt.
Anfänglich lag die politische und militärische Initiative in Kosovo bei den USA. Was hat dazu geführt, dass die EU das Heft in die Hand nahm?
Das Bewusstsein der EU-Staaten, besonders der vier Grossen in der internationalen Balkan-Kontaktgruppe, dass es sich in Kosovo um einen Konflikt in Europa handelt, für den sich Europa engagieren muss. Gleichzeitig bestand der Druck der Uno, dass die Europäer selber für Konflikte in Europa zuständig sind.
Es war geplant, dass Sie Botschafter in Tel Aviv würden. Hätte Sie dieser Posten interessiert?
Ja.
Warum haben Sie ihn nicht bekommen?
Dazu will ich mich nicht äussern. Ihre Zeitung hat darüber geschrieben, ich habe schon damals keine Stellung genommen.
Wie könnte aus Ihrer Sicht eine mögliche Lösung für Nahost aussehen? Sehen Sie den Friedensprozess von Annapolis als tauglichen Versuch, ein Bündnis zu schmieden zwischen Israel, dem Westen und gemässigten Sunniten gegen die Schiiten?
Nein, es ist gefährlich. Iran und die Schiiten isolieren zu wollen. Vergessen Sie nicht, dass der islamische Terrorismus in erster Linie sunnitisch geprägt ist und nicht schiitisch. Bei der Hierarchie im schiitischen Klerus kann nicht jeder kommen und sagen, wie der Koran interpretiert werden muss. Die Gewalt auf Seiten von Hizbollah oder Hamas lässt sich in keiner Weise vergleichen mit dem Terror von al-Qaida, der sich von den regionalen Konflikten und der betroffenen Bevölkerung vollkommen losgelöst hat. Hizbollah entstand im Kampf gegen die widerrechtliche Besetzung Libanons Süden durch Israel. Mich interessiert in Nahost die Frage, wie überhaupt noch eine Verständigung gefunden werden kann. Die einseitige Parteinahme des Westens, vor allem der USA, für Israel hat dem Ansehen unserer Werte seitens der islamischen Eliten sehr geschadet.
Kann der Friedensprozess von Annapolis zum Ziel führen?
Wenn das Ziel ist, die Chancen der Republikaner bei den kommenden Präsidentschaftswahlen zu erhöhen, vielleicht. Ich glaube nicht an einen Erfolg, der die Bilanz von Präsident George W. Bush im Verhältnis zur islamischen Welt verbessern würde. Er hätte es zwar nötig, denn er ist mit verantwortlich dafür, dass zwischen dem Mittelmeer und Afghanistan eine grosse Konfliktregion entstanden ist, in der heute alles miteinander zusammenhängt. Aber die USA sind nach wie vor nicht bereit, eine Verständigung mit den eigentlichen Konfliktparteien zu suchen. Hizbollah, Hamas, Iran und die Taliban sind von den Gesprächen ausgeschlossen. Mit dieser Seite redet man nicht, weil sie böse Terroristen sind. Und hofft gleichzeitig, dass Gespräche etwas bringen mit anderen, die nicht beteiligt sind. Bin Laden ist ein anderes Kapitel, dort bringen Gespräche nichts.
Wird ein Präsidentenwechsel in den USA aussenpolitisch viel verändern?
Barack Obama hat angekündigt, dass er mit den Iranern bedingungslos reden will. Das wäre sicher etwas Neues, umgekehrt wird die Hürde der Zustimmung des Kongresses aber bestehen bleiben.
Wie ist das eigentlich, lebenslang als Diplomat tätig zu sein? Gibts da Berufskrankheiten?
Meinen Sie Alkohol? Dieses Problem habe ich nicht, ich habe andere.
Sie müssen stets versuchen, Unvereinbarkeiten zwischen Parteien aufzuweichen - das wird wohl auch abfärben auf das private Verhalten.
Nein, ich bin privat nicht sehr diplomatisch. Viel prägender fürs Privatleben ist die Tatsache, dass einem als Diplomat mit den ständigen Ortswechseln die Biografie wie in einem Film geschnitten wird. Diese Schnitte sind schmerzhaft, weil sie soziale Beziehungen zerstören. Ist der nächste Posten nun Hanoi, Stockholm oder Dakar? In letzter Konsequenz droht grosse Beliebigkeit. Das wäre für mich inakzeptabel, darum wäre ich gerne nach Israel gegangen. Von dieser Region verstehe ich etwas. Auf einem Posten wie Paris sind hingegen andere besser.
Der rote Faden Ihrer Biografie scheint eine Art Gegenprogramm zu Samuel Huntington zu sein - nicht Kampf, sondern Versöhnung der Kulturen?
Nicht Versöhnung, sondern Verständigung, das ist nicht dasselbe. Was passiert an den Kulturgrenzen, wo ja die meisten Konflikte entstehen? Wie kommt man zu universalen Regeln der Verständigung? Ich habe selber keine Lösung, sondern nur Hinweise, in welche Richtung ein solcher Austausch führen sollte.
Sie scheinen Ihren Optimismus noch nicht verloren zu haben. Dabei führte Sie eine Ihrer ersten Missionen an einen der hoffnungslosesten Konfliktherde dieser Welt: nach Tschetschenien. Wie prägend war eigentlich dieser Einsatz für Ihre spätere diplomatische Laufbahn?
Das war das Schlüsselerlebnis meiner professionellen Biografie. Es war damals geradezu eine ideal effiziente diplomatischen Aktion: Ein Minimum an Aufwand, der uns mit viel Glück ein Maximum an Wirkung erlaubte. Wir haben heute in Kosovo fast 1000 Leute bei der OSZE-Mission und einen Jahresetat von 100 Millionen. Damit wird zwar viel geholfen, aber wir müssen schauen, dass dieser riesige Apparat punkto Administration überschaubar und rational bleibt. In Tschetschenien waren wir acht Leute, und es hat gereicht, um Wahlen zu organisieren.
Haben Sie Mühe mit grossen diplomatischen Missionen?
Ich habe dann Mühe, wenn eine grosse Bürokratie entsteht. Das kostet viel Geld, und die Erfolgskriterien sind weit weniger klar messbar als bei einem Unternehmen, das am Markt bestehen muss. Wer nicht am Markt bestehen muss, kann lange weiterwursteln, Probleme beschreiben, da und dort ein bisschen helfen, eine Dienstreise organisieren, ein Seminar veranstalten, vielleicht brauchts dann noch ein paar Assistenten mehr, ein paar Autos mehr - wenn das Budget mal bewilligt ist, schaut niemand mehr genau hin. Ich setze mich dafür ein, dass der Aufwand stets in einem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag steht.
Was war der gefährlichste Ort, an dem Sie je waren?
Auf irgendeiner Autostrasse - Autofahren ist das gefährlichste im Leben.
Tschetschenien?
Auch das war zeitweise sehr gefährlich.
In jener Zeit, als Sie dort waren, wurde eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes entführt und umgebracht. Hatten Sie Angst?
Nein, wir waren im Gegensatz zum IKRK bewacht. Der politische Zweck des Anschlags bestand wohl darin, die Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Die Tschetschenen haben immer gesagt, dass freie Wahlen erst möglich sind, wenn der letzte russische Soldat abgezogen wäre. Als die Russen dann tatsächlich abzogen, war dieses Argument vom Tisch.
Tim Guldimann
Tim Guldimann, 56, ist der bekannteste Schweizer Diplomat. Nach OSZE-Missionen in Tschetschenien (bis 1996) und Kroatien 1997-99 sowie als Botschafter in Iran (1999-2004), wo er auch die US-Interessen vertrat, leitet der Schweizer aktuell die OSZE-Mission in Kosovo. Er steht in dieser Funktion einer Mission von rund 900 internationalen und lokalen Mitarbeitern vor, die Wahlen organisiert, Polizisten und Journalisten ausbildet und demokratische Institutionen aufbauen hilft. Zwischendurch lehrte er als Dozent für Politologie an der Universität Frankfurt.
Das Gespräch fand in der Vorweihnachtszeit während eines Nachtessens in einem Hotel in Pristina statt. Den periodischen Stromausfall nahm der Krisendiplomat routiniert, unterbrach das Gespräch deswegen nicht. Das Aufnahmegerät funktionierte schliesslich mit Batterien, das Cheminée nebenan gab das Notlicht. Guldimann war eben zurückgekehrt aus Belgrad, wo er die serbische Regierung vom Veto gegen eine Verlängerung der OSZE-Mission in Kosovo abzubringen versucht hatte. (rs)
Schweiz
31. Dezember 2007, 10:07
«Man kann nicht verlangen, dass alle Coca-Cola trinken und Krawatte tragen»
Ob in Tschetschenien, im Iran oder in Kosovo: Der Schweizer Spitzendiplomat Tim Guldimann bemüht sich um Verständigung zwischen den Kulturen und fragt nach universellen Werten.
Mit Tim Guldimann sprachen Enver Robelli und Res Strehle in Pristina
Tim Guldimann: Wir sollten einen roten Faden in diesem Gespräch haben.
Gerne. Was schlagen Sie vor?
Ich möchte generell über die Frage der Gültigkeit universeller Werte reden. Nehmen wir Kosovo und Iran und vielleicht noch etwas Drittes...
Nahost?
Ja, zum Beispiel. Wie verhält sich der Westen zu diesen Konflikten und woher nehmen wir die Legitimation für unseren Standpunkt? Das interessiert mich. Oder genauer: Wie definieren wir den Anspruch auf die Universalität unserer Werte bei gleichzeitigem Respekt vor kultureller Vielfalt? Man kann ja nicht verlangen, dass alle Coca-Cola trinken und Krawatte tragen. Man kann aber nach Auschwitz verlangen, dass Völkermord weltweit geahndet wird. Wo liegt damit die Grenze zwischen Multi-Kulti und universell Gültigem?
Das Verbot des Völkermords, die Anerkennung der Menschenrechte, die Wahrung der körperlichen und psychischen Integrität - das scheinen universelle Werte. Aber wie steht es mit Demokratie? Da wird es heikler und interpretationsbedürftig. Schwierig wird es vor allem deswegen, weil die USA, die weltweit ihre Demokratie exportieren wollen, nie frei sind vom Verdacht, eigene Machtinteressen zu verfolgen.
Entscheidend sind für mich die Grundsätze der Aufklärung: Man muss sich über das, was gilt, verständigen. Das heisst in der Wissenschaft Wahrheit, in der Wirtschaft Vertrag, in der Politik «Contrat social». Im Völkerrecht gibt es die Verständigung zwischen den Staaten über gemeinsame Regeln, an die man sich halten muss. Deshalb ist der Begriff der internationalen Gemeinschaft so wichtig, auch wenn sie oft keine polizeiliche Gewalt zur Durchsetzung dieser Regeln hat. Unser zentrales Problem ist, dass der Westen, der ja die Aufklärung erfunden hat, im Innern seiner Gesellschaften diesen Grundsätzen nachlebt, aber im Verhältnis zum Rest der Welt oft die eigenen Grundsätze verletzt. Das gilt vor allem für die USA in den letzten Jahren.
Vorher müsste man klären, welche Werte universell gültig sein müssen.
Ja, man könnte eine Liste machen, aber das geht nicht. Der Theologe Hans Küng hat das versucht mit seinem Weltethos. Das funktioniert nicht, weil viel zu abstrakt, zu statisch. Nein, man muss auf die konkreten Probleme kommen. Und dort geht es dann um die Frage, wie man sich mit anderen Kulturen über die Grenzen des universell Gültigen verständigen kann. Das ist ein kontinuierlicher Prozess.
Seit wann interessieren sich Schweizer Diplomaten für philosophische Fragen?
Das hat mich immer fasziniert. Ich habe mich kürzlich mit dieser Frage an meinen alten Lehrmeister, den Frankfurter Philosophen Jürgen Habermas, gewandt. Er sagte Folgendes: Alle Kulturen sitzen im Modernisierungszug. Alle sind auf dem Übergang von der Tradition zur Moderne oder sind dort angekommen. Damit werden in allen Gesellschaften Rechte und Pflichten zunehmend individuell definiert. Eine wirkliche Verständigung innerhalb von Gesellschaften und zwischen ihnen ist nur möglich, wenn sich alle am demokratischen Prozess beteiligen können. Es geht deshalb nicht darum, universelle Werte zu definieren. Man kann sich leichter über das Verfahren einigen, das universell gültig sein soll. Konkret darüber, dass sich alle an der Festlegung der eigenen Werte beteiligen dürfen.
Schön, aber was heisst das in Bezug auf eine islamische Gesellschaft, in der Frauen diskriminiert werden?
Wenn sich dort Frauen demokratisch am politischen Leben beteiligen können, würde ich ihre Benachteiligung im Erbrecht nicht verdammen, weil ich glaube, dass dieses Erbrecht bald geändert wird.
Und was, wenn diese Gesellschaften autoritäre Demokratien sind, die mit unserem westlichen Verständnis von Demokratie nur wenig gemeinsam haben? Die Demokratur hatte 2007 ja durchaus Hochkonjunktur, wenn man an Länder wie Pakistan, Russland oder Venezuela denkt.
Das sind gute Beispiele, gegenüber denen der Westen zu lasch ist, demokratische Freiheiten einzufordern. Aber das müsste unabhängig vom Ergebnis des demokratischen Prozesses erfolgen.
Das heisst, dass es keine ultimativen Forderungen gibt, auch nicht jene nach Einhaltung der Menschenrechte? Was, wenn ein Staat demokratisch die Wiedereinführung der Todesstrafe beschliesst?
Erstaunlich ist, dass die Resultate überall ähnlich sind. Es zeigt sich nämlich, dass im Zuge der weltweiten Demokratisierung der letzten 30 Jahre die Zahl der Staaten ohne Todesstrafe zugenommen hat. Ein Freund aus einem islamischen Land hat mir kürzlich gesagt, er hätte ein hohes religiöses Amt aufgegeben, weil er Todesurteile hätte unterschreiben müssen. Es war für mich schön, wie er, der sonst wenig Kontakt zum Westen hatte, zum selben Schluss kam wie wir. Ich bin überzeugt, dass westliche und nicht-westliche Kulturen im Zuge der Modernisierung in wichtigen Fragen zu denselben Schlüssen kommen werden.
Und wenn die Steinigung von Ehebrecherinnen demokratisch beschlossen würde?
Dagegen muss man Stellung nehmen, klar. Aber ändern wird sich das erst, wenn die Modernisierung demokratisch abgestützt wird. Dann werden die Frauen selbst dafür schauen, dass solche Gesetze geändert werden.
China?
Die Frage ist noch offen, wie lange und ob überhaupt die Modernisierung auf Demokratie verzichten kann.
Die westlichen Gesellschaften sind in der Regel demokratisch. Trotzdem scheint der Westen moralisch nicht viel besser als der Rest der Welt.
Besser ist er allenfalls im Innern seiner Gesellschaften, nicht aber in einer Haltung gegenüber dem Rest der Welt, wenn er von der Arroganz geprägt ist, eine Verständigung zu verweigern und sich über das Völkerrecht hinwegzusetzen.
Es soll auch Schweizer Politiker geben, die sich ganz gerne übers Völkerrecht hinwegsetzen würden.
Ja, aber einer von ihnen wurde ja kürzlich abgewählt.
Die Arroganz des Westens scheint Ihr grosses Thema zu sein. Wann hatten Sie eigentlich die Erkenntnis, dass dieses Thema so wichtig ist? Im Iran?
Schon vor 35 Jahren in Lateinamerika. Iran erlebte ich auch als Beispiel dieser Konfrontation. Der Umsturz von 1979 war vor allem auch eine antikoloniale Revolution gegen die von den Amerikanern unterstützte Schah-Herrschaft. Bill Clinton hat während seiner Präsidentschaft versucht, den Dialog wieder aufzunehmen, aber die Iraner waren damals noch nicht bereit. Als die Iraner bereit waren, verweigerte George W. Bush das Gesprächs. Die Eskalation des Nuklearkonflikts ist eine Folge des verweigerten Dialogs. Die neue Einschätzung der US-Geheimdienste ist für mich eine Bestätigung meiner Behauptung: Der Iran will die nukleare Kapazität, aber er will nicht die Bombe.
Er will die Möglichkeit der Bombe.
Ja, darauf werden sie wohl nicht verzichten. Zumindest waren die Iraner aber bereit, im Gegensatz zu den Atommächten Israel, Indien und Pakistan ihr Atomprogramm offen zu legen. Die positive Wende kam 2003, nicht nur wegen des Endes von Saddam Hussein, von dem sie sich bedroht fühlten, sondern auch wegen der Haltung der Europäer. Die EU brachte ihnen für die Aufnahme von Verhandlungen den notwendigen Respekt entgegen.
Sie haben im Iran schon früh einen Vorschlag zur Deeskalation gemacht, der vernünftig schien, aber nichts gebracht hat.
Sie bringen da zwei Geschichten durcheinander. Es gab 2003 einen iranischen Vorschlag für einen umfassenden Dialog mit den USA, zu dem ich aber nicht Stellung nehmen darf, weil ich damals mit der Wahrung amerikanischer Interessen im Iran beauftragt war. Und 2005 nahm ich während meines Urlaubs an einer Arbeitsgruppe mit amerikanischen Atomphysikern teil. Wir entwickelten mit einem hohen iranischen Vertreter einen Lösungsansatz zur Nuklearfrage. Damit regte ich ein Papier der in Brüssel ansässigen Denkfabrik International Crisis Group an, das ich später mitverfasst habe. Es ging darum, den Iranern eine beschränkte, international überwachte Urananreicherung zuzugestehen, wenn sie mit der Internationalen Atomenergie-Agentur zusammenarbeiten würden.
Das hat wenig bewirkt.
Der Vorschlag hat immerhin dazu beigetragen, dass die USA ihre Haltung gegenüber dem Iran modifiziert haben und bloss noch eine Suspendierung der iranischen Urananreicherung verlangten - aber da war es schon zu spät, weil sich mit Mahmoud Ahmadinejad die iranische Haltung verhärtet hatte. Eigentlich gehts immer um dasselbe: Eine Verständigung ist nur im gegenseitigen Respekt aller Beteiligten möglich. So lange die USA militärische Gewalt androhen, wird es nicht zu einer Verständigung kommen.
Warum eigentlich ist Ihnen die Frage des Respekts in den internationalen Verhandlungen so wichtig? Weil die Schweiz international auch kaum mehr ernst genommen wird?
Das habe ich nie so erlebt. Da müssten Sie mir erst sagen in welchem Zusammenhang.
Die Schweiz spielt aussenpolitisch heute kaum eine Rolle mehr.
Ich weiss nicht, ob das nach Marignano je anders war.
Immerhin spielte Genf nach Gründung des Völkerbunds und während der Phase des Kalten Kriegs eine wichtige Rolle.
Das ist ein grosser Mythos. Genf wurde zur Konferenzstadt, weil dank dem Calvinismus damals gute private Beziehungen zum amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson bestanden, aber faktisch hat die Schweiz international nie eine wichtige Rolle gespielt. Die Grossmächte haben nichts gegen uns, wir sind nicht relevant. Die Europäische Union bemüht sich aktuell in der Kosovo-Frage um die Meinungen von Zypern und Malta, die Schweiz ist da weniger wichtig. Wenn wir in der EU wären, wäre unsere aussenpolitische Bedeutung ungleich grösser.
Sie persönlich haben heute schon eine wichtige Rolle.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa suchte für ihre Mission in Kosovo einen Nachfolger für meinen deutschen Vorgänger. Die Deutschen stellten niemanden, und da schaute man halt, ob sonst einer da ist, dem man das zutraute. Voilà, das hatte aber nichts zu tun mit der Rolle der Schweiz.
Könnte die Schweiz aussenpolitisch wieder eine spezielle Rolle spielen?
In Ihrer Frage schwingt mit, dass die Schweiz etwas Spezielles ist. Hören wir doch auf mit solchen Illusionen! Das heisst nicht, dass die Schweiz international nicht aktiv sein kann, wie heute in der Uno. Aber so lange wir nicht Mitglied der Europäischen Union sind, wird unser Einfluss absolut gering bleiben, besonders in Europa. Die Meinung, weil wir nicht EU-Mitglied sind, hätten wir spezifische Einflussmöglichkeiten, halte ich jedenfalls für gänzlich unbegründet.
Ist die EU mit 27 Mitgliedern aussenpolitisch überhaupt noch handlungsfähig?
Ja, sicher. Die Rolle, die sie jetzt etwa in Kosovo spielt, ist sehr substanziell. Die Europäische Union wird in dieser Region die Rolle übernehmen, die die Uno bisher spielte. Das ist eine der wichtigsten aussenpolitischen Aktionen in der Geschichte der EU überhaupt.
Anfänglich lag die politische und militärische Initiative in Kosovo bei den USA. Was hat dazu geführt, dass die EU das Heft in die Hand nahm?
Das Bewusstsein der EU-Staaten, besonders der vier Grossen in der internationalen Balkan-Kontaktgruppe, dass es sich in Kosovo um einen Konflikt in Europa handelt, für den sich Europa engagieren muss. Gleichzeitig bestand der Druck der Uno, dass die Europäer selber für Konflikte in Europa zuständig sind.
Es war geplant, dass Sie Botschafter in Tel Aviv würden. Hätte Sie dieser Posten interessiert?
Ja.
Warum haben Sie ihn nicht bekommen?
Dazu will ich mich nicht äussern. Ihre Zeitung hat darüber geschrieben, ich habe schon damals keine Stellung genommen.
Wie könnte aus Ihrer Sicht eine mögliche Lösung für Nahost aussehen? Sehen Sie den Friedensprozess von Annapolis als tauglichen Versuch, ein Bündnis zu schmieden zwischen Israel, dem Westen und gemässigten Sunniten gegen die Schiiten?
Nein, es ist gefährlich. Iran und die Schiiten isolieren zu wollen. Vergessen Sie nicht, dass der islamische Terrorismus in erster Linie sunnitisch geprägt ist und nicht schiitisch. Bei der Hierarchie im schiitischen Klerus kann nicht jeder kommen und sagen, wie der Koran interpretiert werden muss. Die Gewalt auf Seiten von Hizbollah oder Hamas lässt sich in keiner Weise vergleichen mit dem Terror von al-Qaida, der sich von den regionalen Konflikten und der betroffenen Bevölkerung vollkommen losgelöst hat. Hizbollah entstand im Kampf gegen die widerrechtliche Besetzung Libanons Süden durch Israel. Mich interessiert in Nahost die Frage, wie überhaupt noch eine Verständigung gefunden werden kann. Die einseitige Parteinahme des Westens, vor allem der USA, für Israel hat dem Ansehen unserer Werte seitens der islamischen Eliten sehr geschadet.
Kann der Friedensprozess von Annapolis zum Ziel führen?
Wenn das Ziel ist, die Chancen der Republikaner bei den kommenden Präsidentschaftswahlen zu erhöhen, vielleicht. Ich glaube nicht an einen Erfolg, der die Bilanz von Präsident George W. Bush im Verhältnis zur islamischen Welt verbessern würde. Er hätte es zwar nötig, denn er ist mit verantwortlich dafür, dass zwischen dem Mittelmeer und Afghanistan eine grosse Konfliktregion entstanden ist, in der heute alles miteinander zusammenhängt. Aber die USA sind nach wie vor nicht bereit, eine Verständigung mit den eigentlichen Konfliktparteien zu suchen. Hizbollah, Hamas, Iran und die Taliban sind von den Gesprächen ausgeschlossen. Mit dieser Seite redet man nicht, weil sie böse Terroristen sind. Und hofft gleichzeitig, dass Gespräche etwas bringen mit anderen, die nicht beteiligt sind. Bin Laden ist ein anderes Kapitel, dort bringen Gespräche nichts.
Wird ein Präsidentenwechsel in den USA aussenpolitisch viel verändern?
Barack Obama hat angekündigt, dass er mit den Iranern bedingungslos reden will. Das wäre sicher etwas Neues, umgekehrt wird die Hürde der Zustimmung des Kongresses aber bestehen bleiben.
Wie ist das eigentlich, lebenslang als Diplomat tätig zu sein? Gibts da Berufskrankheiten?
Meinen Sie Alkohol? Dieses Problem habe ich nicht, ich habe andere.
Sie müssen stets versuchen, Unvereinbarkeiten zwischen Parteien aufzuweichen - das wird wohl auch abfärben auf das private Verhalten.
Nein, ich bin privat nicht sehr diplomatisch. Viel prägender fürs Privatleben ist die Tatsache, dass einem als Diplomat mit den ständigen Ortswechseln die Biografie wie in einem Film geschnitten wird. Diese Schnitte sind schmerzhaft, weil sie soziale Beziehungen zerstören. Ist der nächste Posten nun Hanoi, Stockholm oder Dakar? In letzter Konsequenz droht grosse Beliebigkeit. Das wäre für mich inakzeptabel, darum wäre ich gerne nach Israel gegangen. Von dieser Region verstehe ich etwas. Auf einem Posten wie Paris sind hingegen andere besser.
Der rote Faden Ihrer Biografie scheint eine Art Gegenprogramm zu Samuel Huntington zu sein - nicht Kampf, sondern Versöhnung der Kulturen?
Nicht Versöhnung, sondern Verständigung, das ist nicht dasselbe. Was passiert an den Kulturgrenzen, wo ja die meisten Konflikte entstehen? Wie kommt man zu universalen Regeln der Verständigung? Ich habe selber keine Lösung, sondern nur Hinweise, in welche Richtung ein solcher Austausch führen sollte.
Sie scheinen Ihren Optimismus noch nicht verloren zu haben. Dabei führte Sie eine Ihrer ersten Missionen an einen der hoffnungslosesten Konfliktherde dieser Welt: nach Tschetschenien. Wie prägend war eigentlich dieser Einsatz für Ihre spätere diplomatische Laufbahn?
Das war das Schlüsselerlebnis meiner professionellen Biografie. Es war damals geradezu eine ideal effiziente diplomatischen Aktion: Ein Minimum an Aufwand, der uns mit viel Glück ein Maximum an Wirkung erlaubte. Wir haben heute in Kosovo fast 1000 Leute bei der OSZE-Mission und einen Jahresetat von 100 Millionen. Damit wird zwar viel geholfen, aber wir müssen schauen, dass dieser riesige Apparat punkto Administration überschaubar und rational bleibt. In Tschetschenien waren wir acht Leute, und es hat gereicht, um Wahlen zu organisieren.
Haben Sie Mühe mit grossen diplomatischen Missionen?
Ich habe dann Mühe, wenn eine grosse Bürokratie entsteht. Das kostet viel Geld, und die Erfolgskriterien sind weit weniger klar messbar als bei einem Unternehmen, das am Markt bestehen muss. Wer nicht am Markt bestehen muss, kann lange weiterwursteln, Probleme beschreiben, da und dort ein bisschen helfen, eine Dienstreise organisieren, ein Seminar veranstalten, vielleicht brauchts dann noch ein paar Assistenten mehr, ein paar Autos mehr - wenn das Budget mal bewilligt ist, schaut niemand mehr genau hin. Ich setze mich dafür ein, dass der Aufwand stets in einem vernünftigen Verhältnis zum Ertrag steht.
Was war der gefährlichste Ort, an dem Sie je waren?
Auf irgendeiner Autostrasse - Autofahren ist das gefährlichste im Leben.
Tschetschenien?
Auch das war zeitweise sehr gefährlich.
In jener Zeit, als Sie dort waren, wurde eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes entführt und umgebracht. Hatten Sie Angst?
Nein, wir waren im Gegensatz zum IKRK bewacht. Der politische Zweck des Anschlags bestand wohl darin, die Präsidentschaftswahlen zu verhindern. Die Tschetschenen haben immer gesagt, dass freie Wahlen erst möglich sind, wenn der letzte russische Soldat abgezogen wäre. Als die Russen dann tatsächlich abzogen, war dieses Argument vom Tisch.
Tim Guldimann
Tim Guldimann, 56, ist der bekannteste Schweizer Diplomat. Nach OSZE-Missionen in Tschetschenien (bis 1996) und Kroatien 1997-99 sowie als Botschafter in Iran (1999-2004), wo er auch die US-Interessen vertrat, leitet der Schweizer aktuell die OSZE-Mission in Kosovo. Er steht in dieser Funktion einer Mission von rund 900 internationalen und lokalen Mitarbeitern vor, die Wahlen organisiert, Polizisten und Journalisten ausbildet und demokratische Institutionen aufbauen hilft. Zwischendurch lehrte er als Dozent für Politologie an der Universität Frankfurt.
Das Gespräch fand in der Vorweihnachtszeit während eines Nachtessens in einem Hotel in Pristina statt. Den periodischen Stromausfall nahm der Krisendiplomat routiniert, unterbrach das Gespräch deswegen nicht. Das Aufnahmegerät funktionierte schliesslich mit Batterien, das Cheminée nebenan gab das Notlicht. Guldimann war eben zurückgekehrt aus Belgrad, wo er die serbische Regierung vom Veto gegen eine Verlängerung der OSZE-Mission in Kosovo abzubringen versucht hatte. (rs)
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