Montag, Dezember 31, 2007

Gewaltfreie Gesellschaft? NZZ-Gespräch

31. Dezember 2007, Neue Zürcher Zeitung
«Wenn wir ehrlich sind, wollen wir keine gewaltfreie Gesellschaft»
Psychiater Kiesewetter und Kriminologe Killias über Ursachen von Gewalt


Psychiater Kiesewetter und Kriminologe Killias über Ursachen von Gewalt

Verschiedene schwere Gewalttaten haben im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit beschäftigt und politische Debatten geprägt. Gewalt gehöre zur Gesellschaft und werde von uns zum Teil geradezu verherrlicht, sagen der Gerichtspsychiater Martin Kiesewetter und der Kriminologe Martin Killias. Bestimmte Strukturen machten diese Gewalt unkontrollierbar.


Verschiedene schwere Gewalttaten haben im vergangenen Jahr die Öffentlichkeit beschäftigt und politische Debatten geprägt. Gewalt gehöre zur Gesellschaft und werde von uns zum Teil geradezu verherrlicht, sagen der Gerichtspsychiater Martin Kiesewetter und der Kriminologe Martin Killias. Bestimmte Strukturen machten diese Gewalt unkontrollierbar.

Interview: fur./rib.

Herr Killias, nimmt die körperliche Gewalt in unserer Gesellschaft zu?

Martin Killias: Ja. Verschiedene Indikatoren deuten darauf hin. Bei einer Gesamtschau aller Daten zur Kriminalität zeigt sich: Bestimmte Kriminalitätsformen sind seit etwa 20 Jahren rückläufig, andere haben stark zugenommen. Laut den Polizeistatistiken stagniert die Zahl der Eigentumsdelikte oder geht zum Teil zurück, bei den Gewaltdelikten aber ist ein starker Zuwachs festzustellen. Diese Zunahme betrifft hauptsächlich Jugendliche – bei den Tätern wie auch bei den Opfern. Sogenannte Crime-Surveys, also Befragungen der Bevölkerung, bestätigen dieses Bild, ebenso die Befragungen von Jugendlichen zu begangenen Delikten. Anhand solcher Erhebungen stellen wir zudem fest, dass nicht unbedingt mehr Leute betroffen sind. Aber die Leute, die es sind, sind häufiger Opfer oder Täter als früher.

Gewalt hat in der Schweiz «Tradition»

Sind die Gewalttaten schwerer geworden?

Killias: Genau das hat sich verändert. Leute, die betroffen sind, sind es nicht nur häufiger, sondern tendenziell auch schwerer. Im Berner Inselspital haben die Einweisungen in die Notfallstation mit schweren, vorsätzlich beigebrachten Verletzungen seit 2001 sehr stark zugenommen. Das deckt sich mit anderen Daten.

Martin Kiesewetter: Die Opfer von Gewalttaten werden übrigens oft nicht als Opfer wahrgenommen, weil sie derselben kulturellen Gruppe angehören wie die Täter. Es gibt eine Subkultur, in der Gewalt zunehmend eine grosse Rolle spielt. Es geht um Auseinandersetzungen, um Machtentfaltung, um die Frage, wer sich wehren und durchsetzen kann. In dieser Subkultur sind körperliche Gewalt und Waffengewalt akzeptiert. Das sind übrigens oft Menschen, die ganz strenge Ordnungsvorstellungen haben. Ich wundere mich bei den Gewalttätern, die ich untersuche, immer wieder, mit welcher Inbrunst sie rechtsbürgerliche Positionen vertreten: Ordnung, Gesetz, Durchgreifen. Sogar in der Ausländerpolitik vertreten sie – auch wenn sie Ausländer sind – klar rechtsbürgerliche Positionen. Das birgt natürlich Gewalt.

Wie stark spielt denn die ausländische Herkunft vieler Gewalttäter eine Rolle?

Kiesewetter: Gewalt hat bei vielen Immigranten einen historischen Hintergrund. Gewalt gehört allerdings auch zum historischen Kontext der Schweizer. Wir stammen aus einer bäuerlichen Gesellschaft, in der gewalttätige Auseinandersetzung eine anerkannte Rolle spielten. Bis in die jüngste Zeit gab es zum Beispiel in verschiedenen Berner Dörfern geradezu eine entsprechende Tradition. Die Erzählungen von Jeremias Gotthelf sind voll von oft ritualisierter Gewalt. Körperliche Auseinandersetzungen, lebensgefährliche Verletzungen, Wirtshausschlägereien – das gehörte dazu. Nur haben wir heute keine gotthelfschen Wirtshäuser mehr. Die Auseinandersetzungen spielen sich in einer modernisierten Form ab. Dabei ist Gewalt nicht notwendigerweise ein Zeichen dissozialer Einstellung. Gewalt ist ein Weg, eine Haltung durchzusetzen. Wenn ich intellektuell oder wirtschaftlich etwas nicht schaffe oder nicht so privilegiert bin wie andere, ist körperliche Gewalt eine Möglichkeit.

Wo liegen die Unterschiede zwischen den früheren Wirtshausprügeleien und der heutigen Gewalt?

Kiesewetter: Ich bin mir nicht sicher, ob die Unterschiede enorm gross sind. Eines ist aber klar: Die Gewalttäter nehmen die sie umgebende Welt als eine Welt voller Aggressionen war. Es gibt niemanden, der die Welt als so aggressiv erlebt wie der Aggressive. Ständig fühlt er sich bedroht. Alle erlebt er sich selber gegenüber als feindselig. Man will ihn fertigmachen, man will ihm etwas verweigern; er kann den Menschen nicht vertrauen. Und dagegen muss er sich wehren. Aggressive Leute sagen immer: «Ich bin doch nicht aggressiv, die anderen sind aggressiv.» Sie glauben, dass sie selbst nur auf eine feindliche und bösartige Umwelt reagieren. Da stellt sich natürlich die Frage, wie strukturell gewalttätig die Gesellschaft eigentlich ist, gegen die sie sich wehren wollen. Also: Stellen schlechte schulische und berufliche Chancen auch strukturelle Gewalt dar?

Killias: Natürlich gab es früher schon Schlägereien, aber ich wehre mich dagegen, so zu tun, als sei alles schon immer so gewesen. Manche Politiker sind ja geradezu süchtig nach Daten, die nahelegen, dass die Gewalt angeblich nicht zunimmt und alles nur eine Medienhysterie ist. Der Grund dafür ist klar: Wenn man sich sagen kann, Gewalt habe es schon immer gegeben, hat man als Politiker nichts zu hinterfragen. Wenn wir aber Trends nicht mehr leugnen, kann man der Frage nicht ausweichen, was man tun müsste.
«Manche von diesen Leute sind »

Sie sprachen von Gewalt als Reaktion auf Bedrohung. Kann jeder Mensch gewalttätig reagieren?

Kiesewetter: Natürlich gibt es lebensgeschichtliche und genetische Voraussetzungen für Aggressivität. Aber an sich kann jeder Mensch gewalttätig werden. Die Schicht, die über der Gewaltbereitschaft liegt, ist oft sehr dünn. Die Vorstellung «Den möchte ich am liebsten . . .» hatte ja jeder schon einmal. Das tut man natürlich nicht. Die Selbstkontrolle ist ja da. Doch manchmal ist die Selbstkontrolle eben doch nicht da. Das sieht man bei Gewalttaten von Leuten, die ihr Leben lang nie gewalttätig waren. Amokläufer etwa zeichnen sich oft durch zuvor fehlende Gewalttätigkeit, durch Aggressionshemmungen aus. Viele Gewalttäter, die ich untersuche, sind aggressionsgehemmt. Eine Aggression ist da. Und wenn man die Bremse loslässt, ist die Gewalt ungehemmt.

Gibt es bei uns zu wenig Möglichkeiten, Gewalt in gesellschaftlich akzeptiertem Rahmen auszuleben?

Kiesewetter: Früher haben sich Gruppen oder Vereine zum Beispiel an Schützenfesten geprügelt. Heute gehen viele Jugendliche nicht mehr in Vereine; sie bilden Gangs und gehen aufeinander los. Und das ist bei diesen Leuten weitgehend anerkannt; die Gewalt findet meist innerhalb dieser Gruppen statt. Da uns diese Gewalt über die Medien vermittelt wird, denken wir, wir seien persönlich betroffen. Die Gewalt in diesen Gruppen bedroht uns aber verhältnismässig wenig.

Killias: Die Umgebung prägt dieses Verhalten übrigens stark. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen den Quartieren, in denen die Kinder aufwachsen, und ihrem späteren Verhalten. Wenn man in einem Umfeld voll illegaler Gelegenheiten aufwächst, entstehen Motivationen, die in anderer Umgebung nie entstanden wären.

Kiesewetter: Es gibt Gruppen von Jugendlichen, deren Ausbildung nicht mehr reicht für einen qualifizierten Job. Und wer auf dem Bauch landet, sucht eine Möglichkeit, um wieder Selbstbewusstsein zu gewinnen. Wir hatten beispielsweise Einreisebestimmungen, die Gastarbeiterkinder dazu verurteilten, erst im Jugendalter in die Schweiz zu kommen. Ihre Berufschancen sind gering. Wir haben also politische Entscheidungen getroffen, die in bestimmten Bereichen einen Anstieg von Gewalt zur Folge haben. Wenn ich eine Entscheidung treffe, die eine Gruppe – Schweizer oder Ausländer – daran hindert, erfolgreich zu sein, dann muss ich wissen, dass ich eine Quelle erhöhter Gewaltbereitschaft schaffe. Manche von diesen jungen Leuten sind im Grunde «nichts». Sie scheinen uns verzichtbar. Sie sind uns egal. Und das wissen sie. Auch mein Selbstbewusstsein wäre auf dem Nullpunkt, wenn ich das Gefühl hätte, ich sei für alle ganz überflüssig.

«Wir fordern die ganze Zeit Gewalt»

Ist eine gewaltfreie Gesellschaft überhaupt möglich?

Kiesewetter: Wenn wir ehrlich sind, wollen wir keine gewaltfreie Gesellschaft. Wir fordern die ganze Zeit Gewalt. Wir fordern Durchsetzungsstärke, eine klare Haltung, die aggressive Führung eines Betriebes: Das sind lauter gewalttätige Vorstellungen über eine funktionierende Gesellschaft. Wir dürfen nur nicht körperlich gewalttätig werden. Wir können es uns auch nicht leisten, körperliche Gewalt ins Negative zu schieben, weil wir dann keinen Platz mehr hätten für unseren Körperkult. Auch die Werbung lebt ja zum Teil von aggressivem und imponierendem Auftreten. Im Grunde verherrlichen wir Gewalt.

Killias: Eine Gesellschaft ohne Kriminalität und Gewalt wird es nie geben. Das heisst aber nicht, dass es immer gleich viel Gewalt gegeben hat oder geben muss. Gewalttaten haben zudem auch Folgen für die Täter. Gerät jemand auf die schiefe Bahn, führt das meist zu massiver Beeinträchtigung von Lebenschancen. Wenn jemand zum Problem wird für die Kameraden, die Lehrer und schliesslich für die weitere Öffentlichkeit, dann sind Berufs- und Ausbildungschancen stark beschnitten. Es droht eine lebenslange Abhängigkeit vom Staat. Prävention liegt deshalb nicht nur im Interesse der Opfer und der Öffentlichkeit.

Welche Rolle spielt Gewalt in Medien und Videospielen als Ursache von Gewalttaten?

Killias: Es gibt viele Studien, die einen engen Zusammenhang zwischen Gewalt in Medien und Computerspielen und tatsächlichen Gewalttaten nahelegen. Offen bleibt die Frage nach dem Kausalzusammenhang. Um diesen Beweis zu erbringen, müsste man etwa einer Gruppe zehnjähriger Kinder regelmässig Gewaltfilme oder solche Videospiele vorsetzen, wogegen eine andere Gruppe Harmloses zu sehen bekäme. Nach ein paar Jahren würde man messen, ob sich das Verhalten der beiden Gruppen unterscheidet. Ein solches Experiment wäre theoretisch sauber, ethisch aber nicht machbar, weil eine Gruppe womöglich geschädigt würde. Man muss sich daher mit Plausibilitäten begnügen. So setzt etwa der Anstieg von Gewalt in Europa Ende der achtziger Jahre ein, als die Videogeräte und Computer in die Haushalte kamen. Ab dann verloren die Eltern die Kontrolle über den Medienkonsum ihrer Kinder.
Gewalt in Medien verschwinden lassen

Kann man den Konsum von Gewalt in den Medien überhaupt verhindern?

Killias: Das wäre wünschbar. Ich sehe nicht ein, weshalb es nicht möglich sein sollte, die Gewalt in den Medien zum Verschwinden zu bringen. Ich bin überzeugt, dass es in ein paar Jahren eine technische Lösung gibt, um den Zugang zu Gewalt in den Medien effizient zu verhindern.

Wie die Armeewaffe, die Sie im Zeughaus lagern wollen. Verhindern wir damit auch Gewalttaten?

Killias: Ich bin kein Pazifist. Die Armeewaffe zu Hause hatte einmal die Funktion, eine rasche Mobilmachung zu ermöglichen. Wenn es eine grosse Bedrohung von aussen gäbe, dann müsste man wohl ein paar Tote durch den Missbrauch der Waffe in Kauf nehmen. Heute aber bringt dieses System nur noch Nachteile.

Kiesewetter: Die Lagerung der Armeewaffe im Zeughaus würde eine Gruppe von Gewalttätern betreffen, über die wir noch nicht gesprochen haben: die Angepassten und Anständigen, die zu Hause in einer Streitsituation zur Waffe greifen. Taten mit der Armeewaffe sind affektiv geprägte Handlungen im engsten sozialen Raum. Es sind Situationen momentaner Ausweglosigkeit oder überschäumender Wut. Deshalb ist es töricht zu sagen, die Täter nähmen eine andere Waffe, wenn die Armeewaffe nicht greifbar wäre. Oft nähmen sie nichts anderes, nicht einmal ein Küchenmesser: Es ist ein riesiger Unterschied, ob man mit einem Messer auf jemanden einsticht oder ihn mit der Schusswaffe hinrichtet.

Ist es sinnvoll, mehr Repression im Sinne von härteren Strafen gegen Gewalttäter auszusprechen?

Killias: Es wird immer gesagt, es sei wissenschaftlich bewiesen, dass schärfere Strafen nichts brächten. Das stimmt so nicht. Natürlich: Wenn man fünf Jahre statt zwei Jahre Gefängnis aussprechen kann, bringt das nicht viel. Wenn aber eine Tat vorher keine Sanktionen nach sich zog und dann plötzlich doch, macht das einen Unterschied. Wir haben im Jugendstrafrecht ein Problem, nämlich dass es für Jugendliche unter 15 Jahren bei schweren Verbrechen keine glaubwürdige Sanktion vorsieht. Freiheitsentzug ist grundsätzlich nur in ganz bescheidenem Rahmen erst ab 15 und im eigentlichen Sinne erst ab 16 Jahren möglich. Dieser Nulltarif bei Sanktionen bis zum Alter von 15 Jahren ist das Problem.

Kiesewetter: Das Jugendstrafrecht ist vor allem ein Massnahmenstrafrecht. Es ist von der Idee getragen, dem jungen Täter in seiner Bedürftigkeit gerecht zu werden. Im Mittelpunkt stehen Erziehung, Förderung, Hilfe und auch Beratung für die Eltern. Dafür leuchtet man sein Umfeld aus. Das ist ein sehr guter Ansatz, nur braucht das Zeit. Und das Problem ist, dass bei jugendlichen Straftätern meistens lange keine Entscheidungen gefällt werden. Die Tat hat keine sofortigen Konsequenzen. Ein Fehlverhalten muss aber sofort sanktioniert werden. Die Jugendlichen müssen spüren, dass ihr Verhalten missbilligt wird.

Zur Person

Martin Kiesewetter ist Leitender Arzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, Leiter des Forensisch-Psychiatrischen Dienstes und ist als Gutachter – u. a. von Gewalttätern – tätig.

Martin Killias ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie am rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich und Co-Direktor des Kriminologischen Instituts.

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