13. September 2008, Neue Zürcher Zeitung
Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa
Pläne eines präemptiven Kriegs im Spiegel freigegebener Ostblock-Dokumente
Jahrzehntelang verfügte der Westen nur über bruchstückhafte Erkenntnisse über die Kriegsplanung des Warschaupakts. Erst jetzt beginnt sich die Lage zu ändern. Früher geheime Quellen werden zugänglich
13. September 2008, Neue Zürcher Zeitung
Warschaupakt plante nuklearen Überfall auf Westeuropa
Pläne eines präemptiven Kriegs im Spiegel freigegebener Ostblock-Dokumente
Jahrzehntelang verfügte der Westen nur über bruchstückhafte Erkenntnisse über die Kriegsplanung des Warschaupakts. Erst jetzt beginnt sich die Lage zu ändern. Früher geheime Quellen werden zugänhlich
Von Hans Rühle und Michael Rühle*
Jahrzehntelang verfügte der Westen nur über bruchstückhafte Erkenntnisse über die Kriegsplanung des Warschaupakts. Zwar gelangten im Zuge der deutschen Wiedervereinigung gegen 25 000 Dokumente der Nationalen Volksarmee (NVA) der DDR in den Besitz des deutschen Verteidigungsministers, aus denen sich die operative Planung mit hoher Genauigkeit ableiten liess. Das Fehlen der konkreten Kriegspläne relativierte jedoch alle Aussagen über die militärischen Planungen des östlichen Bündnisses.
Geheime Quellen werden zugänglich
Erst jetzt beginnt sich die Lage zu ändern. Während Russland jede Einsicht in einschlägige Dokumente noch verweigert, haben andere osteuropäische Staaten Unterlagen freigegeben, aus denen sich die Kriegsplanung des Warschaupakts, die de facto eine sowjetische war, erschliessen lässt. So wartet der tschechische Historiker Petr Lunak, dessen vielbeachtetes Buch über die tschechoslowakische Kriegsplanung von 1950 bis 1990 demnächst in einer englischen Übersetzung erscheinen wird, mit zahlreichen neuen Erkenntnissen auf. Dabei ist die von Lunak korrekterweise vorgenommene Einschränkung auf tschechoslowakische Pläne richtig und wichtig, die Dokumente geben jedoch so umfassend Einblick in den militärischen Gesamtkontext, dass alles Übrige mühelos erschlossen werden kann.
Die Quellenlage dürfte sich weiter verbessern, wenn die rund 1700 Dokumente, die die polnische Regierung zur wissenschaftlichen Auswertung freigegeben hat, übersetzt sein werden. Hinzu kommt, dass die echten Kriegspläne vielfach dicht an den Übungsszenarien liegen, die dem Westen in Ostberlin in die Hände gefallen waren. Die wichtigste Erkenntnis aus diesen Dokumenten: Der Warschaupakt plante bis in die späte Hälfte der achtziger Jahre einen präventiven, regional begrenzten Nuklearkrieg in Europa. Das östliche Militärbündnis hätte den Krieg nicht konventionell eröffnet, sondern nuklear – und dies so frühzeitig, dass die eigene Aussage von einem präemptiven Verteidigungskrieg (d. h. einem Angriff in die laufenden Kriegsvorbereitungen der Nato hinein) ad absurdum geführt worden wäre.
Vorbeugender Einsatz der Kernwaffen
Auf den ersten Blick widerspricht ein solches Ergebnis allen Erwartungen. Gingen nicht alle Annahmen der Nato von einem Angriff des Warschaupakts mit konventionellen Streitkräften aus, die rasch nach Westen vorstossen, die nukleare Infrastruktur der Nato zerstören und damit die nukleare Ersteinsatzoption der Allianz unterlaufen könnten? Und war dies nicht der Grund für die wachsende Bedeutung, die man den konventionellen Kräften des Westens zubilligte?
Die Antworten auf diese Fragen ergeben sich, wenn man sich vorbehaltlos auf das militärstrategische Kalkül der Sowjetunion einlässt, wie es sich aus den Kriegsplänen ergibt. Dann wird nicht nur deutlich, dass die Strategie eines präventiven, also unprovozierten nuklearen Überraschungsangriffs aus sowjetischer Sicht durchaus rational war; man erkennt auch, dass die Ideologie die militärische Planung weitaus stärker beeinflusste, als man im Westen glaubte.
Der präemptive Krieg war schon früh in der sowjetischen Strategie etabliert. Diese sah auch die Möglichkeit vor, ihn von Anfang an auf gegnerischem Territorium auszutragen. Die entscheidende Wende in der Kriegsplanung des Warschauer Pakts vollzog sich jedoch zu Beginn der sechziger Jahre mit der nuklearen Revolution in der sowjetischen Militärstrategie. Nukleare Gefechtsfeldwaffen galten nun als die moderne Artillerie, mit der man sich den Weg durch die feindlichen Kräfte freischiessen würde. Zwar zeigte die Kubakrise von 1962, dass ein strategisch-nuklearer Schlagabtausch zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion nicht beherrschbar wäre. Für möglich hielt man aber einen begrenzten Nuklearkrieg in Europa, der natürlich ebenfalls präemptiv hätte geführt werden müssen.
Dem Gegner zuvorkommen
Diese Überzeugung, verbunden mit dem seit Stalin für die sowjetische Militärstrategie konstitutiven Prinzip, einen künftigen Krieg durch frühzeitige Reaktion auf kriegsvorbereitende Massnahmen des Gegners selbst auszulösen, verdichtete sich zunächst zu einer konsequenten Planung eines nuklearen Präemptivkriegs. Einige Verbündete der Sowjetunion vermuteten daher schon damals, dass die Planer in Moskau ein Grossmanöver der Nato zum Anlass nehmen würden, präemptiv aktiv zu werden und auch massive Nuklearschläge gegen Ziele in Westeuropa auszulösen.
Die Grossübung «Buria» von 1961 spiegelt diesen Ansatz beispielhaft wider. Wie sich aus einem Sprechzettel des DDR-Verteidigungsministers Hoffmann ergibt, signalisierten konkrete Erkenntnisse der Aufklärung, dass der Westen den Krieg am 6. Oktober um 12 Uhr 08 beginnen würde. Dies «beantwortete» der Osten mit einem präemptiven nuklearen Erstschlag bereits um 12 Uhr 05 Uhr, also drei Minuten früher. Dabei sollten 422 nukleare Gefechtsköpfe allein auf westdeutschem Territorium detonieren.
Doch auch dabei sollte es nicht bleiben. Bereits die gut dokumentierte Planung von 1964 zeigt eindeutig den Übergang zum begrenzten präventiven Nuklearkrieg in Europa. Zwar deutet das Dokument die Möglichkeit eines westlichen Überraschungsangriffs unter Einsatz nuklearer Waffen an. Die Tatsache jedoch, dass in der konkreten Kriegsplanung davon nicht die Rede ist und auch keinerlei Folgewirkungen beschrieben werden, sagt alles. Einmal mehr zeichneten die sowjetischen Planer die westliche «Aggression» als so hoffnungslos dilettantisch, dass sie grenznah gestoppt werden konnte und keinen Einfluss auf die weitere Kriegsführungsfähigkeit des Warschaupakts hatte.
Nur so war eine Planung möglich, bei der der Warschaupakt nach Abwehr einer Aggression der Nato sofort mit allen nuklearen Angriffsmitteln und kampffähigen konventionellen Streitkräften zum nuklearen und konventionellen Grossangriff in Richtung Westeuropa übergehen konnte. Die Annahme eines westlichen Überraschungsangriffs war also nie mehr als eine schlecht erdachte Fiktion. Tatsächlich geübt wurde offensive Landkriegführung in Westeuropa.
Hätte die Nato noch reagieren können?
Der Krieg würde also mit einem nuklearen Überraschungsschlag gegen Ziele in Westeuropa beginnen, um die Nato nuklear zu entwaffnen und konventionell entscheidend zu schwächen. Der anschliessende Kriegsverlauf sah eine schnelle Westbewegung der eigenen Truppen vor, die nur erreicht werden konnte, wenn kein ernsthafter Widerstand mehr gebrochen werden musste.
Daneben aber gab es immer eine Alternative zum möglichen Kriegsverlauf. Wie Prof. Tsygichko, der zwischen 1962 und 1971 an der Erarbeitung der Kriegspläne in Moskau mitgewirkt hatte, jüngst erklärte, bestand ernsthaft die Aussicht, dass der Feind nach einem präventiven Nuklearschlag kapitulieren würde. Diese Möglichkeit bestand durchaus. Wie westdeutsche Spitzenmilitärs Anfang der sechziger Jahre in einer vertraulichen Analyse feststellten, würde nach einem massiven Nuklearschlag des Warschaupakts die Aufnahme von zusammenhängenden, geordneten Verteidigungsoperationen auf westdeutschem Territorium nicht mehr möglich sein.
Warum also sollte der Warschaupakt in einem Krieg bis zum nuklearen Ersteinsatz der Nato warten, wenn doch die Möglichkeit bestand, durch den frühzeitigen eigenen nuklearen Ersteinsatz die Nato zumindest teilweise nuklear zu entwaffnen? Warum sollte der Warschaupakt trotz konventioneller Überlegenheit überhaupt einen konventionellen Beginn des Krieges planen, wenn durch einen in jedem Falle notwendigen Kernwaffeneinsatz der Nato der Krieg ohnehin ein nuklearer werden würde?
Der Präventivkrieg bereitete keine Rechtfertigungsprobleme. Auch er war per definitionem ein Verteidigungskrieg. Natürlich würde der massive Einsatz von Nuklearwaffen Teile Westeuropas verwüsten. Doch der Sowjetunion ging es ohnehin nicht in erster Linie um die Besetzung möglichst unversehrten Territoriums, sondern zuerst und vor allem um die Zerschlagung des militärischen und politischen Gegners. Diese ideologisch geprägte Sicht erklärt zugleich, weshalb politische Entwicklungen wie die Entspannung keinen Einfluss auf die Kriegsplanung hatten. Nicht wenige hielten sie ohnehin für eine Finte des Westens.
Am 9. Tag in Lyon
Wie man sich den Krieg gegen die Nato konkret vorstellte, lässt sich zurzeit im Detail nur für den Gefechtsstreifen der durch sowjetische Verbände verstärkten tschechoslowakischen Armee illustrieren. Dieser umfasste grosse Teile Bayerns, Baden-Württemberg bis zur Schweizer Grenze und weiter beiderseits der Achse Strassburg–Epinal–Dijon–Langres–Besançon–Lyon. Für den nuklearen Überraschungsschlag waren 131 Nuklearwaffen vorgesehen, davon 41, um die zwischen der tschechoslowakischen Grenze und der Linie Würzburg–Erlangen–Regensburg–Landshut stationierten Nato-Truppen zu zerschlagen. Die restlichen 90 Nuklearwaffen hatten zwei weitere Ziele: die nuklearen Angriffsmittel und die Führungszentren der amerikanischen 7. Armee. Abhängig von der konkreten Lageentwicklung war ein weiterer Einsatz von knapp 100 Nuklearwaffen vorgesehen, um die strategischen und operativen Reserven der Nato entscheidend zu schwächen und bisher nicht erkannte nukleare Angriffsmittel zu zerstören. Am 7. oder 8. Tag hätten die Streitkräfte des Warschaupakts den Rhein überschritten und den Raum Langres - Besançon erreicht, am 9. Tag Lyon.
Überträgt man die Planungen für die «Stossgruppe Bayern» auf den Norden und legt die Erkenntnisse aus Übungsunterlagen des Warschaupakts zugrunde, die die ostdeutsche Armee vor ihrer Auflösung nicht mehr vernichten konnte, so dürften die Annahmen über die Stossgruppen 1 bis 3 der Realität ziemlich nahe kommen. Danach waren für den Zielraum Schleswig-Holstein 62, für Ostniedersachsen 115 und für den Zielraum Nordkassel 175 Nuklearwaffeneinsätze vorgesehen. Diese Zahlen stammen ausschliesslich aus Übungen, die in den achtziger Jahren durchgeführt wurden. Damit ist zugleich festgestellt, dass sich die tatsächliche Kriegsplanung nach 1964 nicht wesentlich veränderte.
Zwar wurde in Übungen und Manövern ausschliesslich und facettenreich die offensive Landkriegführung in Westeuropa nach einem nuklearen Ersteinsatz durchgespielt; die scheinbare Tendenz zur Annahme einer längeren konventionellen Phase im künftigen europäischen Kriegsgeschehen hatte jedoch nur insoweit mit der planerischen Realität zu tun, als schlicht das geübt wurde, was sinnvollerweise geübt werden konnte: die zweite Phase eines nuklear begonnenen Krieges. Petr Lunak stellt fest: «. . . bis zu Gorbatschews strategischer Revolution setzte der Warschaupakt seine bizarre Planung fort, einen Nuklearkrieg in Europa zu führen und zu gewinnen . . .»
Mehr noch. Zwischen 1975 und 1988 häuften sich die Forderungen der sowjetischen Militärführung, einer technologischen Überlegenheit des Westens militärisch zuvorzukommen. Im September 1982 verglich Marschall Ogarkow anlässlich des Treffens der Generalstabschefs des Warschaupakts die politische Situation mit der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In Wirklichkeit hätten die USA der Sowjetunion und deren Verbündeten den Krieg bereits erklärt. Allen Anwesenden war klar, was gemeint war und was möglicherweise bevorstand.
Gorbatschew setzt dem Spuk ein Ende
Die Wende kam erst mit Gorbatschew im Laufe des Jahres 1986. In dessen Beisein sagte der polnische Staatspräsident Jaruzelski: «Niemand soll glauben, dass man in einem Nuklearkrieg nach fünf oder sechs Tagen in Paris eine Tasse Kaffee schlürfen kann.» Die Kriegspläne wurden geändert. Einzig die DDR arbeitete auf alter Grundlage weiter. Noch in der Übung «Stabstraining 1989» plante sie die Verwüstung grenznaher Landstriche Schleswig-Holsteins durch 76 teilweise grosskalibrige Nuklearwaffen.
Natürlich erkannten die Nato-Planer schon frühzeitig, dass es wahrscheinlich zu einem nuklearen Ersteinsatz durch den Warschaupakt kommen würde. Doch welche Alternative hatte die Nato? Eine Eskalation hätte die Perspektive eines unkalkulierbaren nuklearen Schlagabtausches in Mitteleuropa bedeutet – ein Szenario, das in den Nato-Staaten zu keiner Zeit vermittelbar war.
Angesichts dieser Fakten verwundert es nicht, wenn manche ehemalige Offiziere des Warschaupakts das tradierte Bild von der reinen Verteidigungsplanung des östlichen Bündnisses um jeden Preis zu bewahren versuchen. Doch ihr Ansatz, unter Hinweis auf die zahlreichen Nuklearwaffen der Nato eine Parallelität der Planungen von Ost und West zu postulieren, überzeugt nicht. Wie ein ehemaliger ostdeutscher Offizier sichtlich enttäuscht feststellt, gibt es bis heute keinerlei Hinweise auf die Existenz klassischer Aggressionsplanungen der Nato. Es wäre auch seltsam, wenn es sie gäbe. Denn dann hätte die atlantische Allianz wohl kaum jahrzehntelang ausschliesslich die Defensive geübt, während der Warschaupakt unentwegt Offensivoperationen einstudierte. An dem Versuch, diesen Sachverhalt umzudeuten, scheitern selbst die talentiertesten Dialektiker.
* Hans Rühle ist ehemaliger Chef des Planungsstabes im Bonner Verteidigungsministerium; Michael Rühle leitet den Planungsstab in der politischen Abteilung der Nato in Brüssel.
Kommtentare zum Artikel gibt es auch auf der NZZ Seite
1 Kommentar:
Nun haben wir die einzige glaubwüdige Quelle, unser bewährtes Propagandasystem, das uns alle die sowjetischen Geheimnisse bringt.
Ich kann mich nicht erwähren dem Chomsky:
"5- Sprich zur Masse, wie zu kleinen Kindern"
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