Dienstag, November 03, 2009

NZZ: Drogenkrieg in Mexico - «Fürchte den Tod nicht»

2. November 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Fürchte den Tod nicht»

Der «Drogenkrieg» in Mexiko wird befeuert durch eine Kultur des schnellen Geldes und des Draufgängertums
Der «Drogenkrieg», der in Mexiko seit einigen Jahren tobt, ist mehr als ein Kräftemessen zwischen dem Staat und den Kartellen. Er ist Blüte einer Kultur der Aussenseiter und Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krise.

Alex Gertschen berichtet für die NZZ regelmässig aus Mexiko.

Apatzingán ist eine mexikanische Kleinstadt wie viele andere. Das Leben gehorcht dem trägen Rhythmus, den die brennende Sonne zulässt. Selbst in der zu Ende gehenden Regenzeit kühlt sich die Luft tagsüber nur unmerklich ab, weshalb das Gebiet, dessen Zentrum Apatzingán ist, Tierra Caliente genannt wird: heisses Land. Erst die frische, von der Sierra Madre hinunter wehende Abendluft bringt Leben ins Städtchen. Protzige amerikanische Grossraumwagen halten Einzug und drehen um den Hauptplatz herum gemächlich ihre Runden. Glänzend polierte Pick-ups folgen, aus deren aufgepflanzten Lautsprechern «música norteña» schallt. Apatzingán, im Gliedstaat Michoacán gelegen, gehört nicht zum Norden Mexikos, doch der...


2. November 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Fürchte den Tod nicht»

Der «Drogenkrieg» in Mexiko wird befeuert durch eine Kultur des schnellen Geldes und des Draufgängertums
Der «Drogenkrieg», der in Mexiko seit einigen Jahren tobt, ist mehr als ein Kräftemessen zwischen dem Staat und den Kartellen. Er ist Blüte einer Kultur der Aussenseiter und Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krise.

Alex Gertschen berichtet für die NZZ regelmässig aus Mexiko.

Apatzingán ist eine mexikanische Kleinstadt wie viele andere. Das Leben gehorcht dem trägen Rhythmus, den die brennende Sonne zulässt. Selbst in der zu Ende gehenden Regenzeit kühlt sich die Luft tagsüber nur unmerklich ab, weshalb das Gebiet, dessen Zentrum Apatzingán ist, Tierra Caliente genannt wird: heisses Land. Erst die frische, von der Sierra Madre hinunter wehende Abendluft bringt Leben ins Städtchen. Protzige amerikanische Grossraumwagen halten Einzug und drehen um den Hauptplatz herum gemächlich ihre Runden. Glänzend polierte Pick-ups folgen, aus deren aufgepflanzten Lautsprechern «música norteña» schallt. Apatzingán, im Gliedstaat Michoacán gelegen, gehört nicht zum Norden Mexikos, doch der dort geborene Musikstil ist im ganzen Land beliebt, insbesondere in Milieus, wo auch der Drogenhandel beheimatet ist.

Die Mädchen wollen einen «narco»

Drogenhandel heisst auf Spanisch «narcotráfico». Ein «narco» ist ein Mann, der im weitesten Sinne mit Drogen Geld verdient – ein Schmuggler, ein Berufsmörder, ein Informant, ein korrupter Polizist in Diensten eines Kartells. Frauen tauchen in der machistischen Welt des Drogenhandels selten auf. Im Gegensatz zu den Konsumländern, wo das «Drogenmilieu» sich auf die Verbraucher bezieht, sind in Mexiko die Träger der «narcocultura» und die Helden des «narcocorrido» (Drogenballade) auf der anderen Seite der Produktionskette zu finden. Während in Europa oder den USA die Drogenkultur negativ konnotiert ist, sind die «narcos» in gewissen Teilen Mexikos zu gesellschaftlichen Idolen geworden.

Am Autokorso in Apatzingán lässt sich unschwer erkennen, weshalb dem so ist. Nur ein «narco» kann sich eine dieser Nobelkarossen leisten, die im ärmlichen Nest wie von einem anderen Stern wirken. Pfarrer Andrés Larios sagt, noch vor fünfzehn Jahren sei es beschämend gewesen, wenn der eigene Vater sein Geld mit Drogen verdient habe. «Heute erfüllt es die Kinder mit Stolz. Und die Mädchen wollen natürlich mit einem Burschen aus einer -Familie ausgehen, weil der viel Geld hat.» Der 34-jährige Larios stammt aus dem nahe gelegenen Dorf Tepacaltepec. Jedes Kind der Tierra Caliente wächst wenn nicht im, so neben dem Drogenhandel auf. Marihuana wird in der abgeschiedenen Gegend seit Jahrzehnten angebaut.

Der Anthropologe Carlos Tapia sagt, der Drogenhandel sei historisch die zweite Antwort auf die bittere Armut in der Region gewesen. In den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hätten die ersten grossen Auswanderungen in die USA stattgefunden. Zurückgeflossen seien nicht nur Rimessen, sondern auch das Wissen von der dortigen Drogennachfrage. Neben Migrations- hätten sich Drogenhandels-Netzwerke etabliert. «Eine Frage von Recht und Unrecht war der Drogenhandel jedoch nie», sagt Tapia. Er sei eine Frage des Überlebens gewesen.

Einen auf dicke Hose machen

Eine Frage des Überlebens ist das Geschäft auch heute noch. Als Präsident Calderón im Dezember 2006 die Bekämpfung der sieben grossen Kartelle aufnahm, setzte er zugleich zwischen und innerhalb von diesen einen Konflikt um die nun in Bewegung geratene Transitlandschaft frei. Wurde ein Capo festgenommen, witterten eine Vielzahl von Untergebenen ihre Chance auf den Platz an der Sonne, ganz zu schweigen von den rivalisierenden Kartellen. Seither ergiesst sich eine Kaskade von Mord und Totschlag über Mexiko, die über 12 000 Menschenleben mit sich gerissen hat. Im Rückblick waren die ersten Enthauptungen und andere Verstümmelungen im Sommer und Herbst 2006 blosse Vorboten der Gewaltorgie.

Pfarrer Larios schüttelt den Kopf und sagt mit traurigen Augen, der Mord an einem Menschen empöre niemanden mehr. «Wir haben uns ans Blut gewöhnt. Menschen werden wie Tiere geschlachtet.» Die Leichtigkeit des Tötens und Sterbens besingt die Band Los Tucanes de Tijuana in einer ihrer Drogenballaden: «Fürchte den Tod nicht // Er ist nichts als natürlich // Wir werden geboren, um zu sterben // Und auch um zu töten // Sagt bloss nicht // Ihr hättet noch nie ein Tier getötet.»

Isaac Reyes arbeitet seit über zwanzig Jahren als Journalist in Michoacán. Er beschreibt die Tierra Caliente als raue Gegend, in der ein Menschenleben schon immer unsicher gewesen, der Finger stets rasch am Abzug ist. Eine Waffe trägt hier jeder, der sich als ganzer Mann sieht. Nur wenn es darum gehe, die Waffe ins Festzelt zu schmuggeln, werde sie kurz der weiblichen Begleitung abgegeben, sagt Reyes. Denn wie beim Autokorso geht es im Festzelt ums Prahlen, sei es mit dem brillantbestückten Revolver (den haben nur die ganz grossen «Arschlöcher», wie sie in der Tierra Caliente anerkennend gerufen werden), sei es mit der schweren goldenen Halskette oder der hübschen jungen Dame an der Seite.

Auch Mörder haben Werte

Diese Kultur der Aufschneider ist eine Kultur der schnellen Aufsteiger. In seiner wissenschaftlichen Arbeit über die Institutionalisierung der «narcocultura» im Gliedstaat Sinaloa beschreibt Alan Sánchez, wie diese Kultur in einer marginalisierten ländlichen Gegend entstanden und von den verwahrlosten Massen in den Städten angenommen worden ist. Als die neureichen Landeier, und das waren die «narcos» bis dahin fast ausschliesslich, in den siebziger Jahren in der Hauptstadt Culiacán aufgetaucht seien, habe die breite Bevölkerung sie wie «Heilande» wahrgenommen. Indem die «einfachen Leute» Werte und Bräuche der «narcos» übernahmen, befreiten sie sich zumindest symbolisch von ihrem trostlosen Schicksal.

Die Idee, dass der Drogenhandel eine soziale Verpflichtung hat, ist seither integraler Bestandteil der «narcocultura» geworden. Aus diesem Antrieb und aus kaltem Kalkül sind Drogengelder in den Bau von Strassen, Schulen oder Bewässerungsanlagen geflossen; für die berüchtigten Spenden an die Kirche hat sich der sonderbare Begriff der «narcolimosnas» (Drogenalmosen) eingebürgert. Als Andrés Larios in seiner ersten Pfarrei unweit von Apatzingán eines Sonntags den Drogenhandel geisselte, mahnten ihn einige Kirchengänger nach der Messe, er solle über alles Mögliche, nur nicht darüber sprechen. «Das ganze Dorf ist im Geschäft. Wir geben den Leuten Arbeit», sagten sie stolz. Wegen massiver Drohungen verliess Larios schliesslich die Pfarrei.

Der «Drogenkrieg» ist also nicht Abbild einer entmenschlichten oder nihilistischen Welt. Der Boden, auf dem er tobt, ist durchtränkt von Werten. Apatzingán ist die Hochburg eines Kartells, das sich «La Familia Michoacana» nennt. Einer seiner zwei Capos hat für seine Anhänger eine religiöse Heilsschrift verfasst, die auf Kongressen oder in Drogenentzugskliniken verbreitet wird. Seither behaupten die Mörder der Familia auf beschrifteten Leinentüchern, die sie neben ihren geköpften Opfern hinterlassen, ihr Werk diene der «göttlichen Gerechtigkeit».

Der Intellektuelle Sealtiel Alatriste, Kulturbeauftragter der Nationalen Autonomen Universität, spricht von einer Perversion der Werte, deren Ausgangspunkt sei, dass niemand das Geschäft lebend verlassen könne. «Der betet zu seinem Schutzheiligen, damit er ihm und nicht dem Feind beisteht. Denn entweder stirbt jener oder er.» Weshalb sich aber dem tödlichen Spiel überhaupt aussetzen? Alatriste sagt, in Mexiko werde wie in der übrigen Welt das Materielle zunehmend über alle anderen Werte erhöht. Obwohl in der Tierra Caliente niemand an Hunger stirbt, hat Pfarrer Larios beobachtet, «dass die Menschen heute mehr Angst vor der Armut als vor dem Tod haben». Die «narcos» lebten lieber ein Jahr in Saus und Braus als mit dreissig, vierzig in der Misere.

Der teuflische Pakt

Diese Logik treibt den mörderischen Wettbewerb an, der Mexiko seit fast drei Jahren in Atem hält. Präsident Calderón hat ihn nur auf den ersten Blick in Gang gesetzt. Seine Vorgänger hatten den Drogenhandel verwaltet. Indem sie den Kartellen bestimmte Territorien zuteilten, konnten diese unter Wahrung der öffentlichen Ordnung ihren Geschäften nachgehen. Weil der Partido Revolucionario Institucional (PRI) während seiner sieben Jahrzehnte dauernden Herrschaft zu ihrem blossem Instrument degeneriert war, fiel es ihm nicht schwer, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit dem teuflischen Pakt zu opfern. Solange in Mexiko die Demokratie nichts weiter als eine schöne Idee war, blieb der PRI im Gewande des Staates am längeren Hebel, konnte er den Luzifer in Schach halten.

In den neunziger Jahren begannen sich die Gewichte zu verschieben. Die parteipolitische Pluralisierung brach die Alleinherrschaft des PRI und damit das Rückgrat des an sich schwachen Staates. Der Kokainhandel fiel in mexikanische Hände, weil die Kartelle aus Medellín und Cali unter dem Sperrfeuer der Regierungen Kolumbiens und Amerikas zusammenbrachen. Während die fragile mexikanische Demokratie erste Wurzeln schlug, erwuchs ihr ein Feind, der sich an den Milliarden des wachsenden Drogengeschäfts nährte und in den benachbarten USA mit furchterregendem Kriegsmaterial eindeckte. Als Calderón den «Drogenkrieg» ausrief, hatte der Staat die Kontrolle über das organisierte Verbrechen längst verloren.

Für Herminio Sánchez de la Barquera ist der «Drogenkrieg» Ausdruck einer Krise, die über das Kräftemessen zwischen Staat und Kartellen hinausgeht. Der in Heidelberg promovierte und an der Universität Vasco de Quiroga in Michoacán lehrende Politologe fasst den Konflikt als «Lektion» auf. «Wir erleben, was passieren kann, wenn ein Volk zu einer funktionierenden Gesellschaft unfähig ist.» Der in Puebla und Mexiko-Stadt wirkende Bischof Juan de Palafox y Mendoza habe im 17. Jahrhundert festgestellt, dass sich der Mexikaner zuerst um seine eigene Person, dann um seine Familie und gegebenenfalls um seine Freunde kümmere. Das sei heute noch genau gleich, ereifert sich der sonst zurückhaltende, feingliedrige Sánchez de la Barquera.

Der Umwelt verschlossen

Von der Schwierigkeit seiner Landsleute, nicht nur eine Ansammlung von Individuen, sondern eine lebendige (Bürger-)Gesellschaft zu sein, schrieb der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz 1950 in seinem Essay «Das Labyrinth der Einsamkeit». Der Mexikaner lasse sich im Zweifel in die Knie zwingen und demütigen, aber er lasse keinen Blick in sein Inneres zu. Er sei verschlossen, um sich vor seiner Umwelt zu schützen, die er instinktiv als gefährlich wahrnehme. Angesichts der Geschichte und der «Gesellschaft, die wir geschaffen haben», sei dies auch legitim.

In der starken Hand eines Kartells oder eines autoritären Staates, und ein solcher war der mexikanische bis vor kurzem, wird ein Kollektiv von misstrauischen, sich einkapselnden Individuen zur fügsamen Masse. Was dem Staat der Nationalismus, ist dem Drogenhandel die «narcocultura», ein Mittel zur Herrschaftslegitimierung. Doch weil der mexikanische Nationalismus sich über die Kultur definiert, haben die Mexikaner kein Problem, ihren zuweilen überbordenden Nationalstolz und ihre tiefe Verachtung für alle Staatlichkeit in Einklang zu bringen. Der mexikanische Rechtsstaat steht im Ruf, ein Unrechtsstaat zu sein.

Die «narcos» haben sich dessen immer wieder geschickt bedient. Ein Teil ihrer Popularität beruht geradezu auf dem Widerstand gegen den Staat. Der Bauer Jesús Malverde, der um die vorletzte Jahrhundertwende in Sinaloa lebte, erlangte Berühmtheit und Beliebtheit, weil er von den Reichen gestohlen und den Armen gegeben haben soll. Nachdem er 1909 auf Anordnung des Gouverneurs gehängt worden war, wurde er zum «Heiligen der Armen». Die von der Sierra hinabgestiegenen Drogenbosse errichteten ihm 1979 in Culiacán eine Kapelle und erhoben ihn zu ihrem eigenen Schutzheiligen.

Katz und Maus

Die Lebenswelt Malverdes, in welcher dem Staat die Rolle des fremdelnden Bösewichts zukommt, findet sich in Apatzingán wieder. Während des Autokorsos lassen sich nur Gemeindepolizisten blicken. Die sind sowieso gekauft oder ausreichend eingeschüchtert. Armee und Bundespolizei haben ihre Lager vor der Stadt aufgeschlagen. Bleibt die Katz vor dem Haus, tanzt die Maus. Anfang August betrat die Bundespolizei «das Haus». Während einer Messe stürmte sie die Kapelle Perpetuo Socorro und nahm mehrere Mitglieder der Familia Michoacana fest. Pfarrer Larios hätte die Messe halten sollen, steckte aber unterwegs fest. Ihn traf fast der Schlag, als er von der Stürmung vernahm. «Niemand darf bewaffnet einen geweihten Ort betreten. Das war ein Sakrileg», sagt er empört.

Jeder Mexikaner, der wie Larios noch nicht dem Zynismus anheimgefallen ist, verspricht dem Land eine bessere Zukunft. Wann wird sie eintreten? Dies hänge nicht nur von Mexiko ab, findet Sealtiel Alatriste. Der «Drogenkrieg» sei Folge globaler Probleme wie der Drogennachfrage, des Angebots an Waffen oder der schwindenden Aussicht auf einen ehrenwerten Broterwerb. Herminio Sánchez de la Barquera stimmt zu und wendet ein, genau deshalb müsse Mexiko seine politische Kultur ändern. Die Bildung von Bürgersinn und Eigenverantwortung werde Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Pfarrer Andrés Larios macht einen Anfang und redet auch am folgenden Sonntag gegen den Drogenhandel an. Er weiss, dass ihn dies das Leben kosten könnte.

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