«Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht»
Von Guido Kalberer.
Nicht unbedingt, ich habe diese Entwicklung schon Anfang der Neunzigerjahre prognostiziert. Es war ersichtlich, dass die Säkularisierung kein linearer, sondern ein ambivalenter Prozess ist. Es gibt also nicht nur einen Trend weg von der Religion, sondern auch eine Bewegung hin zur Religion. In Westeuropa ist der Säkularisierungstrend allerdings stärker: Eine Umfrage in Deutschland zum Beispiel ergab, dass nur noch 23 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an einen personalen Gott glauben – was immerhin eine Grundvoraussetzung dafür ist, um sich redlicherweise als Christ bezeichnen zu können.
Ist die Säkularisierungswelle noch grösser als die Religionswelle?
Für Europa gilt dies zweifellos. So gibt es in Deutschland bereits mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten. Zudem stimmt die Mehrheit der Kirchenmitglieder nicht mehr mit den zentralen Dogmen des christlichen Glaubens überein. Die meisten Kirchenmitglieder sind bei genauerer Betrachtung Schein-Mitglieder, genauer gesagt: Taufschein-Mitglieder. Man hat sie als Säuglinge getauft, weshalb man sie religiösen Institutionen zurechnet. Doch die zentralen Auffassungen dieser Institutionen teilen sie nicht.
Was hält die Leute religiös denn noch bei der Stange?
Eine interessante Frage: Was hält Menschen in einer Institution, die sie Geld kostet, wenn sie zentrale Elemente der Vereinssatzung ablehnen? Dafür gibt es vor allem soziale und ökonomische Gründe. Immerhin sind Caritas und Diakonisches Werk die grössten nicht staatlichen Arbeitgeber Europas. Jemand, der im sozialen oder medizinischen Bereich arbeitet, als Psychologe, Arzt oder Krankenpfleger, kann es sich in bestimmten Regionen gar nicht leisten, aus der Kirche auszutreten. Denn die Kirchen, die grössten Arbeitgeber auf diesem Gebiet, nutzen noch ihr Recht zur weltanschaulichen Diskriminierung, obwohl die Dienstleistungen, die sie erbringen, weitestgehend öffentlich finanziert werden. Solange es bei dieser verfassungswidrigen Regelung bleibt, sind weite Teile der Bevölkerung zwangskonfessionalisiert.
Wie ordnen Sie die Gläubigen ein, die wieder selbstbewusster zu ihrer Religion stehen?
Parallel zum Säkularisierungstrend gibt es einen Trend zur Verschärfung religiöser Bekenntnisse. Entweder werden die Menschen konsequenter religiös oder....