Mittwoch, Dezember 29, 2010

«Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht»

Tages Anzeiger Online 28.12.2010
«Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht»
Von Guido Kalberer.

 Grosse Fragen zum Jahreswechsel: Religionskritiker Michael Schmidt-Salomon über Light-Christen, abgewürgte Aufklärung im Islam und übertriebene Toleranz.
«Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern die Neandertaler von morgen», sagt Michael Schmidt-Salomon.
«Wir sind nicht die Krone der Schöpfung, sondern die Neandertaler von morgen», sagt Michael Schmidt-Salomon.

Die Wiederkehr der Religionen heute muss ein Schock für einen Religionskritiker wie Sie sein.
Nicht unbedingt, ich habe diese Entwicklung schon Anfang der Neunzigerjahre prognostiziert. Es war ersichtlich, dass die Säkularisierung kein linearer, sondern ein ambivalenter Prozess ist. Es gibt also nicht nur einen Trend weg von der Religion, sondern auch eine Bewegung hin zur Religion. In Westeuropa ist der Säkularisierungstrend allerdings stärker: Eine Umfrage in Deutschland zum Beispiel ergab, dass nur noch 23 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an einen personalen Gott glauben – was immerhin eine Grundvoraussetzung dafür ist, um sich redlicherweise als Christ bezeichnen zu können.
Ist die Säkularisierungswelle noch grösser als die Religionswelle?
Für Europa gilt dies zweifellos. So gibt es in Deutschland bereits mehr konfessionsfreie Menschen als Katholiken oder Protestanten. Zudem stimmt die Mehrheit der Kirchenmitglieder nicht mehr mit den zentralen Dogmen des christlichen Glaubens überein. Die meisten Kirchenmitglieder sind bei genauerer Betrachtung Schein-Mitglieder, genauer gesagt: Taufschein-Mitglieder. Man hat sie als Säuglinge getauft, weshalb man sie religiösen Institutionen zurechnet. Doch die zentralen Auffassungen dieser Institutionen teilen sie nicht.
Was hält die Leute religiös denn noch bei der Stange?
Eine interessante Frage: Was hält Menschen in einer Institution, die sie Geld kostet, wenn sie zentrale Elemente der Vereinssatzung ablehnen? Dafür gibt es vor allem soziale und ökonomische Gründe. Immerhin sind Caritas und Diakonisches Werk die grössten nicht staatlichen Arbeitgeber Europas. Jemand, der im sozialen oder medizinischen Bereich arbeitet, als Psychologe, Arzt oder Krankenpfleger, kann es sich in bestimmten Regionen gar nicht leisten, aus der Kirche auszutreten. Denn die Kirchen, die grössten Arbeitgeber auf diesem Gebiet, nutzen noch ihr Recht zur weltanschaulichen Diskriminierung, obwohl die Dienstleistungen, die sie erbringen, weitestgehend öffentlich finanziert werden. Solange es bei dieser verfassungswidrigen Regelung bleibt, sind weite Teile der Bevölkerung zwangskonfessionalisiert.
Wie ordnen Sie die Gläubigen ein, die wieder selbstbewusster zu ihrer Religion stehen?
Parallel zum Säkularisierungstrend gibt es einen Trend zur Verschärfung religiöser Bekenntnisse. Entweder werden die Menschen konsequenter religiös oder....
konsequenter areligiös. Das erklärt, warum der aufgeklärte Protestantismus an Bedeutung verliert, während die evangelikalen Kirchen zulegen. Die akademische Theologie hat ihre Pointen verloren. Die Erlösungstat Jesu ist ohne Voraussetzung von Hölle und Teufel so packend wie ein Elfmeterschiessen ohne gegnerische Mannschaft. Wenn der Teufel zum Spiel gar nicht mehr antritt, wird die biblische Erzählung belanglos. Übrig bleibt ein «religiöser Dialekt», der fromm klingt, es aber nicht mehr so meint. Menschen, die wirklich glauben wollen, befriedigt das nicht.
Kommt es zu einer Polarisierung?
Ja. Der aufgeklärte Glaube verliert seine Funktion als Vermittlungsinstanz zwischen konsequentem Säkularismus und religiösem Fundamentalismus. Das ist, wie es scheint, ein unaufhaltsamer Prozess, den man nicht ignorieren sollte.
Wie schätzen Sie den Islam ein?
Im Unterschied zum europäischen Christentum war der Islam nicht gezwungen, durch die Dompteurschule der Aufklärung zu gehen. Insofern musste er sich keine zivileren Umgangsformen angewöhnen. Es gab zwar im neunten und zehnten Jahrhundert eine bemerkenswerte Hochphase der Aufklärung innerhalb der muslimischen Kultur, aber das ist schnell abgewürgt worden. Und so werden wir heute mit unaufgeklärten Formen des Islam konfrontiert, was für Mitteleuropäer eine recht ungewohnte Erfahrung ist. An Light-Christen gewöhnt, sich wir nicht geübt, mit religiösen Kräften umzugehen, die sich selbst noch todernst nehmen.
Das Christentum hat das Stahlbad der Ironie ja schon hinter sich.
Man hat das Gefühl, dass in Europa selbst Bischöfe das, was sie predigen und zelebrieren, nicht immer ganz ernst nehmen. Beim Islam ist das anders. Zwar gibt es viele säkulare und liberale Muslime, aber eben auch erschreckend viele Gläubige, die den Koran so ernst nehmen, dass sie unter Umständen ihr Leben im Diesseits für ein fiktives Leben im Jenseits opfern. Deshalb greifen unsere Drohgebärden nicht. Sie gründen ja auf der säkularen Annahme, dass letztlich nur dieses eine, irdische Leben zählt.
Was hilft in diesem Konflikt denn weiter?
Der kulturelle Relativismus, den viele Europäer heute vertreten, ist in diesem Konflikt keine Hilfe. Im Gegenteil. Die postmoderne Haltung «leben und leben lassen» führt dazu, dass viele ihr Leben lassen müssen. Wenn im Iran Frauen wegen Ehebruchs gesteinigt werden, schauen wir meist ratlos zu, statt die universellen Werte von Humanismus und Aufklärung entschieden zu verteidigen.
Sind Humanismus und Aufklärung absolute Werte?
Ich betrachte Humanismus und Aufklärung nicht als binneneuropäische Errungenschaften, sondern als zentrale Bestandteile des «Weltkulturerbes der Menschheit». In diesem Sinne sollten humanistisch-aufklärerische Werte, die unter anderem in der UNO-Menschenrechtserklärung ihren Ausdruck gefunden haben, universell gültig sein. Absolut sind diese Werte aber nicht in dem Sinne, dass sie objektiv vorgegeben sind. Vielmehr haben wir uns auf sie im Rahmen eines Gesellschaftsvertrags geeinigt. Grundlage dafür waren und sind individuelle Interessen: Niemand will auf offener Strasse erschossen werden. Also haben wir ein Tötungsverbot eingeführt und Sanktionen für diejenigen, die sich an die Regeln einer modernen Gesellschaft nicht halten.
Setzen wir uns für diese Werte zu wenig ein?
Ich fürchte, ja. Wir haben eine lasche Toleranz entwickelt, ein Beliebigkeitsdenken, dem alles gleichermassen gültig erscheint. Erst langsam beginnen wir zu erkennen: Wer für alles offen ist, ist nicht ganz dicht! Natürlich muss es Grenzen des Tolerablen geben; ohne Grenzziehungen ist Toleranz ein inhaltsleerer Begriff. Es mag uns nicht gefallen, aber wir müssen uns dazu durchringen, den Feinden der Freiheit bestimmte Freiheiten vorzuenthalten, denn nur so werden wir die Prinzipien der Freiheit nachhaltig schützen können.
Also ein Loblied auf die Intoleranz?
Wir sollten so tolerant wie möglich sein, das heisst aber auch, dass wir Intoleranz nicht tolerieren dürfen. Wir dürfen es nicht hinnehmen, dass Menschenrechte verletzt werden – und dabei ist es völlig irrelevant, ob Menschenrechtsverletzungen religiös begründet werden oder nicht. Religionen dürfen nicht über den Menschenrechten stehen, sondern müssen sich diesen Werten unterwerfen. Wir dürfen weder Genitalverstümmelung noch Ehrenmorde dulden. Ebenso wenig dürfen wir es hinnehmen, dass ein muslimischer Mann seine Frau oder Kinder schlägt, nur weil dies angeblich religiös oder kulturell legitimiert wird.
Wo müssen wir die Weichen anders stellen?
In allen öffentlichen Institutionen. Vor einiger Zeit wurde in Deutschland eine Kindergartenleiterin entlassen, weil sie Jungen und Mädchen im Sommer nackt baden liess, was angeblich religiöse Gefühle verletzte. Ein absurder Vorgang! Religiöse Gefühle werden häufig auch als Argument dafür vorgebracht, dass in den Schulen wichtiges Wissen nicht hinreichend vermittelt wird. Fakt ist leider: Während die Schöpfungsgeschichte im Religionsunterricht schon ab dem 1. Schuljahr gelehrt wird, taucht die Evolutionstheorie in den meisten Lehrplänen erst am Ende des 10. Schuljahrs auf. Eigentlich müsste es umgekehrt sein: Bevor man Kindern kreationistische Vorstellungen vermittelt, sollten sie gesichertes Wissen über die Welt erworben haben, damit sie die Erzählungen der Religionen korrekt einordnen können.
Haben Sie etwas dagegen, wenn die biblische Geschichte als Teil des Unterrichts gelehrt wird? Unsere Kultur kann man nicht verstehen, wenn man die Bibel nicht kennt. Das sind doch ungeheure Kulturschätze.
Allerdings. Natürlich sollten Kinder in der Schule in Religion unterrichtet werden – zumal in den religiösen Überlieferungen tatsächlich Wichtiges und Richtiges zu finden ist. Aber sie sollten auch lernen, das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Dazu brauchen wir einen religionskundlichen Unterricht, der sich auch mit nicht religiösen Philosophien auseinandersetzt. Ideal wäre ein Fach für alle Kinder, in dem sie gemeinsam über die Werte des Zusammenlebens diskutieren könnten. Schülerinnen und Schüler wie bisher in unterschiedliche Religions- und Ethikunterrichte aufzuteilen, führt bloss zu einer Verschärfung der religiösen Ghettoisierung.
Müssen muslimische Mädchen in den Schwimmunterricht gehen?
Ja. Die Schule sollte religiös bedingten Sexualneurosen entgegenwirken. Wir sollten es auch nicht zulassen, dass Kinder vom Sexualkunde- oder Evolutionsunterricht abgemeldet werden. In diesem Zusammenhang habe ich viel von Autorinnen wie Necla Kelek, Mina Ahadi, Seyran Ates oder Nourig Apfeld gelernt. Diese mutigen, klugen Frauen verlangen zu Recht, dass wir die Werte von Humanismus und Aufklärung entschiedener verteidigen, und gehen selbst mit gutem Beispiel voran.
Sehen Sie sich eigentlich als Atheisten?
Kommt darauf an, was man unter dem Begriff versteht. Ich empfinde es zum Beispiel nicht als kritikwürdig, wenn jemand sagt, er glaube an einen «unvorstellbaren Gott». Unvorstellbares kann existieren oder nicht – wie sollte man darüber vernünftig urteilen können? Urteilen kann man nur über die Vorstellungen, die sich Menschen von «Gott» machen. So lehne ich das Gottesbild des «katholischen Katechismus» ab, weil es im Widerspruch zu unserem Wissen steht und ausserdem zu ethischen Problemen führt. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: Ich bin Agnostiker, zurückhaltend gegenüber dem «unvorstellbaren Gott» der Mystiker – und Atheist gegenüber dem «vorgestellten Gott» der Religionen.
Auch der Atheismus kann eine Religion sein.
Tatsächlich gibt es nicht nur theistische, sondern auch atheistische Religionen, etwa den klassischen Buddhismus oder die politische Religion des Stalinismus. Die zentrale Differenz sehe ich auch nicht zwischen Theismus und Atheismus, sondern zwischen einem dogmatischen und einem kritisch-rationalen Zugang zur Welt. Für Letzteren trete ich ein: Wir sollten lernen, falsche Ideen sterben zu lassen, bevor Menschen für falsche Ideen sterben müssen.
Menschen sterben auch für falsche Ideen der Wissenschaft.
Falsche Ideen sollte man immer kritisieren, egal, mit welchem Etikett sie ausgezeichnet werden. Dabei ist Wissenschaftsgläubigkeit allerdings ein Widerspruch in sich: Sollte jemand tatsächlich dogmatisch an wissenschaftliche Ergebnisse glauben, so würde er dadurch die wissenschaftliche Methode verraten. Denn Wissenschaft ist ergebnisoffen, eine Methode des kritischen Zweifelns. Es geht in der Wissenschaft ums Streben nach immer besseren Erklärungsmodellen und Problemlösungen – hier hat sich die Wissenschaft gegenüber religiösen Weltmodellen eindeutig bewährt.
Versuchen Religionen heute nicht auch, die Erkenntnisse der Evolutionsbiologie aufzunehmen?
Ja, sie bemühen sich darum, aber sie kommen dabei nicht sonderlich weit. Man darf nicht vergessen, dass die Religionen keine aufklärerischen Debattierklubs sind, in denen das bessere Argument zählt. Religionen müssen versuchen, ihre theologischen Glaubenssätze, allen Fakten zum Trotz, irgendwie aufrechtzuerhalten. Sie können sie vielleicht ein wenig umdeuten, aber sobald es an die Substanz des Glaubens geht, hört die Aufklärung auf. Daher kann man auch nicht behaupten, dass die katholische Kirche die Evolutionstheorie wirklich akzeptiert hat. In Wahrheit hat sie sich bestenfalls mit einem «halbierten Darwin» abgefunden.
Was meinen Sie damit?
Die katholische Kirche akzeptiert mittlerweile die Tatsache der Evolution, also das Faktum, dass es eine jahrmilliardenalte Entwicklungsgeschichte des Lebendigen gibt. Ebenso hat sie sich damit abgefunden, dass der Mensch körperlich von früheren Primatenarten abstammt. Die evolutionäre Herkunft des menschlichen Geistes wird aber weiterhin bestritten. Stattdessen hält die Kirche an der Fiktion fest, dass Gott die «Seele des Menschen» separat von allen evolutionären Prozessen erschaffen habe. Ausserdem widerspricht die Kirche den Grundaussagen der Evolutionstheorie: Sie kann es nicht hinnehmen, dass die Evolution auf dem blinden Walten von Zufall und Notwendigkeit beruht.
Davon sind Sie überzeugt?
Natürlich. Die Evolutionstheorie führt zu der Erkenntnis, dass wir Menschen eine ungeplante, vorübergehende Randerscheinung in einem sinnleeren Universum sind. Die religiöse Vorstellung, dass das ganze Universum für uns mühsam aufrecht gehende Primaten erschaffen wurde, lässt sich nur als Ausdruck eines kolossalen Grössenwahns bezeichnen. Alles deutet doch darauf hin, dass es nicht so war, dass «Gott» den Menschen nach seinem Ebenbilde erschuf, sondern dass wir uns unsere Götter nach unseren Ebenbildern erschaffen haben. Schon vor 2500 Jahren fiel Xenophanes auf: Völker mit dunkler Hautfarbe hatten dunkelhäutige Götter, die Götter hellhäutiger Völker waren hellhäutig.
Bei aller Religionskritik gibt es für Sie aber auch eine rationale Mystik. Was meinen Sie damit?
In Anlehnung an Schleiermacher verstehe ich Mystik als «Sinn und Geschmack für das Unendliche». Wenn wir nachts in den Sternenhimmel schauen, bekommen wir einen Eindruck davon, wie unermesslich klein dieses Staubkorn im Weltall ist, das sich Erde nennt, und wie kurzlebig die biologische Gattung, der wir angehören. Wir sind eben nicht die Krone der Schöpfung, sondern die Neandertaler von morgen! Diese rationale Einschätzung hat enormen mystischen Gehalt, da sie den «Sinn und Geschmack für das Unendliche» fördert. Das gilt auch für die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung: Unser «Ich», das uns so ungemein bedeutsam erscheint, ist in Wahrheit nur ein virtuelles Theaterstück, das von einem blumenkohlförmigen Organ in unserem Schädel inszeniert wird. Diese wissenschaftliche Perspektive ist anschlussfähig an christliche Mystiker wie Meister Eckart, an Vertreter des ZenBuddhismus, des Sufismus im Islam oder des Advaita-Hinduismus.
Worin besteht der Unterschied zu übersinnlichen Erfahrungen religiöser Natur?
Als Naturalist nehme ich an, dass es im Universum mit «rechten Dingen» zugeht, dass weder Götter, noch Dämonen, noch Kobolde in die Naturgesetze eingreifen. Der Glaube an solch supranaturale Kräfte ist nicht notwendig, um mystische Einheitserfahrungen zu erleben. Ich meine sogar, dass die gängigen Dualismen von Gott und Welt, Subjekt und Objekt, Geist und Körper, Kultur und Natur, Gut und Böse es traditionellen Gläubigen erschweren, eine Verbindung zum Weltganzen zu spüren. Mystische Erfahrungen sind nämlich monistisch, nicht dualistisch – und diese Charakterisierung trifft auch auf die naturalistische Philosophie zu: Wir haben die Dualismen überwunden, glauben nicht mehr an ein Selbst, das als «unbewegter Beweger» durch die Welt geistert. Daraus lässt sich eine entspanntere Weltsicht ableiten. Kurz gefasst: Wer von seinem Selbst lassen kann, entwickelt ein gelasseneres Selbst. Und wer sich nicht mehr schuldig fühlen muss, der zu sein, der er ist, kann leichter daran arbeiten, der zu werden, der er sein könnte. Das sind Kernsätze meiner «gottlosen», humanistischen Philosophie. Ähnliche Gedanken findet man schon bei religiösen Mystikern – eine Parallele, die mich immer wieder fasziniert… (Tages-Anzeiger)

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