NZZ Folio 11/8
Eiertanz ums Ei
Ist es nun Cholesterinbombe oder Vitaminwunder? Kein Nahrungsmittel wechselte sein Image derart oft wie das Ei.
Von Burkhard Strassmann
Rocky haut sich ein paar Eier ins Glas. Dann setzt er an, kippt, schluckt, leckt sich die Lippen. Runter ist der Glibber. Jetzt kann der Mann in den Kampf ziehen.
Das Ei: nahrhaft und gesund, magisch und gottnah. «Omne vivum ex ovo – alles Leben kommt aus dem Ei», sagt William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs (1578 bis 1657). Das Ur-Ei Narayana – so lehrt der Hinduismus – trieb auf einer Ursuppe, bis ihm Brahma entstieg. Bunt angepinselt galt es schon den frühen Christen als Symbol der Auferstehung. Der Römer schlürfte es ganz irdisch und roh als Potenzmittel. Das «Handbuch des Aberglaubens» widmet dem Ei über fünfzig Seiten. In Südtirol, so heisst es da, steckte man früher der Braut zwecks Unterstützung der Fruchtbarkeit ein Ei in den Ausschnitt. Und in der Schweiz legte man Neugeborenen gern ein Ei ins erste Badewasser – das war gut für die Stimme.
Bis in die 1960er Jahre war es verbreitet, schwächelnden Kindern ein rohes, mit Zucker verquirltes Ei zur Kräftigung zu verabreichen. Der Grund dafür lag im Wunder der 21 Tage – in denen dank Dotter und Eiweiss aus einem Zellhaufen ein kräftig pickendes Küken wird. Rohes Ei faszinierte auch die Kerle in den Kraftstudios, weil es Proteine, Vitamine, Eisen, Kalium, Magnesium, Folsäure, Selen und Zink enthält, also genau dieselben Zutaten, die auf den Dosen mit den teuren Pülverchen vermerkt sind. Da ist halt alles drin, was der Mann braucht, der seine Bizepse quellen lassen will. Und der gelegentlich mal zulangen muss wie Rocky alias Sylvester Stallone.
Dabei fielen bereits 1953 erste schwarze Schatten aufs Ei: Dieses perfekt geformte, unschuldig weisse oder naturnah braune Kalkgehäuse geriet in den Verdacht, das Verderben in sich zu bergen. Auslöser war ein Beitrag von Ancel Keys in der renommierten Medizinfachzeitschrift «Lancet». Der Forscher aus Minnesota legte die Ergebnisse einer ländervergleichenden Studie vor, mit denen er einen direkten Zusammenhang zwischen fettreicher Ernährung und dem Tod durch ein krankes Herz belegen wollte. Seine These: Tierische Fette, im Übermass verputzt, führen zu einem überhohen Cholesterinspiegel im Blut. Das Blutfett Cholesterin aber, im innerkörperlichen Fetttransport engagiert, ist an der Verstopfung der Arterien beteiligt, die wiederum die Ursache für einen Herzinfarkt sein kann. Obwohl Keys damit nicht behauptet hatte, dass ....... Cholesterin im Essen zum Infarkt führt, verkürzten Ernährungsberater und Medien die Botschaft auf die Formel: Fleisch, Milchprodukte und Eier beinhalten viel teuflisches Blutfett, ihr Genuss macht Herz und Kreislauf krank. Später nannte man Keys auch den «Vater der Mittelmeerdiät».
Weil das Ei so gut als Symbol taugt, wurde es umgehend zum Bild für das Böse im Essen. Schon eilte eine Metapher um die Welt, und sie war nicht mehr aufzuhalten: die «Cholesterinbombe». Binnen weniger Jahre verlor das Ei, der Inbegriff von Unschuld, Reinheit und Vitalenergie, das gültige Zeichen für allen Anfang, seinen einwandfreien Ruf. Das Ei wurde zum Zeichen der Verderbtheit, des Endes schlechthin. Rührei mit Speck? Verlorene Eier oder ein Eierlikörchen für die Damen? Nette Angebote wie diese verdienten nur noch eine Antwort: «Bist du wahnsinnig, willst du mich umbringen?» Das «Gelbe vom Ei» klang gar nicht mehr toll, und «ei, ei, ei!» rief man einer Schönen besser nicht hinterher. Höchstens zum Schimpfen taugte das Hühnerprodukt noch: «Ach du dickes Ei!»
Dass das Ei so tief fiel, war nicht ausschliesslich die Folge einer wissenschaftlichen Publikation. Mächtige Interessen mischten bei der darauf folgenden Diskussion um Cholesterin mit. Pharmakonzerne, Apotheken, Ärzte und sogar Margarinehersteller bildeten eine äusserst erfolgreiche Lobby. Denn an der um sich greifenden Angst vor Cholesterin liess sich viel Geld verdienen. Der weltgrösste Pharmakonzern Pfizer setzte bald Milliarden von Euro allein mit Cholesterinsenkern wie Lipitor um (im Jahr 2004: 10 Milliarden Euro). So entstand in den USA rasch ein Markt für Nahrung mit dem Label «cholesterol-free». Bald gehörten Blutfettsenker zu den umsatzstärksten Medikamenten überhaupt.
1990, auf dem Gipfel der Cholesterinhysterie, setzte in Deutschland die Anti-Cholesterin-Lobby einen Grenzwert im Blut durch, der auf einen Schlag 84 Prozent der 50- bis 59-jährigen Männer und 93 Prozent der Frauen behandlungsbedürftig machte. In den Geschäften gab es plötzlich cholesterinfreies Eipulver. Im selben Jahr machte sich im Kanton Aargau das Ehepaar Läuppi einen Namen als Züchter von Hühnern, die grüne Eier legten. Die Eier der Marke Greenhen enthielten 30 Prozent weniger Cholesterin als üblich. Derweil hoben weltweit Ernährungsberater den Zeigefinger: zwei Eier pro Woche, höchstens!
Die Cholesterinhatz war unter Wissenschaftern schon in den 1950er Jahren nicht unumstritten. Immer wieder wurden Beobachtungen publiziert wie die von einem Farmer, der jahrzehntelang zwanzig Eier und mehr am Tag verspeist hatte und doch einen gesunden Cholesterinspiegel vorwies. Die University of Missouri fütterte drei Monate lang hundert Testpersonen mit zwei Eiern am Tag und stellte keinerlei negative Effekte fest. 1999 kam aus Boston der Paukenschlag: Die Harvard School of Public Health hatte Ernährungsgewohnheiten und Gesundheit von über 177 000 Männern und Frauen untersucht und festgestellt: Ob man ein Ei in der Woche isst oder eins am Tag, ändert nichts am Risiko einer koronaren Herzerkrankung.
Offensichtlich wird körperfremdes Cholesterin keineswegs automatisch zu Blutfett; der Körper scheint in der Lage zu sein, seinen Cholesterinspiegel weitgehend selbst zu kontrollieren. Im Jahr 2000 wurde die angebliche Cholesterinbombe in das «Lexikon der populären Irrtümer» aufgenommen – neben der Frage, ob Alkohol wärmt und Ohrwürmer mit Würmern zu tun haben.
Heute gestattet selbst die gestrenge American Heart Association die Cholesterinzufuhr von umgerechnet eineinhalb Eiern am Tag – 300 mg. «Bei uns», sagt das Schweizer Bundesamt für Gesundheit, «wird diese Limite jedoch als veraltet betrachtet.» In den populären «Ernährungspyramiden» hat das Ei neben Fisch und Käse längst wieder seinen Platz eingenommen.
Natürlich sind auch jetzt wieder Lobbyarbeiter unterwegs, diesmal von der Gegenseite, aus dem Lager der Eierproduzenten. Die CMA, die Centrale Marketing-Gesellschaft der deutschen Agrarwirtschaft, fährt seit Jahren offensive Imagekampagnen und schickt zum Beispiel unter dem Motto «More Egg – More Fun!» ein eiförmiges Vehikel durch die Lande. An Bord unter anderem Eierrezepte für die Party («keine Feier ohne Eier»).
Doch womöglich hat allen Mühen zum Trotz das Ei seine Unschuld auf immer verloren. Dazu, dass es grundsätzlich verdächtig bleibt, trägt ein winziger Mikroorganismus bei, der in allerlei Varianten auftreten kann: die Salmonelle. Sie lebt unter Schweinen, Rindern, Gänsen und Enten. Besonders gern aber siedelt sie im Huhn, auf der Eierschale und im Innern des Eies. Eine jüngere europaweite Studie ergab, dass in Deutschland in fast 25 Prozent der Legehennenbestände Salmonellen gefunden wurden. In Tschechien und Polen sogar in rund 60 Prozent, in der Schweiz aber nur in weniger als 2 Prozent der Betriebe.
Der Krankheitsverlauf beim Menschen ist meist heftig, verbunden mit hohem Fieber, Kopfschmerzen, Durchfall, und das bis zu 72 Stunden lang. Prophylaktisch sollte man darum lieber sein Spiegelei doppelseitig anbraten. Vor Ostern keinesfalls Eier mit dem Mund ausblasen. Und sich im Restaurant Tiramisù, Zabaione oder selbstgemachte Mayonnaise verkneifen.
Lediglich Schweden, Norwegen, Irland, Luxemburg, Zypern und Lettland sind dank einem gründlich durchgeführten Bekämpfungsprogramm mit akribischer Überwachung, Impfung und Ausmerzung befallener Bestände salmonellenfreie Inseln. Hier kann man Eier noch immer so lustig verputzen wie früher. Zur Not im Glas als Powerglibber.
Burkhard Strassmann ist Autor der «Zeit», Schwerpunkt Wissen; er lebt in Bremen.
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