Montag, Oktober 17, 2011

Der ungeduldige Mensch

Der ungeduldige Mensch

Von Simone Meier.
Geduld ist keine Tugend mehr: Wer heute etwas will, will es sofort. Warten grenzt an eine Krankheit. Warum sind wir so?
Ein Tastendruck zwischen Reiz und Befriedigung: Ein Mann sitzt vor dem Computer.
Ein Tastendruck zwischen Reiz und Befriedigung: Ein Mann sitzt vor dem Computer.
Bild: Keystone

Früher litt man noch Hunger. Früher hatte man Sehnsucht. Man hungerte nach einer neuen Platte von Madonna oder der nächsten Folge einer TV-Serie, eine Buchhandlung brauchte mindestens vier Wochen, um ein Buch aus Amerika zu bestellen, man musste warten. Oft und lange warten. War man verliebt, so schrieb man sich Briefe, und die brauchten eben ihre Zeit mit der Post. Also Tage. Tage! Es gab damals weder Internet noch Downloads, iPhones oder SMS, kein Skype, kein Facebook, nur blöde alte Telefone, die viel zu teuer waren. Und man stand Schlange, an den Migros-Kassen, die noch nicht mit Laser-Lesern ausgerüstet waren, vor dem Bahn- und Postschalter, an der Kino-, Theater-, Konzertkasse. Es war normal und oft sehr langweilig, man musste sich organisieren und aufeinander verlassen können und viel, viel Geduld haben.
Doch daran erinnern sich heute nur noch knapp die «Digital Immigrants», jene vor 1980 Geborenen. Die später Geborenen, die «Digital Natives», wurden direkt ins Zeitalter der «digitalen Ungeduld» hineingeworfen, so nennt das der «Spiegel online»-Blogger Sascha Lobo. Die Zeitspanne zwischen einem Reiz und seiner Befriedigung hat sich längst auf einen Tastendruck verkleinert, «der einzige akzeptable Zeitrahmen», so Lobo, lautet «sofort». Als wäre das Leben ein Porno. Was nicht sofort geschieht, ist verlorene Zeit. Und wer Zeit verliert, ist heute insgesamt ein Verlierer. Denn der Mensch, der die Gegenwart prägt, hat keine Geduld, weder mit Märkten noch mit Ausbildungen, noch mit der Politik. Er hats eilig. Er heisst Investmentbanker, Castingshow-Teilnehmer, Twitter-Revolutionär.
Heilung durch Kaufen
Längst hat das Muster der Ungeduld auf den ganz normalen Alltagsmenschen abgefärbt. Wer heute vergessen hat, sich sein Flugticket schon zu Hause auszudrucken und online einzuchecken, der fühlt sich als kapitaler Verlierer. Weil er Schlange stehen muss mit lauter Pauschalurlaubern. Weil er keine....
freie Platzwahl mehr hat im Flieger. Er war unklug, und jetzt ertränkt er sich auf den wenigen Metern bis zum Check-in selbst im Stressschweiss. Warten grenzt an eine Krankheit. Warten tut weh. Warten bedeutet: etwas nicht sofort haben zu können. Impulskontrolle.
Zum Glück gibt es die Orte, die einem vormachen, dass man gar nicht mehr warten muss, selbst wenn man genau dies tut. Nicht mehr richtig warten muss man zum Beispiel auf der Post, seit man dort eine Nummer ziehen und sich im Postshop zerstreuen kann. Das ist clever. Während man nämlich darauf wartet, ein Päckchen aufzugeben oder Briefmarken zu kaufen, kann man schon ein Dutzend anderer Kaufentscheide fällen, und das beruhigt die Nerven ungemein. Schliesslich heisst die amerikanische Umschreibung für impulsives Shoppen nicht von ungefähr «Retail Therapy». Also Einkaufen als Therapie. Heilung durch Kaufen. Obwohl doch gerade darin gar kein Heil liegt. Verschuldung. Pleite. Bankrott. Von Menschen, aber auch von Staaten.
Der internet- und medienaffine Mensch von heute wird nicht nur in seinem Handeln ungeduldig, er wird auch gezielt so behandelt, dass seine Ungeduld wächst. Denn nicht nur wir wollen eine Ware sofort besitzen, die Ware will auch uns sofort. So wie man sich einen «News Feed» einrichten kann, also eine Nahrungsmittelkette an Nachrichten, so gibt es auch den «Merchandise Feed», die Waren-Nahrung, Ströme von Werbung, die sich wie von Geisterhand selbst generieren und ganz zufälligerweise aus Produkten zusammensetzen, nach denen man so oder ähnlich schon einmal im Netz gesucht hat. Und plötzlich schlängeln sich die Handtaschen, CDs oder Autos, die man ein einziges Mal zu besichtigen glaubte, der Lektüre einer Online-Zeitung entlang oder begleiten eine Hotelbuchung.
Die Welt von heute ist flach
Besonders schön lässt sich die technologische Geduldverminderung mit einer Studie über Fast Food der Universität Toronto illustrieren. Ein zu Werbezwecken eingesetztes Fast-Food-Logo neben einem Text machte, dass die Probanden diesen Text viel schneller und unkonzentrierter lasen als gewöhnlich. Die reine Gegenwart der Logos setzte sie unter einen eingebildeten Zeitdruck, machte sie agiler und steigerte ihr Begehren, irgendetwas zu kaufen. Früher galt Hysterie als Krankheit. Heute ist sie eine kapitalistische Tugend. Ungeduld bereichert vielleicht nicht immer das Individuum, aber doch sehr zuverlässig den Markt.
Der nach Amerika emigrierte Wiener Psychologe Walter Mischel wiederum studierte über Jahre das Schicksal des ungeduldigen Kindes. Wer als Kind schnell nach einer kleinen Belohnung greift, anstatt länger auf eine grosse zu warten, so entdeckte er, gibt sich auch im Berufsleben schneller zufrieden, macht kaum Karriere und ist ein schlechter Sparer.
Fast scheint es, als hätte Mischel, der heute 81 Jahre alt ist, mit dieser Entdeckung die Gegenwart der eifrigsten unter den digitalen Immigranten und die Normalität der digitalen Eingeborenen in ihren beiden äussersten Extremen vorhersehen können. Auf der einen Seite das kreative iPhone-Prekariat der Grossstädte, das sich mit nervösen Klicks von Liebe, Luft und Internet ernährt. Und auf der andern Seite die dicken Kinder, die sich vor dem Computer mit Junkfood vollstopfen. Für beide zählt das Jetzt mehr als der nächste Morgen. Ihr Bedürfnis ist die Sofortverpflegung. Mit Informationen, mit Unterhaltung, mit Selbstbestätigung aus dem Facebook, mit Essen. Ein bisschen autistisch sind sie beide, und den Hunger von einst, den kennen sie beide nicht. Dafür den Kick, dabei zu sein. In Echtzeit. Ganz Leute von heute.
Unser Erfahrungshorizont geht in die Breite und die Weite. Er umfasst, netzkonditioniert, wie wir sind, gewissermassen eine sich immer neu zusammensetzende Oberfläche, die es zu beherrschen gilt. Denn die Welt von heute, die ist bildschirmflach, kreditkartenflach, iPhoneflach. Zusammengehalten vom Einzigen, was man tatsächlich noch auswendig wissen sollte, all den Buchstaben- und Zahlenfolgen, den Codes und Passwörtern, die uns den Zugang zu einer Welt erlauben, die schneller und ungeduldiger ist als die Realität.
Ist Sicherheit nicht passé?
Erfahrungen und Erinnerungen verblassen mit jedem Klick noch mehr und fallen der digitalen Demenz anheim, aber welches Gehirn ist schon fähig, ständig auch das Vorangegangene im Griff zu haben, wenn doch das Gegenwärtige immer gleich die ganze Welt bedeutet? Das barocke «Carpe diem» dürfte noch nie so berauschend gewesen sein wie jetzt, es ist, als hätte die Welt im Netz all ihre Archive und Bibliotheken geöffnet und sei zu einem monumentalen, abenteuerlichen Selbstbedienungsladen geworden.
Gut, manchmal beschleicht einen das vage Gefühl, dass all die aufgespürten Informationen, aus denen man sich die Welt zusammenpuzzelt, nicht so sicher sein könnten. Aber was ist schon Sicherheit? Ist Sicherheit nicht total Prä-9/11? Aus einer Zeit, als sich Amerika für unverwundbar hielt und der Euro stark war? Doch ausserhalb dieser flüchtigen Bedenken herrscht da eine fröhliche Anarchie der Wissens- und der Warenkumulation. Und darüber, dass die katholische Kirche Geduld, Mässigung und Demut einst zu den himmlischen Tugenden zählte, darüber kann man sich heute weiss Gott nur noch wundern. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

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