14. Oktober 2006, Neue Zürcher Zeitung
«Nötige sie hereinzukommen, damit mein Haus voll werde!»
Über Gewalt im Christentum
Empörung schlug Papst Benedikt nach seinen Äusserungen zum Verhältnis von Religion und Gewalt von islamischer Seite auch deswegen entgegen, weil er die Gewaltgeschichte des Christentums mit keinem Wort erwähnt hatte. - Ein Rückblick auf ein Thema, das alle an einem interreligiösen Dialog Beteiligten zu Selbstkritik bewegen könnte.
Von Hans Maier
Ist der militante Islamismus unserer Zeit ein Sonderfall? Oder ist es seit je in allen Religionen gewalttätig zugegangen - wenigstens zeitweilig? Handelt es sich bei dieser Gewalt speziell um ein Problem monotheistischer Religionen? Schliesst der Wahrheitsanspruch einer Religion Toleranz gegenüber anderen Religionen aus? - Das sind Fragen, die in jüngster Zeit heftig diskutiert werden und die im Anschluss an die Regensburger Vorlesung Papst Benedikts XVI. erneut ein vielstimmiges und kontroverses Echo finden. Längst schliesst die Diskussion über die Ursachen und Formen religiös motivierter Gewalt die monotheistischen Religionen ein. Sie konzentriert sich auf den Islam, erstreckt sich aber inzwischen auch auf Judentum und Christentum.
NICHT DAS LETZTE WORT
Mohammed, Religionsstifter und Eroberer zugleich, steht nicht von ungefähr im Mittelpunkt der Debatte - aber auch der Mann Moses, der den Einen Gott proklamierte und die vielen Götter zu Götzen machte, ist in dieser Thematik eine zentrale Figur. Hat er doch, folgt man Jan Assmann, die antiken Polytheismen in die Unwahrheit gestossen und damit der Unterwerfung religiöser Identitäten den Weg bereitet. Und wie steht es mit jenen christlichen Denkern, die aus der biblischen Weisung des zum Gastmahl einladenden Herrn an seinen Knecht: «Nötige sie hereinzukommen, damit mein Haus voll werde» (Lukas 14, 23), eine schrankenlose Ermächtigung zur Missionierung der Heiden machten - notfalls gewaltsam und gegen deren Willen?
Eine vorläufige Antwort könnte lauten, dass Religion und Gewalt zwar nicht in einem religionsgeschichtlich eindeutigen systematischen Zusammenhang stehen, dass sie aber in der Geschichte vielfältige kontingente Verbindungen miteinander eingegangen sind. Gewalt spielt im Leben der Religionen - und bei Zusammenstössen zwischen unterschiedlichen Glaubensweisen - eine unübersehbare Rolle. Der Missionsauftrag Jesu an die Jünger - «Gehet hinaus in alle Welt und taufet alle Völker!» - hat sich in der Geschichte nicht selten mit Gewalttaten, Ausschreitungen, Pogromen verbunden. Oft genug wurden die Grenzen fliessend zwischen Mission, Expansion, Kolonisierung, Unterwerfung.
Allerdings: Das letzte Wort behielt die Gewalt im Judentum und im Christentum nicht; denn von Anfang an gab es gegen Zwangsbekehrungen fremder Völker kräftige Widerstände im Inneren der Religion selbst. In der Bibel finden sich, bis in frühe Schichten hinein, Elemente der Gewaltkritik und Gewaltbegrenzung. So ist schon der Talionsgrundsatz «Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn!» - entgegen dem geläufigen Verständnis - keineswegs ein Aufruf zu massiver Vergeltung; er legt vielmehr Rechtsgrundsätze für die Entschädigung fest, versucht also Rache durch Recht zu ersetzen. Diese Gewaltkritik hinterlässt vor allem seit der Zeit des babylonischen Exils ihre Spuren im jüdischen Gottesbild. Die Bergpredigt Jesu kann insoweit als Steigerung und Überbietung prophetischer Überlieferungen erscheinen. Und auch im Christentum steht der Tendenz zur missionarisch oder kulturell begründeten Expansion das Gebot des Friedens und der Liebe gegenüber - einer Liebe, die selbst den Feinden gilt. Vollends ist mit dem Kreuz Jesu ein Symbol des Gewaltverzichts aufgerichtet, auf das «die Kritiker einer Gewaltanwendung im Bereich christlicher Geschichte sich immer wieder berufen konnten» (Karl Lehmann).
Freilich darf man die Gewaltanfälligkeit des Christentums nicht verharmlosen. Man darf sie auch dann nicht übergehen, wenn man den islamisch motivierten Terrorismus von heute mit gutem Grund als Verirrung und Verbrechen verurteilt. Wenigstens zweimal ist Gewalt in der Geschichte des Christentums massiv zutage getreten: in den Kreuzzügen und in den Anfängen der europäischen Expansion. Es lohnt sich, nach den historischen Beweggründen für diesen doppelten Ausbruch zu fragen.
KREUZZÜGE UND KOLONIALE EXPANSION
Dass die Eroberung Palästinas durch den Islam christlichen Pilgern den Weg zu den heiligen Stätten versperrte, empfanden viele Christen im Abendland als eine schwer erträgliche Demütigung. So begannen die Kreuzzüge «mit dem Doppelziel, die Christen im Osten von der Herrschaft der Muslime zu erlösen und das Heilige Grab in Jerusalem zu befreien» (Victor Conzemius). In seiner Kreuzzugspredigt in Clermont-Ferrand (1095), einem der wirkungsvollsten Aufrufe der Weltgeschichte, hob Papst Urban II. auf drei Dinge ab: den Hilferuf des byzantinischen Kaisers, dem man folgen müsse, das Grab Christi, das es den Heiden zu entreissen gelte - und den zur Befreiung nötigen Kampf der Ritter («milites»), die durch päpstliche Ermächtigung und geistlichen Lohn zu «milites Christi» (Soldaten Christi) werden sollten.
Neben den Waffen empfingen die Kreuzfahrer das Pilgerkreuz. Als Anführer des Kreuzritterheeres galt Christus selbst. Auf Darstellungen reitet er den Rittern voran, das Schwert zwischen den Zähnen, das Buch des Lebens in den Händen. «Und wenn einer dort in wahrer Busse fällt», so Urban II., «so darf er fest glauben, dass ihm Vergebung seiner Sünden und die Frucht ewigen Lebens zuteil werden wird.» - Was ist das anderes als eine Aufforderung zum «gerechten Krieg» um die heiligen Stätten? Die Ähnlichkeiten mit heutigen Jihad-Aufrufen aus islamischen Ländern springen in die Augen. Vor allem der Hinweis auf den unmittelbar bevorstehenden Paradieseslohn erinnert an Äusserungen sich selbst opfernder islamistischer Krieger von heute - sie heissen inzwischen in der ganzen islamischen Welt (auch in laizistischen Ländern wie der Türkei) «Märtyrer», was beunruhigend ist.
Die Zeit der Kreuzzüge hat nicht nur das Verhältnis zwischen Christentum und Islam dauerhaft belastet (und ebenso das Verhältnis zwischen Christen und Juden wegen der heimischen Pogrome), sie bot dem Islam auch Gelegenheit, eigene Angriffe und Eroberungen als «Verteidigungskriege» zu deklarieren, und das bis heute. Bis heute werden die Christen in der muslimischen Terminologie zugespitzt «Kreuzzügler» genannt - und wenn George W. Bush von «Kreuzzügen gegen den Terror» spricht, so hören Muslime in diesem Wort nicht etwa eine abgeblasste, säkularisierte Formel (wie bei «Kreuzzügen» gegen Hunger, Kälte, Armut, Drogenmissbrauch), sondern sie erinnern sich an konkrete Ereignisse, die bis heute ihr Geschichtsbild prägen.
Umgekehrt wurde die Zeit der Kreuzzüge im Abendland zum Auftakt für eine doppelte Bewegung: die Ausbreitung und Festigung des Friedens im Inneren der europäischen Staaten einerseits, die zunehmend schärfere Abgrenzung nach draussen, zur nichtchristlichen Welt hin, anderseits. Gottesfriede im Inneren als Vorstufe des späteren Landfriedens und des sich entfaltenden staatlichen Rechts- und Friedensraumes - Krieg im Äusseren, «beyond the line», gegen die Heiden in der nichtchristlichen Welt: Das führt zum zweiten Ausbruch von Gewalt in der Geschichte des Christentums: zur europäischen Expansion im 15. und 16. Jahrhundert. «Jenseits des Äquators ist der Europäer ein gezähmter Tiger, der in den Wald zurückkehrt» (Guillaume Raynal).
Joseph Höffner hat in seinem klassischen Werk «Kolonialismus und Evangelium» gezeigt, dass die Härte der Kriege gegen die Eingeborenen in der Neuen Welt auch mit der Verschärfung der Lehre vom «gerechten Krieg» zusammenhing, die sich schon in der Zeit der Kreuzzüge vorbereitet hatte. So lehrte Papst Innozenz IV. (1243 bis 1254), der Papst könne den Ungläubigen befehlen, christliche Glaubensboten in den Ländern ihrer Herrschaft zuzulassen - sollten sie den Gehorsam verweigern, seien sie mit weltlicher Gewalt zu zwingen. Möglicher Grund für einen gerechten Krieg war also nicht mehr nur das Unrecht von Heiden gegen Christen - es war vielmehr das Unrecht (des Nichtglaubens) gegen Gott schlechthin. Theoretisch war damit «das Verhältnis zu den Heidenvölkern als dauernder Kriegszustand gekennzeichnet» (Höffner).
Gewiss, gegen diese Verengung und Zuspitzung des biblischen «Nötige sie!» erhob sich Protest auch unter christlichen Theologen und Juristen - der Kampf des Las Casas gegen die Übergriffe der spanischen Kolonisatoren und die Entwicklung einer neuen Kolonialethik durch Vitoria zeigen es. Doch es dauerte noch längere Zeit, bis sich die Kirche von dem im Lauf der Zeit immer mehr profan gewordenen, nicht mehr religiös unterfangenen Kolonialismus zu lösen begann. Spätestens um 1890 war dieser Punkt erreicht - symbolisch greifbar in der Gegenüberstellung des französischen Ministerpräsidenten, Kirchenfeindes und Vaters der französischen Trennungsgesetze, Jules Ferry, der aus der kulturellen Überlegenheit der weissen Rasse die letzten Konsequenzen kolonialer Hegemonie zog, einerseits und des Papstes Leo XIII. andererseits, der zur gleichen Zeit vorsichtig damit begann, Kolonialismus und Mission zu entkoppeln und in den aussereuropäischen Ländern einen indigenen Klerus aufzubauen.
Rückfälle in die Anwendung religiös motivierter Gewalt gibt es sowohl beim Christentum wie beim Islam. Die Praxis solcher Gewalt bietet ein weites Feld für die historische Betrachtung. Sowohl die kriegerischen Vorstösse des Islams in den Mittelmeerraum und nach Südeuropa wie auch die Kreuzzüge und der heutige Jihadismus müssten im Einzelnen untersucht und systematisch verglichen werden. Das ist ein weites Feld für eine vergleichende Religionsgeschichte - vor allem aber für unvoreingenommene, der Klärung dienende Gespräche zwischen heutigen Muslimen, heutigen Christen.
LEHREN DER GESCHICHTE?
Kann man Lehren aus den Ereignissen ziehen? Am Anfang müsste ein Blick auf die jeweils eigene Geschichte stehen. Hier hat Papst Johannes Paul II. in seinem Schuldbekenntnis und seiner Vergebungsbitte (am 12. März 2000) allem früheren katholischen Triumphalismus in Sachen Kreuzzüge und Kolonisierung eine Absage erteilt: «. . . oft haben die Christen das Evangelium verleugnet und der Logik der Gewalt nachgegeben. Die Rechte von Stämmen und Völkern haben sie verletzt, deren Kulturen und religiöse Traditionen verachtet . . . Vergib uns!»
Wäre ein solches Mit-sich-selbst-ins-Gericht- Gehen auch im Islam denkbar? Man vermisst es bis heute, aber ganz ausschliessen sollte man es für die Zukunft nicht. Geduld ist nötig. Vielleicht ist der Islam - bei all seiner oftmals berechtigten Kritik an den «Kreuzzüglern» und ihren Nachfahren - als jüngste der drei abrahamitischen Religionen gegenwärtig selbst noch in einer «Kreuzzugsphase».
Hans Maier amtete von 1976 bis 1988 als Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Bis 1999 hatte er an der Universität München den Lehrstuhl für christliche Weltanschauung, Religions- und Kulturtheorie inne. Vor zwei Jahren ist von ihm das Buch «Das Doppelgesicht des Religiösen. Religion - Gewalt - Politik» (Herder, Freiburg i. Br.) erschienen.
http://www.nzz.ch/2006/10/14/li/articleEIFWP.html
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