Mittwoch, November 12, 2008

Ulrich Beck: «Wir haben einen Staatssozialismus für Reiche»

Tages-Anzeiger 12.11.08
«Wir haben einen Staatssozialismus für Reiche»
Von Guido Kalberer, München. Aktualisiert um 22:32 Uhr 1 Kommentar

Ulrich Beck, 1944 geboren, wuchs in Hannover auf. Nach dem Abitur nahm er zunächst in Freiburg im Breisgau ein Studium der Rechtswissenschaften auf. Danach studierte er Soziologie, Philosophie, Psychologie und Politische Wissenschaften in München. Nach seiner Habilitation 1979 in Soziologie lehrte er in Münster und Bamberg. Heute ist Ulrich Beck Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und an der London School of Economics and Political Science.


Bevor der renommierte Soziologe Ulrich Beck nach Frankreich und in die USA reist, um über die Risiken unserer modernen Gesellschaften zu referieren, findet er Zeit für ein Interview im Institut für Soziologie der Universität München. Von Stress ist bei dem gefragten Wissenschaftler und Buchautor keine Spur. Kaum hat er sich auf das beige Sofa gesetzt und einen Schluck Wasser genommen, ist er ganz bei der Sache. Präzis und bedacht wählt er die Worte, formuliert so, dass seine Thesen und Argumente auch verständlich sind für ein Publikum, das mit dem soziologischen Fachjargon nicht viel anzufangen weiss.


Tages-Anzeiger 12.11.08
«Wir haben einen Staatssozialismus für Reiche»
Von Guido Kalberer, München. Aktualisiert um 22:32 Uhr 1 Kommentar


Ulrich Beck, 1944 geboren, wuchs in Hannover auf. Nach dem Abitur nahm er zunächst in Freiburg im Breisgau ein Studium der Rechtswissenschaften auf. Danach studierte er Soziologie, Philosophie, Psychologie und Politische Wissenschaften in München. Nach seiner Habilitation 1979 in Soziologie lehrte er in Münster und Bamberg. Heute ist Ulrich Beck Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München und an der London School of Economics and Political Science.


Bevor der renommierte Soziologe Ulrich Beck nach Frankreich und in die USA reist, um über die Risiken unserer modernen Gesellschaften zu referieren, findet er Zeit für ein Interview im Institut für Soziologie der Universität München. Von Stress ist bei dem gefragten Wissenschaftler und Buchautor keine Spur. Kaum hat er sich auf das beige Sofa gesetzt und einen Schluck Wasser genommen, ist er ganz bei der Sache. Präzis und bedacht wählt er die Worte, formuliert so, dass seine Thesen und Argumente auch verständlich sind für ein Publikum, das mit dem soziologischen Fachjargon nicht viel anzufangen weiss.

Das letzte Mal hatten wir uns nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 getroffen. Der Cheftheoretiker der Risikogesellschaft ist immer dann ein wichtiger Gesprächspartner, wenn es wieder einmal zu einem Weltenbrand gekommen ist. Auf die Risiken des globalen Finanzsystems hat Ulrich Beck bereits in seinen Büchern «Weltrisikogesellschaft» und «Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter» hingewiesen. Damals forderte er eine «neue weltpolitische Ökonomie» mit transnationaler Regulierungsperspektive. Dabei geht es vor allen Dingen um die Steuerung von Märkten und die Frage, wie sich der Staat gegenüber dem globalisierten Kapital politisch neu definieren kann.

Herr Beck, führt die aktuelle Finanzkrise zu einem Revival des Staates?
Ja, das ist deutlich beobachtbar. Die globalen Finanzrisiken werfen das Problem der Sicherheit in den verschiedensten Spielarten neu auf und beleben damit den Staat als Schlüsselinstanz für die Garantie von Sicherheit. Solange man davon ausgehen konnte, dass beispielsweise die soziale Sicherheit und der Wohlstand weitgehend über die Freisetzung des Marktes ermöglicht wurden, trat der Staat in den Hintergrund. Dies ändert sich jedoch mit der Erfahrung, dass durch die Radikalisierung von bestimmten Prinzipien der Moderne die Selbstgefährdung verschärft wird.

Solche Selbstgefährdungen sehen Sie in der atomaren Bedrohung, dem Terrorismus, aber auch im Klimawandel.
Im Unterschied zum Klimawandel, der in seiner Katastrophenzuspitzung nach wie vor ein zukünftiges und damit abstraktes Ereignis ist, hat die Finanzkrise wie ein Blitz eingeschlagen – eine für alle Bürger unmittelbar erfahrbare Bedrohung, ein globales Ereignis, das auch ein privates und sehr persönliches ist. Die Gefährdung der Sicherheit ist eklatant geworden, und dies ruft den Staat als Schlüsselakteur auf den Plan. Ob dieser die Probleme auch lösen kann, wird sich erst noch zeigen müssen.

Jedenfalls scheint der Neoliberalismus schwer angeschlagen und der Glaube daran, dass der freie Markt alle Probleme lösen kann.
Über Nacht gilt das Grundprinzip des Westens nichts mehr: die freie Marktwirktschaft. Eben noch hatten wir die Welt durch deren ungezügelte Entfaltung retten wollen. Der Glaube daran, dass der Staat durch den Markt ersetzt werden kann, hat sich sehr stark relativiert. Gerade diejenigen, die bisher jede Staatsintervention vehement abgelehnt haben, sind zu Konvertiten geworden. Zurzeit läuft ein Weltkabarett der Konversion ab, in dem die neoliberalen Banker nach dem Staat rufen. Auch wenn die neoliberale Form der freien Marktwirtschaft und die Schlüsselakteure, die für die Befreiung der Märkte waren, in die Defensive geraten sind, so wird der Kapitalismus überleben. Er hat, wie eine Katze, viele Leben. Die Schlüsselfrage ist das Wie seiner politischen Zivilisierung im Zeitalter der Globalisierung.

Wie gross ist die Zäsur durch die Finanzkrise?
Das Phänomen, das sich in diesen Tagen abspielt, wird in seiner Bedeutung und in seinem Ausmass in Europa noch unterschätzt, nicht in den USA. Ich sehe eine Zeitenwende, die vergleichbar ist mit dem Fall der Berliner Mauer. Nur gibt es dieses Mal keinen Austausch der Eliten. Auch wenn die Eliten über Nacht ihre Sprache ausgewechselt haben, so besteht kein Zweifel, dass sich die Legitimationsgrundlage ihres Handelns in einem dramatischen Ausmasse aufgelöst hat. So etwa ist die Universitätsreform, die im Zeichen des Neoliberalismus mehr Markt und Konkurrenz in den akademischen Bereich bringen wollte – mithin die Durchsetzung von ökonomischen Prinzipien –, auf einmal in Frage gestellt. Oder auch die internationale Politik, in der die USA und der Internationale Währungsfond (IWF) den sich entwickelnden Ländern den sogenannten Washingtoner Konsens aufzwingen wollten.

So zieht sich der Glaubwürdigkeitsverlust durch viele Teile der Gesellschaft.
Ja, und zwar radikal. Was jetzt kommt, ist ein Sozialstaat für das Finanzkapital. Da die Banken gerettet werden müssen, haben wir nun einen Staatssozialismus für Reiche. Auf der anderen Seite wird weiterhin eine rigide Neoliberalisierung der Armen betrieben. Während der Sozialstaat für Arme abgebaut wird, wird er für Reiche aufgebaut. So entsteht eine neue, himmelschreiende Ungleichheit: Wieso soll der Neoliberalismus, der sich im Finanzbereich widerlegt hat, exekutiert werden gegenüber den Arbeitnehmern? Die Ungleichheit wird aber auch zwischen Ost- und Westeuropa zunehmen. Die Gelder aus dem Osten werden zunehmend in den Westen fliessen, weil dort der Staat mehr Sicherheit und Garantie bietet.

Kann der Staat die Probleme, die sich nun stellen, überhaupt lösen?
Der Nationalstaat als solcher nicht; er ist nicht fähig, adäquat darauf zu reagieren. Der Fetisch der nationalstaatlichen Souveränität erweist sich als grosses Hindernis. Mit nationalstaatlichen Mitteln ist den globalen Problemen, mit denen wir heute und in Zukunft konfrontiert sind, nicht beizukommen. Es müssen transnationale Lösungen gesucht werden. Erst die Transnationalisierung der Politik macht die einzelnen Staaten wieder handlungsfähig – in dieser Einsicht sehe ich ein kosmopolitisches Moment, eine Gelegenheit, einen internationalen Rechtsrahmen für die Bewältigung der akuten Finanzkrise zu schaffen.

Ist die Schweizer Position damit obsolet geworden?
Die Position der Schweiz ist sehr stark gefährdet – vielleicht so sehr wie noch nie in ihrer ganzen Geschichte. Man darf aber nicht vergessen, dass die Schweiz hinter ihrer Fassade der Neutralität sich immer schon stark international vernetzt hat. Sie ist europäischer, als sie sich eingesteht. Auch in anderen Staaten sieht die Realität längst anders aus als das Bild in den Köpfen der Menschen. Die wechselseitigen Abhängigkeiten sind mittlerweile so gross, dass unilaterale Strategien, wie sie GeorgeW.Bush noch gewählt hatte, heute zum Scheitern verurteilt sind. Lösungen im Alleingang taugen nicht. Man könnte es so zuspitzen: Die Aufgabe von Autonomie ist für die modernen Staaten der Königsweg, um wieder Gestaltungsmacht – auch im nationalen Kontext – zu erlangen.

Betreibt die EU diese Vernetzung in einem genügenden Ausmasse?
Nein, und zwar weil die Mitgliedsstaaten dies nicht wirklich wollen. Warum koordiniert man angesichts der Finanzkrise die Wirtschaftspolitiken der einzelnen Länder nicht stärker miteinander? Warum betreibt man nicht, wie es der französische Präsident Nicolas Sarkozy vorschlägt, eine europäische Wirtschaftspolitik? Eine gemeinsame Währung erfordert doch eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Was uns in Europa fehlt, ist ein kosmopolitischer Realismus, ein Denken und Handeln, das sich, gerade um die nationalen Interessen zu wahren, kosmopolitisch öffnet. Die Finanzkrise ist daher auch eine grosse Chance für ein weltoffenes, politisch gestärktes Europa.

Und die USA?
Obama ist in meinen Augen der erste Präsident der USA, der einen solchen kosmopolitischen Realismus umsetzen kann. Nur durch die Öffnung der Politik – durch die Schaffung von transnationalen politischen Institutionen – ist eine Wiederbelebung nationaler Politik möglich. Diese dauerhafte Kooperation über Grenzen hinweg ist notwendig, um globalen Risiken begegnen zu können. Man muss die Perspektive des anderen einbeziehen, um im eigenen Bereich Fortschritte zu erzielen. Nach dem nationalen Nationalismus der Vergangenheit wäre nun ein kosmopolitischer Nationalismus nötig, in dem die Traditionen geöffnet werden.

Ist Obama der Präsident, der diese Wende der Politik herbeiführen wird?
Ob es ihm gelingt, weiss ich nicht. Aber aufgrund seiner Herkunft – er hat auch biografische Wurzeln in Kenia – und seiner Fähigkeit, die grossen Fragen zu stellen, hat er die besten Voraussetzungen dafür. In Risikophasen muss man die Ängste der Menschen ernst nehmen. Allein schon die Thematisierung der grossen Fragen hat eine enorme Mobilisierungskraft, die über die verschiedenen Lager und Nationen hinausreicht. Bereits im Wahlkampf hat Obama mit der tätigen Hilfe einer über das Internet aktivierten zivilgesellschaftlichen Bewegung die Politik wiederbelebt. Insofern ist der neue Präsident der USA der personifizierte Paradigmawechsel der Politik.

Wird es zu einer stärkeren Zusammenarbeit zwischen den USA und Europa kommen?
Der jetzige amerikanische Weg bedarf der Korrektur und Ergänzung. Europa ist ein gutes Beispiel dafür, wie aus Feinden Nachbarn werden. Zudem werden Europa und die USA ein Schicksal teilen: Stärker als bisher werden sie abhängig von China und den arabischen Ländern. Woher sonst soll das Geld denn kommen? Es kommt also zu einer enormen Machtverlagerung.

Wird Obama unter diesen Umständen den Unilateralismus aufgeben?
Ja. Die Aufgabe des Unilateralismus ist der erste notwendige Schritt hin zum Kosmopolitismus – einem Denken, das die Frage der Gerechtigkeit nicht nur in einem nationalen Rahmen stellt. Bezüglich der Finanzkrise heisst dies: Was bedeutet sie nicht nur für die einzelnen Nationen, sondern für die Ärmsten dieser Welt? Wie kommen wir zu einer Idee von globaler Gerechtigkeit? Bisher wurden Gleichheits- und Gerechtigkeitsfragen nur in einem nationalen Kontext gestellt. Heute geht es um die weltpolitische Dimension dieser Fragen, um im ganz konkreten Hier und Jetzt voranzukommen.

(Tages-Anzeiger)

Erstellt: 11.11.2008, 20:35 Uhr

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