Tages Anzeiger Das Magazin
Man muss sich fragen: Ist Ökonomie bloss in Wissenschaft verpackte Ideologie?
07.11.2008 von Alain Zucker
Als Alan Greenspan vor zwei Wochen vor dem amerikanischen Kongress eingestand, dass er «einen Fehler» gemacht hatte, brach eine Welt zusammen. Er hatte darauf vertraut, dass sich freie Märkte selbst regulieren.
Tages Anzeiger Das Magazin
Man muss sich fragen: Ist Ökonomie bloss in Wissenschaft verpackte Ideologie?
07.11.2008 von Alain Zucker
Als Alan Greenspan vor zwei Wochen vor dem amerikanischen Kongress eingestand, dass er «einen Fehler» gemacht hatte, brach eine Welt zusammen. Er hatte darauf vertraut, dass sich freie Märkte selbst regulieren.
Sporadisch erlebt die Ökonomie Ereignisse – in der Regel Krisen –, die vermeintlich bewiesene Schlüsselerkenntnisse widerlegen und die Wirtschaftstheorie auf den Kopf stellen. Als die Weltwirtschaft während der Grossen Depression der Dreissigerjahre nicht mehr in Gang kam, begann der Aufstieg des Keynesianismus. Der Brite John Maynard Keynes zeigte, dass in solch unsicheren Zeiten nur staatliche Intervention die Leute (und die Märkte) wieder zur Vernunft bringt. Vier Jahrzehnte versuchten nun keynesianische Wirtschaftspolitiker mit staatlichen Eingriffen, ihre Volkswirtschaften so zu regulieren und einzustellen, dass Vollbeschäftigung herrschte. Bis sie in den Siebzigerjahren scheiterten: an einer steigenden Arbeitslosigkeit und einer hartnäckigen Inflation, die sie mit ihrem Herumschrauben an den Märkten mitverursacht hatten.
Das Pendel schwang zurück Richtung konservative Ökonomie, die viele keynesianische Vorschriften und Eingriffe rückgängig machte. Die nächsten vierzig Jahre dominierten die Ideen von Milton Friedman (und seines Freundes Alan Greenspan). Der wirtschaftspolitische Konsens war – vor allem in den USA –, dass der gesellschaftliche Wohlstand am meisten steigt, wenn der Einzelne unbehelligt seinen Interessen und Geschäften nachgehen kann.
Inzwischen gibt sich Greenspan zerknirscht, und die Stabilisierung der freien Finanzmärkte kostet die Steuerzahler weltweit Billionen von Dollar. Die Staatsfreunde haben wieder Aufschwung. Und bei all dem Hin und Her fragt man sich, ob die Wirtschaftswissenschaft je etwas anderes war als wissenschaftlich unterfütterte Ideologie. Das beste Beispiel dafür ist Greenspan selber. Er war berühmt dafür, dass er morgens in der Badewanne eine Unmenge von Wirtschaftsdaten und Modellen studierte, stets auf der Suche nach neuen Entwicklungen oder Gefahren. Trotzdem sah er in seiner achtzehnjährigen Amtszeit als amerikanischer Notenbankchef die Katastrophe nicht kommen und verwarf die Warnungen von Mitarbeitern.
Doch im Prinzip schaut jede Sozialwissenschaft durch die Linse eines bestimmten Weltbildes auf die Gesellschaft. Schockierend ist allerdings, dass man glaubte, die Ökonomie sei genauer als die anderen Disziplinen, die sich mit den Folgen menschlicher Entscheidungen befassen, «wissenschaftlicher» sozusagen. Der Trick der Wirtschaftswissenschaftler ist bis heute, dass sie ihre Theorien mathematisch ausdrücken. Obwohl ihr Forschungsgegenstand die freie Wildbahn der Wirtschaft ist, wirken sie wie Physiker, die ihre Experimente im Labor unter streng kontrollierten Umständen durchführen können. Es gibt aber keine Naturwissenschaft, in der die Forschung so extrem zwischen zwei Polen pendelt wie in der Ökonomie.
Der Nachteil einer Mathematisierung der Wirtschaft ist, dass man Annahmen trifft, welche die ungezügelte Wirklichkeit stark vereinfachen. Natürlich weiss auch ein Verfechter des freien Marktes wie Alan Greenspan, dass Menschen nicht perfekt informiert und rational sind. Ihm reichte aber, dass sich die Märkte im Prinzip so bewegten, als verhielten sich die Leute rational. «Wirtschaftswissenschaftler formulieren ihre Annahmen so, dass sie auf die bestehenden Verhältnisse zutreffen, und hüllen sie dann in eine Aura der ewigen Wahrheit», schrieb der Wirtschaftshistoriker Robert Skidelsky.
Was Greenspan und andere in den vergangenen Jahren vernachlässigten, war die Bedeutung der Ungewissheit für das Verhalten der Leute. Sie spielte keine Rolle, da die Leute, so nahmen die Ökonomen in ihren Modellen an, zwar falsche Entscheidungen treffen, aber nie systematisch, also liess sich das Risiko eines Irrtums kontrollieren oder gar versichern. Bis sich die Leute trotzdem irrten, und zwar grundsätzlich. Letztlich lagen Investoren und Banken in der Finanzkrise massenweise falsch, ihre Idee, das Risiko durch ein Zerstückeln und Neubündeln von Hypotheken zu verteilen, scheiterte grandios, ebenso wie die Versuche, sich dagegen zu versichern.
Wir sollten also Expertenprognosen nicht allzu ernst nehmen. Weniger weil sie ideologisch voreingenommen sein könnten, sondern weil sie im besten Fall die herrschenden Strukturen beschreiben. Wirtschaftstheorien gelten, solange sie gelten. Und dann gelten sie eben nicht mehr. Von der wirtschaftlichen Gegenwart lässt sich nicht mit Sicherheit auf die Zukunft schliessen. Ökonomen sind deshalb wie alle Grossdeuter der Zeit: Was immer sie über die Zukunft sagen, ist wahrscheinlich überholt.
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