Samstag, November 08, 2008

Tages Anzeiger; Das Magazin : Der «Kampf der Kulturen» bleibt in aller Munde. Doch er ist nicht das Problem.

Tages Anzeiger Das Magazin
Der «Kampf der Kulturen» bleibt in aller Munde. Doch er ist nicht das Problem.
07.11.2008 von Daniel Binswanger


Die Falken wollen ihn mit letzter Härte ausfechten. Die Tauben rufen auf zu Mässigung, Rechtsstaatlichkeit und Dialog. Doch ob man ihn nun austragen oder tunlichst vermeiden will: Der Kampf der Kulturen («clash of civilisations») wird als wichtigste Herausforderung der heutigen Weltpolitik betrachtet. Besonders die amerikanisch-europäische Debatte verläuft bisher in diesen Bahnen, doch wahrscheinlich sind schon ihre Prämissen falsch gesetzt. Denn die Ausbreitung des religiösen Fanatismus hat gerade nichts damit zu tun, dass kulturelle Gegensätze immer härter aufeinanderprallen. Fanatisch werden Religionen dort, wo sie ihre kulturelle Einbettung verlieren. Der neue Fundamentalismus steht nicht für die Rückkehr archaischer Gebräuche, sondern für einen globalen Traditionsverlust. In der islamischen Welt hat dieses zivilisatorische Vakuum besonders dramatische Konsequenzen. Betroffen davon sind jedoch alle Konfessionen.

Tages Anzeiger Das Magazin
Der «Kampf der Kulturen» bleibt in aller Munde. Doch er ist nicht das Problem.
07.11.2008 von Daniel Binswanger
http://dasmagazin.ch/index.php/binswanger-die-neue-unkultur/

Die Falken wollen ihn mit letzter Härte ausfechten. Die Tauben rufen auf zu Mässigung, Rechtsstaatlichkeit und Dialog. Doch ob man ihn nun austragen oder tunlichst vermeiden will: Der Kampf der Kulturen («clash of civilisations») wird als wichtigste Herausforderung der heutigen Weltpolitik betrachtet. Besonders die amerikanisch-europäische Debatte verläuft bisher in diesen Bahnen, doch wahrscheinlich sind schon ihre Prämissen falsch gesetzt. Denn die Ausbreitung des religiösen Fanatismus hat gerade nichts damit zu tun, dass kulturelle Gegensätze immer härter aufeinanderprallen. Fanatisch werden Religionen dort, wo sie ihre kulturelle Einbettung verlieren. Der neue Fundamentalismus steht nicht für die Rückkehr archaischer Gebräuche, sondern für einen globalen Traditionsverlust. In der islamischen Welt hat dieses zivilisatorische Vakuum besonders dramatische Konsequenzen. Betroffen davon sind jedoch alle Konfessionen.

Der Pariser Orientalistik-Professor Olivier Roy, der wohl beste westliche Kenner des politischen Islam, hat in einem faszinierenden Essay das weltweite Erstarken neuer Formen der Religiosität analysiert. Nur schon die statistischen Fakten, die er präsentiert, rücken manches Vorurteil zurecht: Die am schnellsten expandierende Religion der Welt ist nicht der Islam, sondern der fundamentalistische Protestantismus, insbesondere die Mormonen-Kirche und die Pfingstbewegungen, die sich in den USA und in den Schwellenländern (besonders Brasilien) spektakulärer Zuwachsraten erfreuen. Auch in der islamischen Welt wird die religiöse Dynamik nicht von einer echten Rückbesinnung auf die Tradition, sondern von relativ jungen, im Grunde antitraditionalistischen Bewegungen getragen. Auch hier findet keine «Wiederkehr der Religion», sondern die Verbreitung völlig neuer, «postmoderner» Religionsformen statt. Schliesslich und endlich sind die Grenzen zwischen verschiedenen Konfessionen nicht immer unüberwindbarer, sondern immer durchlässiger geworden. Die Religionssoziologie der heutigen Zeit zeichnet sich vor allem durch eine gewaltige Zunahme von Konversionen aus.

Beeindruckend ist die Korrelation von Fanatismus und Konvertitentum. Es wird geschätzt, dass zehn bis zwanzig Prozent der internationalen Kader al-Qaidas von konvertierten Christen gestellt werden. Es funktioniert aber auch in die andere Richtung: In einer Reihe maghrebinischer Länder gehen die Behörden immer aggressiver gegen zum Christentum konvertierte Muslime vor. Zur Zeit des Kolonialismus waren die katholischen Missionierungsbestrebungen völlig chancenlos gegen die Beharrungskräfte der lokalen islamischen Tradition. Unter heutigen Bedingungen wird aber auch das Christentum für die arabische Mittelschicht zur Option. Moderne Religionsbewegungen – besonders ihre fundamentalistischen Spielarten – werden immer weniger bestimmt von Traditionskontinuitäten und gesellschaftlichen Bindungen. Sie dienen der Befriedigung völlig individueller Spiritualitätsbedürfnisse. Das gilt nicht nur für Madonna und Richard Gere, sondern auch für die breite Masse.

In ihrem doktrinären Gehalt werden die neuen Religionen zwar immer unversöhnlicher, in den Formen ihrer Praxis aber immer austauschbarer. Die Kampfzonen des Fundamentalismus entstehen durch zivilisatorische Verödung. Ein Bewusstsein für Kulturtraditionen wäre da schon eher ein Gegenmittel.

Olivier Roy, «La Sainte Ignorance. Le temps de la religion sans culture»,
276 Seiten, 19 Euro

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