22. April 2009, Neue Zürcher Zeitung
Nikotin verändert das Gehirn ähnlich wie harte Drogen
Süchtiges Verhalten als Folge von Störungen im Dopaminsystem
Obwohl sich die Mehrheit der abhängigen Raucher von ihrem Laster befreien möchten, gelingt es den wenigsten, aus eigener Kraft auf Dauer abstinent zu bleiben. Nach neueren Befunden könnte das daran liegen, dass Nikotin das Gehirn stärker verändert, als man bisher annahm.
Sibylle Wehner-v. Segesser
Normalerweise wird das neuronale....
22. April 2009, Neue Zürcher Zeitung
Nikotin verändert das Gehirn ähnlich wie harte Drogen
Süchtiges Verhalten als Folge von Störungen im Dopaminsystem
Obwohl sich die Mehrheit der abhängigen Raucher von ihrem Laster befreien möchten, gelingt es den wenigsten, aus eigener Kraft auf Dauer abstinent zu bleiben. Nach neueren Befunden könnte das daran liegen, dass Nikotin das Gehirn stärker verändert, als man bisher annahm.
Sibylle Wehner-v. Segesser
Normalerweise wird das neuronale Belohnungsnetzwerk, das sich über weite Teile des Mittel- und Vorderhirns erstreckt, durch alltägliche sinnliche Freuden wie Nahrungsaufnahme oder sexuelle Erregung aktiviert. Es erfüllt damit als evolutionär alter Mechanismus überlebenswichtige Funktionen. Nikotin hat mit anderen suchterzeugenden Substanzen gemein, dass es in diesem mesolimbischen Belohnungssystem des Gehirns die Spiegel des Neurobotenstoffs Dopamin markant erhöht – ein Vorgang, der letztlich mit angenehmen Empfindungen einhergeht. Doch während die Dopaminspiegel sich in natürlichen Situationen nur kurzfristig erhöhen und auf rasch aufeinanderfolgende gleichartige Reize mit der Zeit immer weniger ansprechen, führen Suchtsubstanzen jedes Mal zu einem lang anhaltenden Anstieg. Die intensivste Wirkung entfalten harte Drogen: Kokain erhöht die Dopaminausschüttung auf das Tausend-, Nikotin dagegen «nur» auf das Hundertfache.
Aktivierung des Belohnungssystems
Auch wenn alle Suchtsubstanzen letztlich auf das Belohnungssystem Einfluss nehmen, geschieht das auf unterschiedlichen Wegen. Viele profitieren dabei von ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit körpereigenen Wirkstoffen. Nikotin bindet im Gehirn an Rezeptoren, die eigentlich für einen der wichtigsten natürlichen Neurotransmitter – das Acetylcholin – vorgesehen sind. Ein bestimmter Typ solcher Nikotinrezeptoren findet sich in den Membranen Dopamin-erzeugender Nervenzellen gerade in jenem Teil des Mittelhirns, der als Eingangspforte zum Belohnungssystem dient. Werden diese Neuronen durch Nikotin stimuliert, schütten sie über ihre Fortsätze in verschiedenen Hirnregionen Dopamin aus: unter anderem im Nucleus accumbens, der im Belohnungsnetzwerk eine Schlüsselstellung einnimmt.
Die Reaktionskette vom Nikotinkonsum bis zur Freisetzung von Dopamin verläuft blitzschnell. Innerhalb weniger Sekunden gelangt das Nikotin beim Rauchen über die Blutbahn ins Gehirn. Bereits nach dem ersten Lungenzug besetzt es an den Dopaminneuronen des Belohnungsnetzwerks 33 Prozent, nach dem Rauchen einer ganzen Zigarette sogar 95 Prozent aller Nikotinrezeptoren. Es gelingt dem Nikotin also, das Belohnungssystem regelrecht zu übernehmen.
Solche akuten Wirkungen von Nikotin auf das Dopaminsystem sind zwar schon länger bekannt, doch über langfristige Effekte weiss man erst wenig. Für andere Suchtmittel liess sich in den letzten Jahren zeigen, dass chronischer Konsum mit der Zeit die Hirnchemie verändert. Zum Beispiel ergaben Positronen-Emissions-tomografische Untersuchungen (PET), dass bei Kokain-, Heroin- und Amphetaminabhängigen wie auch bei Alkoholikern die Dichte der Dopaminrezeptoren im Belohnungssystem gegenüber gesunden Personen markant verringert ist. Die reduzierte Rezeptordichte bleibt oft auch nach monatelanger Abstinenz bestehen. Letztes Jahr hat eine PET-Untersuchung ähnliche Effekte erstmals auch für Nikotin belegt. Bei abhängigen Rauchern fanden sich in Teilen des Belohnungszentrums signifikant weniger Dopaminrezeptoren als bei Nichtrauchern, und auch in diesem Fall wurde die reduzierte Rezeptordichte bei Abstinenz nicht sofort wieder nach oben korrigiert.
Das ständige, durch chronischen Suchtmittelkonsum ausgelöste Dopamin-Bombardement scheint also im Gehirn die Empfangseinheiten für Dopamin zu reduzieren und damit die Reizschwelle für die Aktivierung des Belohnungssystems zu erhöhen. Dieser Schwellenanstieg dürfte einer der Gründe dafür sein, dass Abhängige mit der Zeit immer höhere Dosen des jeweiligen Suchtmittels benötigen, um belohnende Effekte zu erzielen. Schliesslich dient die Droge nur noch dazu, negative Empfindungen zu vermeiden. Darüber hinaus verändert ständiger Suchtmittelkonsum gemäss Untersuchungen mit funktioneller Magnetresonanz auch die neuronale Aktivität in Regionen des Vorderhirns, die für die Impulskontrolle und die Motivationslage zuständig sind. Solche Veränderungen dürften wesentlich dazu beitragen, zwanghaftes Verhalten zu etablieren, und auch eine Erklärung dafür bieten, dass viele Suchtkranke noch lange nach einer erfolgreichen Entwöhnung ein unstillbares Verlangen (Craving) nach der jeweiligen Substanz verspüren und dadurch rückfällig werden können.
Kein «Glückshormon»
Auch Lernvorgänge spielen für die Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens eine zentrale Rolle. Ähnlich wie Tiere, die wiederholt nach einem bestimmten Signal eine Belohnung erhalten, mit der Zeit lernen, bereits auf das Signal anzusprechen, und schon darauf mit erhöhter Dopaminausschüttung reagieren, lernt auch der Mensch, bestimmte Situationen oder Tätigkeiten mit dem belohnenden Effekt einer Verhaltensweise – etwa einem Drogen-Kick – zu assoziieren. Bei Alkoholikern kann bereits das Knallen eines Korkens, bei Rauchern der Anblick eines Feuerzeugs das Craving auslösen. Bei Kokainsüchtigen, denen im Rahmen einer Studie ein Film mit Kokainkonsumenten gezeigt wurde, schnellte im Gehirn der Dopaminspiegel in die Höhe, während die Probanden gleichzeitig ein unstillbares Verlangen nach der Droge verspürten.
Diese und viele weitere Befunde legen nahe, dass Dopamin weniger als direkter Mittler euphorischer Gefühle – also nicht als «Glückshormon» – fungiert, wie früher angenommen wurde, sondern viel eher die Erwartung einer Belohnung widerspiegelt. Je grösser die erwartete Belohnung beziehungsweise die Aussicht, dass sie «die Dinge besser macht», desto stärker das Dopaminsignal und desto tiefer die Einprägung dieses Zusammenhangs im Gehirn. Fällt die Belohnung dann geringer aus als erwartet, kann das gesunde Gehirn seine Reaktion rasch korrigieren. Bei Suchtkranken scheint dieser Anpassungsprozess aus dem Ruder zu laufen: Einmal erlernte Auslösersignale wie der Anblick eines Feuerzeugs lösen selbst dann ein Verlangen aus, wenn die persönliche Erfahrung längst gezeigt hat, dass der Konsum des Suchtmittels die Dinge nicht wirklich besser macht.
Nicht alle Menschen sind gleichermassen gefährdet, von Nikotin oder anderen Suchtmitteln abhängig zu werden. Im Falle von Nikotin lassen Zwillingsstudien vermuten, dass die Anfälligkeit zu etwa 50 Prozent erblich bedingt ist. Auch wenn man die Grundlagen dieser Veranlagung noch nicht im Detail versteht, scheint klar zu sein, dass dabei mehrere Gene zusammenwirken, von einem einzigen «Rauchergen» also nicht die Rede sein kann. Unter anderem dürften Erbanlagen beteiligt sein, die für Dopaminrezeptoren codieren. Einige Anhaltspunkte sprechen dafür, dass erblich bedingte Unterschiede der Rezeptordichte im Belohnungszentrum die Anfälligkeit für Suchtkrankheiten massgeblich beeinflussen.
Natürlich spielen bei der Suchtentstehung neben dem Dopamin zahlreiche weitere Neurotransmitter eine Rolle. Zudem weiss man heute, dass Nikotin und andere Suchtsubstanzen die Anatomie der Nervenfortsätze in den Motivations- und Belohnungsnetzwerken verändern können. Angesichts dieser komplexen Zusammenhänge harren noch viele Fragen einer schlüssigen Erklärung; etwa jene, warum Stress oder schwierige Lebenssituationen die Anfälligkeit für eine Nikotinabhängigkeit erhöhen oder warum psychisch Kranke in höchstem Mass gefährdet sind – laut einer amerikanischen Studie stellen sie 40 Prozent aller Rauchenden.
Hilfen gegen die Lust am Rauchen
Angesichts der tiefgreifenden Wirkung von Nikotin auf das Gehirn erstaunt es nicht, dass es nur 2 bis 3 Prozent der Raucher alleine schaffen, ihr Laster abzulegen und während mindestens eines Jahres abstinent zu bleiben. Doch gibt es heute Möglichkeiten, diese Chancen deutlich zu erhöhen. Allein schon die Begleitung durch geschulte Fachpersonen, die helfen, eingespieltes Verhalten und Reaktionen zu überlisten, vermag die Abstinenzrate deutlich zu verbessern.
Ergänzend stehen heute verschiedene pharmakologische Hilfsmittel zur Verfügung. Nikotinhaltige Kaugummis, Pflaster, Lutschtabletten und Nasensprays führen zu einer sanften Stimulation des Belohnungssystems im Gehirn und mildern damit Entzugserscheinungen, die in den ersten Wochen der Abstinenz typischerweise auftreten. Da diese vorübergehend eingesetzten Nikotinersatzprodukte – mit Ausnahme des Nasensprays – den Wirkstoff nur langsam freisetzen, erzeugen sie im Gehirn nicht jene stossartigen Veränderungen, die das Rauchen so reizvoll machen. Sie erhöhen die Abstinenzrate um 50 bis 70 Prozent.
Eine andere Methode verfolgt das in der Schweiz seit 2006 zugelassene Medikament Champix (Vareniclin). Es soll Raucher dadurch aus der Abhängigkeit führen, dass es das Nikotin seines belohnenden Effekts teilweise beraubt. Der synthetische Wirkstoff dieses Medikaments bindet im Gehirn an Nikotinrezeptoren, stimuliert aber das Belohnungszentrum nur etwa halb so stark wie Nikotin. Gleichzeitig versperrt es dem Nikotin den Zugang zu diesen Rezeptoren. Er schränkt dadurch die Lust am Rauchen ein und lässt Entzugserscheinungen erträglicher ausfallen. Laut einer Metaanalyse, die letztes Jahr die Resultate von neun placebokontrollierten Studien mit Vareniclin zusammenfasste, lässt sich die Abstinenzrate mit dieser chemischen Krücke verdoppeln bis verdreifachen. Seit einiger Zeit mahnen allerdings Berichte über schwere Nebenwirkungen – unter anderem wurde Champix mit Selbstmordgedanken in Verbindung gebracht – besonders bei psychisch Kranken zur Vorsicht. Entsprechende Warnungen sind heute im Beipackzettel des Medikaments enthalten.
Gegen das Rauchen impfen
Auch Impfstoffe gegen Nikotin wurden in den letzten Jahren entwickelt. Ihr Wirkkonzept besteht darin, das kleine Nikotinmolekül an ein Trägereiweiss zu koppeln, damit es für das Immunsystem sichtbar wird und die Bildung von Antikörpern anregt. Die in der Blutbahn kreisenden Antikörper sollen dann die Nikotinmoleküle abfangen, bevor sie ins Gehirn gelangen.
Nach diesem Prinzip wurde von der Schweizer Biotechfirma Cytos ein Impfstoff entwickelt, der auf einem Virusprotein basiert. Wie eine klinische Phase-2-Studie 2005 ergab, blieben 42 Prozent derjenigen Raucher, die die höchsten Antikörperspiegel aufwiesen, nach der Behandlung ein Jahr lang abstinent. Bei den «low responders» mit den niedrigsten Antikörperspiegeln lag die Erfolgsrate dagegen mit nur 26 Prozent kaum über dem der Placebo-Vergleichsgruppe. Als Nebenwirkungen traten vor allem grippeähnliche Symptome auf. In Zusammenarbeit mit Novartis wurde seither eine weitere Phase-2-Studie durchgeführt. Ihre Resultate sind jedoch wider Erwarten bis heute nicht veröffentlicht – für die Wirtschaftspresse Anlass zu Spekulationen, sie könnten nicht nach Wunsch ausgefallen sein.
Ähnliche Projekte verfolgen die britische Firma Celtic Pharma und die amerikanische Firma Nabi. Letztere fand in einer klinischen Studie eine Abstinenzrate von durchschnittlich 15 Prozent, doch auch hier lag die Rate in der Probanden-Gruppe mit den höchsten Antikörperspiegeln deutlich höher. Gemäss den bis heute verfügbaren Daten verspricht eine Impfung gegen das Rauchen bei ausreichender Antikörperbildung also durchaus einen gewissen Nutzen, auch wenn seine Grösse noch evaluiert werden muss.
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