Tages Anzeiger Magazin 04.09.2010
Der sinnlose Wettbewerb
Im Gesundheitsbereich, in Bildung und Wissenschaft werdenjede Menge künstliche Wettbewerbeinszeniert. HöchsteZeit zur Umkehr. Ein Plädoyer von Mathias Binswanger
Völker und Kulturen haben zu allen Zeiten immer wieder an und für sich wertlose Dinge und sinnlose Normen als erstrebenswert oder sogar sakrosankt erklärt. Und die Menschen waren dann jeweils dazu verdammt, sich einen Wettkampf beziehungsweise Wettbewerb um deren Erfüllung oder Besitz zu liefern. Angenehm war das selten. Schlimmstenfalls war es eine Tortur für die Opfer, bestenfalls führte er einfach zu einer Verschwendung von Zeit und Ressourcen. Diese fehlten dann aber bald einmal für wichtige Dinge, eine Degeneration von Volk und Kultur ist die logische Folge.
Die Chinesen lieferten dafür schöne Anschauungsbeispiele, die uns, da sie aus einer andern Zeit und einem andern Kulturkreis stammen, besonders pervers oder absurd erscheinen.
Über etwa 1000 Jahre, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, war das Leben einer Frau darauf ausgerichtet, möglichst kleine Füsse zu haben. Solche sogenannten Lotusfüsse entsprachen dem weiblichen Schönheitsideal, das es unter allen Umständen anzustreben galt. Das Leben einer jungen Chinesin wurde dadurch zu einer erbarmungslosen Tortur, die schon im zarten Mädchenalter begann. Um die Füsse der jungen Frauen auf die gewünschte Grösse zu bringen, wurden, beginnend vom Alter zwischen zwei und fünf Jahren, die Zehen gnadenlos unter die Ballen gebunden, bis irgendwann die Knochen brachen und der Fuss in sich zusammenklappte. Die Folge davon waren massenhaft verkrüppelte Füsse. Zahllose Mädchen litten ein Leben lang daran, zehn Prozent starben an den Begleiterscheinungen.
Ein weiteres Beispiel aus China zeigt, wie perverse Anreize nicht zu körperlichen, sondern zu geistigen Deformationen führten.
Gemäss Konfuzius, dem Begründer der in China über lange Zeit dominierenden konfuzianischen Lehre, waren gelehrte Beamte für den Staat unabdingbar. Folglich etablierte sich ein System von kaiserlichen Examen für potenzielle Beamte, die während rund 1300 Jahren durchgeführt wurden. Eigentlich vernünftig, denn welches Land wünscht sich nicht gebildete Beamte? Doch im Verlaufe der Zeit wurden die Prüfungen immer formaler und entfernten sich mehr und mehr von der gelebten Realität. Sie wurden zu einem Wettbewerb im Auswendiglernen formaler Floskeln, die der Qualität des chinesischen Beamtentums keinesfalls zuträglich waren. Erst im Jahre 1905 wurde dieses Prüfungssystem dann definitiv aufgegeben. Aber da war es auch mit dem Kaiserreich schon fast vorbei.
Doch warum wurde während Jahrhunderten an diesem Unsinn festgehalten? Die Antwort ist: Weil es auch Profiteure dieses Systems gab, die jeweils in mächtigen Positionen waren. Kleine Füsse galten nicht nur als attraktiv, sondern schränkten auch die Bewegungsfreiheit der Frauen erheblich ein. Sie waren also für die Männer besser kontrollierbar. Auch die in sinnlosen Formalismen erstarrten Beamtenprüfungen dienten dem Erhalt und der Zementierung von Macht: der Macht des Kaisers und seiner konservativen Beamtenschar. Angehende Beamte kamen dadurch weniger auf gefährliche neue Ideen.
Auch Europa weist hier eine reiche Tradition an Absurditäten auf, wenn wir nur an das System der Blutrache im Balkan oder die Verteidigung der männlichen Ehre durch häufige Duelle in früheren Jahrhunderten denken. Was wir als normal oder erstrebenswert erachten, ist zu einem grossen Teil gesellschaftlich beziehungsweise kulturell bedingt. Und erst wenn man mit andern Kulturen konfrontiert wird oder die Gesellschaft massiv unter sich selbst zu leiden beginnt, werden diese Normen als hohl entlarvt.
Die heutigen gesellschaftlichen Ideale kommen in abstrakten Begriffen wie «Effizienz», «Exzellenz», «Leistung», «Markt», «Wettbewerbsfähigkeit», «Innovation» oder «Wachstum» zum Ausdruck. In unzähligen Wettbewerben versuchen wir, uns gegenseitig mit diesen Idealen zu übertrumpfen. Immer noch effizienter, exzellenter, wettbewerbsfähiger und innovativer muss man werden, auch wenn man in Wirklichkeit gar nicht so genau weiss, warum und wozu. In unserer durchsäkularisierten Gesellschaft sind diese Begriffe zu den letzten, nicht mehr zu hinterfragenden Werten geworden, denen zu dienen unser höchstes Ziel ist. Ein «anständiger» Bürger fragt nicht weiter, warum es immer mehr Wettbewerb oder Wachstum braucht. Schliesslich hat man in früheren Gesellschaften auch nicht gefragt, wozu Gott denn notwendig sei.
Vermeintlich muss man sich diese Frage auch nicht stellen, denn wir leben in einer Marktwirtschaft. Und ein Marktwettbewerb sollte automatisch dafür sorgen, dass die Dinge produziert werden, die am meisten Nutzen stiften. Mit der Produktion sinnloser Dinge käme man da, so scheint es, nicht weit. Dort, wo sich mehr oder weniger vollständige Märkte etabliert haben, stimmt das auch. Wer ungeniessbare Lebensmittel herstellt, wird bald vom Markt verschwinden. Doch in vielen Bereichen der Wirtschaft gibt es keine oder nur unvollständig funktionierende Märkte. Und da ist man im Zuge einer zunehmenden Markt- und Wettbewerbsgläubigkeit auf die fatale Idee gekommen, künstliche Wettbewerbe zu inszenieren, um so die angebliche überlegene Effizienz der Marktwirtschaft bis in den hintersten Winkel jeder öffentlichen und privaten Institution voranzutreiben. Mit missionarischem Eifer werden überall Leistungsanreize gesetzt, doch was dabei als Leistung herauskommt, ist in Wirklichkeit ein gigantischer Unsinn. Ein neues Gespenst geht also um in Europa. Es ist das Gespenst des künstlichen Wettbewerbs, das sich zu einer neuen Ideologie entwickelt hat, in die wir uns verrannt haben.
Ein Markt lässt sich nicht künstlich inszenieren. Künstlich inszenieren lassen sich nur Wettbewerbe, aber diese sorgen nicht dafür, dass die Produktion optimal auf die Bedürfnisse der Nachfrager angepasst ist. Nur wo Wettbewerb und Markt zusammenfallen und Marktwettbewerb herrscht, kann die von Adam Smith beschriebene «unsichtbare Hand» unter bestimmten Bedingungen über das Preissystem wirken und für Effizienz sorgen. Bei Wettbewerben ohne Markt ist das hingegen nicht der Fall. Statt an den Bedürfnissen der Nachfrager, orientieren sich die Produzenten eines Produktes oder einer Leistung an Kennzahlen oder Indikatoren, die für den Erfolg im Wettbewerb massgebend sind. Die Ausrichtung an diesen führt jedoch nicht zu Effizienz, sondern sorgt für perverse Anreize, die dann folgerichtig perverse Resultate ergeben.
Zwei historische Beispiele für künstlich inszenierte Wettbewerbe:
Während der Kolonialzeit hatten die Franzosen im vietnamesischen Hanoi mit einer Rattenplage zu kämpfen. Als Anreiz bezahlten sie den Einheimischen für jeden abgelieferten Rattenpelz eine Prämie. Das perverse Resultat davon: Die Leute begannen, Ratten zu züchten.
Das zweite Beispiel betrifft wiederum China.
Im 19. Jahrhundert wurden dort Knochen von Dinosauriern entdeckt. Die mit diesen Knochen beschäftigten Paläontologen versuchten, die Bauern zur Mitsuche zu animieren, weshalb sie auf jeden abgelieferten Knochenteil einen Finderlohn versprachen. Sobald die Bauern einen grösseren Knochen fanden, zerschlugen sie ihn in kleinere Teile, um möglichst hohe Prämien zu kassieren.
Diese Beispiele sind hochaktuell. Ersetzen wir im ersten Beispiel die Ratten durch Krankheiten, die Bewohner von Hanoi durch Ärzte und die französische Kolonialregierung durch das staatliche Gesundheitssystem, dann haben wir eine ziemlich gute Beschreibung der gegenwärtigen Situation. Natürlich ist es nicht so, dass Ärzte beziehungsweise die hinter ihnen stehende Pharmaindustrie direkt Krankheitserreger züchten und dann die Bevölkerung damit verseuchen. Das brauchen sie auch gar nicht zu tun. Es reicht, immer neue Krankheiten zu «entdecken», deren Bekämpfung oder Vermeidung (Prävention) man sich dann bezahlen lässt. So wie die Bewohner für abgelieferte Rattenpelze bezahlt wurden, so werden Ärzte für geheilte oder verhinderte Krankheiten bezahlt. Es lohnt sich also für diese. Das Resultat sind stets steigende Gesundheitskosten und eine stets krank bleibende Gesellschaft.
Auch das zweite Beispiel mit den Dinosaurierknochen ist hochaktuell. So werden Wissenschaftler heute danach beurteilt, wie viele Artikel sie in angesehenen Fachzeitschriften publizieren, was zu einem gnadenlosen Publikationswettbewerb führt. Zu viel Inhalt in einen einzigen Artikel hineinzupacken, wäre deshalb unklug. Also zerstückeln Wissenschaftler, wenn sie eine Idee haben, diese, um möglichst viel herauszuholen. Das ist die sogenannte Salamitaktik, nach der neue Ideen oder interessante Datensätze dünn wie Salamischeiben aufgeschnitten werden, um die Anzahl der Publikationen zu maximieren. Damit dann der einzelne Artikel trotzdem nach etwas aussieht, werden Belanglosigkeiten zu hochkomplexen Modellen aufgeblasen oder in Wissenschaftsjargon verpackt. Dadurch sind Inhalte in vielen wissenschaftlichen Artikeln zur Nebensache verkommen. Was zählt, ist die Form.
Aufgrund solcher künstlich inszenierter Wettbewerbe wird massenhaft Unsinn produziert. Da werden von Wissenschaftlern mit Akribie jedes Jahr in Tausenden von Fachzeitschriften über Hunderttausende von Seiten Fragen beantwortet, deren Antwort niemand wissen will. In unzähligen Projekten werden von Strategen Konzepte für Reformen und Neuorganisationen entworfen, ohne jeden Bedarf. Immer mehr junge Menschen werden ausgebildet, um irgendwelche Bachelors und Masters zu erwerben, die nichts zu ihrem beruflichen Können beitragen. Es werden immer mehr medizinische Tests für die Prävention von Krankheiten durchgeführt, die nie eintreten. Und wenn wir ein für uns geeignetes Joghurt oder eine geeignete Universität auswählen wollen, werden wir mit aufwendig erstellten Qualitätslabels und Zertifikaten konfrontiert, die uns bei der Auswahl keine Hilfe sind.
Die Produktion nutzloser Erzeugnisse schafft zwar Arbeitsplätze, doch verhindert sie die Produktion der qualitativ wertvollen Erzeugnisse. Sinn wird durch Unsinn verdrängt, Qualität durch Quantität und die Freude an einer Tätigkeit durch Zuckerbrot und Peitsche.
Auf diese Weise ist eine neue Wettbewerbsbürokratie entstanden, welche die alte Beamtenbürokratie abgelöst hat. Doch die ist viel raffinierter, da sie unter dem Deckmantel von Markt, Wettbewerb und Effizienz daherkommt. Hinter diesem ganzen Unsinn steckt aber keine keynesianische Weltverschwörung zur staatlichen Arbeitsbeschaffung. Vielmehr ist er das Resultat einer sich global ausbreitenden Pervertierung der Marktwirtschaft, die darin besteht, überall künstliche Wettbewerbe um messbare Kennzahlen zu inszenieren.
Und jetzt? Was tun? Die erste und wichtigste Botschaft lautet: Aufhören damit! Vor allem in der Forschungs-, Bildungs- und Gesundheitspolitik muss man über die Bücher gehen. Bei jedem einzelnen Wettbewerb gilt es, die damit verbundenen perversen Anreize, Verdrängungseffekte sowie die neu entstehende Bürokratie systematisch aufzuzeigen und den behaupteten Vorteilen gegenüberzustellen. Dabei müssen auch die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Im Normalfall werden Wissenschaftler, Lehrer, Ärzte oder Krankenschwestern ja einfach zur Teilnahme an solchen Wettbewerben genötigt. Der Grund dafür ist klar. Würde man die Betroffenen fragen, dann wären die meisten Wettbewerbe gar nie eingeführt worden, und dieses Risiko möchte die Politik nicht einmal in einem so demokratischen Staat wie der Schweiz eingehen.
Im Grunde lässt es sich stoppen, indem den damit verbundenen Aktivitäten der Geldhahn zugedreht wird. Das heisst, der Staat finanziert von nun an weder Datenerhebungen, die solchen Wettbewerben dienen, noch die Erstellung von Rankings und Evaluationen mit diesen Daten. In welche Richtung sollten wir also gehen? Hierzu ein paar zentrale Grundsätze.
1. Nicht alle Schafe als potenziell schwarze behandeln!
Sowohl in Wissenschaft, Bildung als auch im Gesundheitswesen entstehen qualitativ gute Arbeit und Höchstleistungen dadurch, dass man fähigen Menschen die Chance gibt, sich in einer möglichst freien Umgebung zu entfalten. Deshalb ist es kontraproduktiv, Wissenschaftler, Professoren, Lehrer oder Ärzte unter den Generalverdacht der Leistungsverweigerung zu stellen und in jedem ein potenziell schwarzes Schaf zu vermuten, aus dem man eine gute Leistung mit einem Zuckerbrot herauskitzeln oder mit der Peitsche herausprügeln muss. Auf diese Weise verdrängt man erstens die intrinsische Motivation der eigentlich motivierten Menschen, wodurch echte Höchstleistungen mehr und mehr ausbleiben. Zweitens holt man aus unmotivierten oder wenig fähigen Menschen selbst mit noch so grossen Zuckerbroten und drohenden Peitschen keine Höchstleistungen heraus. Nicht Kontrolle, sondern Vertrauen sollte die Basis sein, denn nur so kann eine Atmosphäre entstehen, in der hohe Leistungen möglich sind. Damit die Zahl der schwarzen Schafe gering bleibt, darf es aber nicht zu leicht sein, Wissenschaftler, Lehrer oder Arzt zu werden. In der Medizin ist das heute nach wie vor gewährleistet, wenn auch nicht unbedingt auf die richtige Art, da das Medizinstudium immer technokratischer ausgerichtet ist. In andern Bereichen droht jedoch aufgrund der Vermassung der tertiären Bildung ein Absinken des Niveaus. Das lässt dann wiederum inszenierte Wettbewerbe als notwendig erscheinen, die diese Funktion aber nicht erfüllen können, da echte Qualität dort gar nicht zählt.
2. Nichtmessbarkeit von Qualität akzeptieren!
Nach wie vor ist der Glaube an die Möglichkeit einer quantitativen Erfassung von qualitativen Leistungen weit verbreitet, obwohl sich ständig von neuem zeigt, dass dies nicht geht. Aber man ist heute dermassen auf Messbarkeit fixiert, dass Aussagen, die sich nicht mit Zahlen «beweisen» lassen, kaum etwas gelten. Von dieser Messbarkeitsillusion muss man sich endgültig lösen. Und das ist nur möglich, wenn verlogene Begriffe wie Qualitätskennzahlen oder Qualitätsindikatoren von der Bildfläche verschwinden. Qualität ist grundsätzlich nicht messbar, und das gilt es zu akzeptieren. Es spricht nichts dagegen, Kennzahlen zu definieren und zu ermitteln, aber diese dürfen nicht mit Qualität gleichgesetzt werden. Man kann durchaus die Zahl der Dreifachsprünge bei einer Eiskunstlaufkür messen, aber diese Zahl ist nicht identisch mit ihrer Qualität. Und wenn man versucht, der Qualität mit immer mehr Indikatoren auf die Spur zu kommen und ganze Indikatorensysteme kreiert, dann sieht man schnell einmal vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr. Und ein immer genaueres Ausmessen von Bäumen ermöglicht einem nicht, die Qualität des Waldes besser zu verstehen.
Der Grundsatz sollte also lauten: Was man nicht messen kann, soll man nicht quantifizieren. Denn alle diese Quantifizierungen verführen dazu, die «Qualität» dann doch anhand von Zahlen zu beurteilen, was wieder für perverse Anreize sorgt. Besonders verführerische und deshalb meist auch schädliche Kennzahlen sollten deshalb gar nicht mehr erhoben werden.
3. Effizienz in erweitertem Rahmen verstehen!
Wenn man Qualität nicht messen kann, dann muss auch der Begriff der Effizienz überdacht werden. Solange man Effizienz anhand von quantitativ messbaren Indikatoren zu erfassen versucht, befindet man sich auf dem Holzweg. Nicht der Wissenschaftler ist effizient, der möglichst viele Artikel publiziert, sondern derjenige, der einen wesentlichen Beitrag zur Erkenntnis beziehungsweise zum Fortschritt liefert. Und nicht der Arzt ist effizient, der möglichst viele Vorsorgeuntersuchungen macht, sondern jener, der korrekte Diagnosen stellt und dann alles unternimmt, um Patienten rasch zu heilen. Doch die eben erwähnten Kriterien von tatsächlich relevanter Effizienz entziehen sich der Messbarkeit. Es geht stets darum, komplexe und nur qualitativ beschreibbare Leistungen zu erbringen, weshalb auch die Effizienz selbst nur noch qualitativ erfassbar ist.
4. Subjektive Verantwortung übernehmen, statt sich auf pseudoobjektive Zahlen verlassen!
Wenn sich Qualität nicht objektiv messen lässt, dann bleiben nur subjektive Beurteilungen oder Einschätzungen von qualitativen Leistungen. Und solche scheuen die meisten Führungskräfte wie der Teufel das Weihwasser. Denn subjektive Urteile sind stets angreifbar. Auch können sie sich später als falsch herausstellen, und man ist dann gezwungen, die Konsequenzen dafür zu tragen. Zwar werden Führungskräfte nicht müde, nach aussen ihre Verantwortungsbereitschaft zu unterstreichen, aber in der Realität versuchen sie, diese Art von Verantwortung tunlichst zu vermeiden. Das klappt wiederum am besten, indem man sich auf Kennzahlen verlässt, die Pseudoobjektivität vorgaukeln und damit zur Rechtfertigung von Entscheiden herangezogen werden können. Stattdessen sollten Führungskräfte den Mut haben, in ihrem Bereich subjektive Urteile abzugeben, denn an diesen führt letztlich kein Weg vorbei.
Das soll nun keineswegs als Einladung zur Willkür verstanden werden; auch subjektive Urteile müssen begründet werden. Und es ist darauf zu achten, dass auch Zweit- und Drittmeinungen eingeholt werden, sodass Entscheide nicht von der Laune einer einzigen Führungskraft abhängen. Zum Beispiel soll ein Arzt Betablocker aufgrund seiner subjektiven Einschätzung eines Patienten vergeben und nicht grundsätzlich bei jedem Herzinfarkt, nur weil die Verabreichung von Betablockern als «objektives» Qualitätskriterium verwendet wird. Und die Bildung in einem Land soll nicht aufgrund von angeblich objektiven Pisa-Resultaten oder Maturaquoten (Abiturquoten) eingeschätzt werden, sondern vor allem aufgrund des im Berufsleben und im Alltag feststellbaren Bildungsstandes der Menschen eines Landes.
Wenn subjektive Urteile wieder eine stärkere Rolle spielen, bedingt dies allerdings, dass die Komplexität der Arbeit für viele Entscheidungsträger zunimmt. Diese müssen sich dann wieder mit Inhalten und mit Individuen beschäftigen. Sie können sich nicht mehr einfach auf Kennzahlen stützen, von denen sie häufig nicht einmal wissen, wie sie genau erhoben oder berechnet werden. Der Mehraufwand lohnt sich. Die Verdrängung des Inhaltes durch Form ist nämlich eines der Hauptprobleme der Verwendung von «objektiven Kennzahlen». Immer mehr «Leistungen» und «Qualitäten» werden gemessen, evaluiert und beurteilt, ohne dass jemand eine Ahnung hat, was sich dahinter verbirgt. Mit diesem professionellen Dilettantismus gilt es aufzuhören.
5. Nicht über die Köpfe der Beteiligten hinweg entscheiden!
Wettbewerbe werden wie alle Reformen im öffentlichen Sektor von «oben herab» verordnet, ohne dass die dem Wettbewerb ausgelieferten Subjekte dazu etwas zu sagen haben. In privaten Grossunternehmen gilt das erst recht. Es herrscht eine Kultur des Besserwissertums, wo Politiker, Beamte und Experten «optimale Lösungen» ausarbeiten, ohne von deren Konsequenzen im Geringsten betroffen zu sein. Die negativen Konsequenzen dürfen Lehrer, Ärzte, Wissenschaftler und andere von Wettbewerben betroffene Berufsgruppen ausbaden, ohne dass sie Möglichkeiten haben, daran etwas zu ändern. Es wird einfach im Namen des hehren Ziels von «mehr Effizienz» über ihre Köpfe hinweg entschieden, ohne dass die Entscheidungsträger wissen, was sie damit anrichten.
Also: keine Wissenschaftspolitik ohne Wissenschaftler, keine Bildungspolitik ohne Lehrer und keine Gesundheitspolitik ohne Ärzte.
Hier haben wir nach wie vor ein erhebliches, aber bislang kaum bemerktes Demokratiedefizit in der Verwaltung öffentlicher Institutionen. Um dieses Defizit abzubauen, muss vor allem die in letzter Zeit vorangetriebene «Professionalisierung» von Universitäten, Spitälern, Schulen gestoppt werden. Solange diese Institutionen von professionellen Managern, Präsidenten und Verwaltern geführt werden, sind Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg vorprogrammiert. Ist hingegen die entsprechende Führungskraft ein Primus inter Pares, wie früher oft, dann ist diese Gefahr weniger gross. Eine Universität sollte deshalb von einem über eine bestimmte Zeit für dieses Amt gewählten Rektor geführt werden statt eines sogenannt professionellen Präsidenten. Und bei einem Spital sollte entsprechend ein Arzt an der Spitze stehen statt eines «professionellen» Spitalmanagers. Das heisst allerdings nicht, dass die Kosten dann keine Rolle mehr spielen. Aber diese dürfen nicht zum Mass aller Dinge werden. Denn gerade die auch zur Kostendämpfung inszenierten Wettbewerbe sind es ja, die zur Produktion von Unsinn führen und in Wirklichkeit neue Ineffizienzen schaffen.
6. Möglichst direkte Verteilung von Geldmitteln!
Früher erhielten Universitäten oder Spitäler vom Staat bestimmte Summen für ihre Leistungen und entschieden dann weitgehend selbst, wie sie diese Mittel genau einsetzten. Öffentliche Institutionen waren relativ autonom, wie dies auch dem Prinzip der Subsidiarität entspricht. Politische Entscheidungen und damit auch die Entscheide über Geldvergaben sollen möglichst vor Ort und auf der tiefstmöglichen politischen Ebene gefällt werden.
Von dieser Autonomie ist nicht mehr viel zu spüren. Geld wird immer weniger direkt an Institutionen vergeben. Es wird stattdessen weit oben in der Verwaltungshierarchie in riesigen Töpfen gesammelt, und die potenziellen Empfänger müssen sich dann mit grossem Aufwand in künstlich inszenierten Wettbewerben darum bemühen. Damit das nicht zu einfach wird, beschäftigen die entsprechenden Behörden (EU) einen ganzen Beamtenapparat, der sich ständig Massnahmen überlegt, wie man diesen Prozess noch «optimaler» (das heisst komplizierter) machen könnte, denn dafür werden diese Beamten bezahlt. Das Resultat ist eine immer grössere Ineffizienz und Intransparenz. Statt direkter Mittelvergabe haben wir komplexe Geldumverteilungsmechanismen zwischen staatlichen Institutionen, was wiederum einen Grossteil der Wettbewerbsbürokratie ausmacht, die gewaltige Ressourcen an Geld und Zeit verschlingt.
Diese Tendenz gilt es, wieder umzukehren. Finanzielle Mittel sollen möglichst ohne Umwege an die entsprechenden Institutionen und Personen gelangen. Die Rückkehr zu einer direkten Mittelvergabe ist ein entscheidender Beitrag zum Bürokratieabbau und zu mehr Effizienz. Natürlich müssen die Institutionen und ihre Mittelvergaben dann hin und wieder kontrolliert werden, doch auch hier gilt: nicht alle als potenziell schwarze Schafe behandeln!
Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus dem jetzt erscheinenden Buch «Sinnlose Wettbewerbe – Warum wir immer mehr Unsinn produzieren», Herder-Verlag.
Mathias Binswanger ist Professor für Volkswirtschaft an der Fachhochschule Nordwestschweiz in Olten sowie Privatdozent an der Universität St. Gallen.
mathias.binswanger@fhnw.ch
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