Die Russen blicken so optimistisch in die Zukunft wie schon lange nicht mehr. Für einen grossen Teil der Bevölkerung hat sich der Lebensstandard verbessert. Iwan Normalverbraucher kümmert sich wenig um Demokratie und Menschenrechte und befürwortet die neue selbstbewusste Politik des Kremls. Der Westen muss sich von der Illusion lösen, dem Land seine eigenen Werte aufzwingen zu können. Der Wandel muss von innen kommen.
13. Februar 2007, Neue Zürcher Zeitung
Die Grenzen der Lehrmeisterei
Während es Russland immer besser geht, betrachtet Europa das Land immer mehr als Bedrohung
Die Russen blicken so optimistisch in die Zukunft wie schon lange nicht mehr. Für einen grossen Teil der Bevölkerung hat sich der Lebensstandard verbessert. Iwan Normalverbraucher kümmert sich wenig um Demokratie und Menschenrechte und befürwortet die neue selbstbewusste Politik des Kremls. Der Westen muss sich von der Illusion lösen, dem Land seine eigenen Werte aufzwingen zu können. Der Wandel muss von innen kommen.
Igor Awerkijew leitet die Zivilkammer beim Gouverneur in der Industriestadt Perm, eine von Präsident Putin ins Leben gerufene Institution. Viele Regimekritiker sehen diese als Versuch, einen machtkonformen Ersatz für die Zivilgesellschaft zu schaffen. Dabei scheint gerade im Gebiet Perm etliches anders zu sein. In Perm befindet sich zum Beispiel ein einzigartiges Straflager-Museum, Perm-36, das aus dem regionalen Etat finanziert wird. Und bei den letzten Wahlen zur regionalen Duma hat die liberale Partei Union Rechter Kräfte (SPS), dem administrativen Druck seitens des Kremls zum Trotz, über sechzehn Prozent der Stimmen holen können. Für die liberale Öffentlichkeit gilt Perm deshalb als Ausnahme, welche die Regel bestätigt: Seine lebendige Zivilgesellschaft scheint ihr lediglich Beweis dafür, dass die Zivilgesellschaft im übrigen Land erwürgt wird.
Auch in Deutschland, wo besonders viele Verbände sich für die russische Zivilgesellschaft engagieren, sieht man den in Russland wachsenden Autoritarismus mit Sorge. Awerkijew versteht diese Schwarzmalerei nicht. «Wenn ich im Ausland bin», sagte er auf einer Berliner Tagung über Xenophobie in Russland, «habe ich das Gefühl, dass ich aus einem faschistischen Staat eingereist komme und ein Opfer bin. Russland ist aber kein faschistischer Staat, und ich bin kein Opfer. Mir geht es gut, und ich tue das, was ich für richtig halte. Und überhaupt», fügte er hinzu, «man sollte aufhören, uns Geld zu geben. Wir kommen schon selbst zurecht.»
Neues Selbstbewusstsein
Manche unter den Anwesenden reagierten mit Unmut auf solche Selbstgerechtigkeit. Die einen unterstellten dem engagierten Menschenrechtler, er sei ein Sprachrohr des Regimes geworden; die anderen erschraken angesichts der Perspektive, sie könnten ihre Existenzberechtigung als «Demokratie-Promoter» verlieren. Dabei kam in Awerkijews irritierender Replik sowohl ein neues Selbstbewusstsein als auch ein Vertrauen in die eigenen Kräfte zum Ausdruck. Diese Zuversicht teilt Awerkijew mit einer wachsenden Anzahl seiner Landsleute. Und viele im Westen können damit wenig anfangen.
Tatsächlich steht die zunehmend kritische Einstellung der westlichen Öffentlichkeit zur Entwicklung in Russland im krassen Widerspruch zur Selbsteinschätzung der russischen Bevölkerung. So war laut Umfragen des Lewada-Zentrums das vergangene Jahr eines der ruhigsten und glücklichsten. 46 Prozent der Russen blicken optimistisch in die Zukunft. Die Ursache ist eine reale Verbesserung der Lebensstandards eines bedeutenden Teils der Bevölkerung. Die Ergebnisse der Reformen, die Anfang der neunziger Jahre in Gang gesetzt wurden, kommen endlich auch dem Durchschnittsmenschen zugute. Iwan Normalverbraucher, der dank billigen Krediten nun seine lange angestauten Konsumträume verwirklichen kann, interessiert sich kaum für Demokratie und Menschenrechte, er ist auch durch die Ermordung von Anna Politkowskaja oder Alexander Litwinenko nicht aus der Laune zu bringen und pfeift auf die westliche Kritik. Nach der Niederlage im Kalten Krieg hat er an Selbstbewusstsein gewonnen und heisst die Politik des Kremls, auch dessen Grossmachtgebärden, gut.
Normative Optik
Das aus russischer Sicht erfolgreiche Jahr 2006 erscheint in der Wahrnehmung der westlichen Öffentlichkeit indes als eines der beunruhigendsten nach dem Auseinanderfallen der Sowjetunion. Allerdings gab es schon lange nicht mehr so viele Ereignisse in so kurzer Zeit, die ein so heftiges Unbehagen an Russland und Zweifel an seiner aussenpolitischen Berechenbarkeit hatten aufkommen lassen.
Nach dem Abdrehen des Gashahns für die Ukraine kam der Konflikt mit Georgien, der von einer Handelsblockade gegenüber dem kleinen Land sowie von der Deportation georgischer Staatsangehöriger aus russischen Städten begleitet wurde. Gleichzeitig kam es zu einer feindlichen Übernahme der Anteile des von Shell geführten Energiekonsortiums, das seit Mitte der neunziger Jahre in die Förderung der Öl- und Gasvorkommen bei Sachalin investiert hatte, durch Gazprom. Am Jahresende hat Russland wegen des Konflikts mit Weissrussland die Ölversorgung europäischer Raffinerien für drei Tage unterbrochen. Das dubiose Gesetz, das ausländische und russische NGO unter staatliche Kontrolle stellt, der Mord an der kritischen Journalistin Anna Politkowskaja und die Polonium-Affäre haben das Ihre getan, um den Ruf Russlands zu beschädigen.
Aber je kritischer die westliche Berichterstattung wird, desto mehr verschwindet das reale Leben des weiten Landes hinter den Politkrimis, und desto unverständlicher erscheint die Haltung von Leuten wie Igor Awerkijew. Die normative Optik, die ganz auf «Werte» ausgerichtet ist, beeinträchtigt die Erkenntnis des Anderen. Seit der Aufklärung beansprucht die westliche Sicht universalistische Geltung. Als Europa und dann die USA die Welt dominierten, setzte sich ihre Sicht als alternativlos durch. Heute jedoch schrumpft der Einfluss des Westens und mit ihm die Anziehungskraft seiner Werte.
«Sonderweg» ist kein blosses Etikett mehr für eine von der Demokratie abweichende Entwicklung, sondern wird wahrgenommen als legitime Besonderheit der Modernisierung bei vielen Nationen, die zum Erfolg gelangen, ohne sich um Gewaltenteilung und Menschenrechte zu scheren. Der Ölsozialismus eines Hugo Chávez, der chinesische Kommuno-Kapitalismus, zahlreiche Pseudodemokratien und staatskapitalistische Autokratien (was häufig dasselbe ist) werden von der eigenen Bevölkerung und den Nachbarn danach beurteilt, ob sie Erfolge vorweisen können.
Freilich sind die meisten dieser Länder weit weg und zivilisatorisch anders als die europäische Peripherie Russland, die schon seit Jahrhunderten versucht, den Westen einzuholen. Die russische Elite hat westliche Bildung und Wissenschaft übernommen und definiert ihre Identität mit Blick auf die europäische Kultur. Aus dieser kulturellen Affinität heraus träumten die russischen «Westler» vom «gemeinsamen Haus Europa». Der Westen fordert von Russland seinerseits eine «Transformation», die deterministisch in dessen Europäisierung gipfeln soll. Der unlängst verstorbene Moskauer Soziologe Juri Lewada zweifelte an dieser Art von Entwicklungsteleologie. «Transformation», pflegte er zu sagen, «ist kein Prozess, sondern ein Zustand».
Ein schwieriger Brocken
Mit der Erkenntnis, dass es in die Irre führt, wenn die russischen Zustände mit der westlichen Messlatte gemessen werden, wäre schon viel gewonnen. Die EU-Politiker scheinen zu glauben, dass die «Integration» Russlands in den Westen zu einer «wertebasierten Partnerschaft», das heisst zu Beziehungen, die auf den westlichen Normen basieren, führen würde. Die Integration eines so gewaltigen Gemeinwesens wie Russland in die EU würde den Import seiner «Werte», wie sie in der politischen und wirtschaftlichen Kultur ihren konzentrierten Ausdruck finden, massiv beschleunigen. Die bekannteste Verkörperung dieser Kultur ist die vom Kreml geführte Gazprom.
Russland ist ein schwieriger Brocken. Der Westen tut gut daran, sich nicht länger als Lehrmeister aufzuspielen, von der russischen Bevölkerung die Übernahme westlicher Werte abzuverlangen und sich darüber zu empören, wenn der Wertetransfer nicht so leicht funktioniert. Es ist die Sache von Igor Awerkijew und seinesgleichen, Russland voranzubringen. In seiner Stadt hat er damit Erfolg. Dass er auch scheitern kann, weiss er selber nur allzu gut.
Sonja Margolina
Sonja Margolina lebt als freie Publizistin mit Themenschwerpunkt Russland in Berlin. Zuletzt erschien im Berliner WJS-Verlag: Wodka. Trinken und Macht in Russland (2004).
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