Die NZZ zum Denkmals-Streit zwischen Estland und Russland
10. Mai 2007, Neue Zürcher Zeitung
Zur Unterdrückung befreit
Die Gegenwart der Sowjetdenkmäler in Ostmitteleuropa
10. Mai 2007, Neue Zürcher Zeitung
Zur Unterdrückung befreit
Die Gegenwart der Sowjetdenkmäler in Ostmitteleuropa
Der sogenannte Denkmalstreit zwischen Russland und Estland rückt ein Thema in den Blick, das weit über eine bilaterale Kontroverse hinausgeht. Die Frage hat jenseits ihrer diplomatischen und politischen Aspekte einen zentralen kulturellen Hintergrund. Denkmäler dieser Art standen oder stehen in allen ehemaligen Satellitenstaaten des Sowjetimperiums, in der Regel in deren Hauptstädten, von Berlin bis Sofia, von Tallinn bis Budapest. Sie ehrten zwar vordergründig die gefallenen sowjetischen Soldaten des Zweiten Weltkriegs, waren aber dezidiert als Symbole der sowjetischen Machtausübung gedacht. Sie sollten den osteuropäischen Völkern vor Augen halten, dass die Besetzung einen legitimen Ursprung habe, nämlich die Niederwerfung des deutschen Nationalsozialismus.
Das Sowjetimperium begründete seine Macht durch eine Kombination von Symbolik und Gewalt. Da in der Beherrschung Osteuropas, bei seiner Sowjetisierung, die Rote Armee, die in kürzester Zeit vom Befreier zum Besetzer geworden war, neben dem NKWD eine entscheidende Rolle spielte, war es wichtig, ihre Präsenz moralisch zu legitimieren. Stalins totalitärem Antrieb ging es nie wirklich um die Ehrung der Gefallenen, sondern vielmehr um den Nutzen, den er für seine Propaganda und seine imperialen Ziele daraus ziehen konnte. Was der einzelne Kämpfer dem Imperium wert war, bezeugt das Schicksal zahlloser Rotarmisten, die in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten waren und nach ihrer Befreiung umgehend in den Gulag verbracht wurden.
Im Übrigen waren die meisten Osteuropäer wenig erfreut über ihre Befreier. Hätten sie sich diese aussuchen können, wäre die Wahl in den meisten Fällen wohl nicht auf die Rote Armee, sondern auf Amerikaner und Engländer gefallen. Die leidvollen Erfahrungen mit der russischen Nachbarschaft, sei es in bolschewistischen oder zaristischen Zeiten, haben die Osteuropäer bereits 1945 misstrauisch reagieren lassen. - Ein Imperium, das keine öffentliche Debatte kennt, kann sich nur über eine drastische Symbolik ausdrücken. Das zeigt sich auch nach dem Ende der sowjetischen Besetzung Osteuropas. In Russland hat nie eine Aufarbeitung seiner unrühmlichen Rolle in der Beherrschung der osteuropäischen Völker nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden. Die ausgebliebene Demokratisierung Russlands, seine Wiederverankerung in einem Konglomerat aus Grössenbewusstsein, Ressourcenverschleuderung und Gesellschaftslenkung führen auch zum aggressiven Verhalten den neuen freien Staaten gegenüber.
Da diese zum Glück institutionell durch ihre Mitgliedschaften in Nato und EU im Westen fest eingebunden sind, kann die Auseinandersetzung nur symbolisch geführt werden. Ebenso wie die Denkmäler in diesen Ländern von Russland als Symbole seiner Macht angesehen werden, sind sie für die betreffenden Völker Zeichen ihrer Unterdrückung. Russland aber, das weiter denn je von einer selbstkritischen Sicht entfernt ist, missbraucht die Denkmalfrage, um Konflikte zu schüren und von relevanten Themen abzulenken. Im Inneren setzt es in bewährter Weise Schlägertrupps und staatlich geförderte Jugendgangs ein, im benachbarten Ausland Angehörige der russischen Minderheiten.
Gefordert ist eine klare Haltung der EU den demokratiefeindlichen Kreml-Machenschaften gegenüber. Estland gefährdet gewiss nicht die Stabilität des heutigen Russland. Die Angelegenheit ist ein politischer Treppenwitz. Moralisch aber zeigt sie, dass das offizielle Russland vor keinerlei Manipulation zurückschreckt und dass es weiterhin die eigenen Toten als Instrument imperialen Denkens missbraucht.
Richard Wagner
Richard Wagner, geboren im Banat, lebt als Schriftsteller in Berlin. Zuletzt erschien 2006 der Roman «Habseligkeiten».
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