10. Mai 2007, Neue Zürcher Zeitung
Russland erinnert sich an seinen grossen Sieg
Selektive historische Wahrnehmung - Kranzniederlegung in Tallinn
Der «Tag des Sieges» am 9. Mai wird in Russland jedes Jahr pompöser gefeiert. Er eignet sich zur Darstellung von Grösse, zur Verklärung der Vergangenheit und zur Abgrenzung nach aussen. Wie selektiv die Erinnerung ist, zeigt sich im Konflikt mit Estland.
10. Mai 2007, Neue Zürcher Zeitung
Russland erinnert sich an seinen grossen Sieg
Selektive historische Wahrnehmung - Kranzniederlegung in Tallinn
Der «Tag des Sieges» am 9. Mai wird in Russland jedes Jahr pompöser gefeiert. Er eignet sich zur Darstellung von Grösse, zur Verklärung der Vergangenheit und zur Abgrenzung nach aussen. Wie selektiv die Erinnerung ist, zeigt sich im Konflikt mit Estland.
mac. Moskau, 9. Mai
Jedes Jahr am «Tag des Sieges», dem Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs, wird über Moskau eine kleine Luftschlacht ausgetragen. Bürgermeister Luschkow wünscht am 9. Mai Sonnenschein - und wenn, wie am Mittwoch, dicke graue Wolken Regen versprechen, werden diese von der Luftwaffe in alle Winde zerstoben, bis die Sonnenstrahlen den Siegestag zum Glänzen bringen. Ganz Russland scheut keinen Aufwand, um den Sieg der Sowjetunion gegen das nationalsozialistische Deutschland im «Grossen Vaterländischen Krieg» jedes Jahr pompöser zu feiern, auch wenn das letzte runde Jubiläum erst zwei Jahre zurückliegt Die Symbolik erscheint wie aus einer anderen Zeit.
Alte und neue Bedrohungen
Den Hauptakt der Feierlichkeiten stellt die grosse Militärparade auf dem Roten Platz dar, die seit einiger Zeit wieder jährlich abgehalten wird, jedoch ohne Kriegsgerät. 7000 Angehörige der Streitkräfte - 1000 mehr als vor einem Jahr - nahmen an dem knapp einstündigen Ereignis vor Tausenden von Zuschauern teil und defilierten am Oberbefehlshaber, dem Präsidenten Putin, vorbei. Hunderte von Veteranen im Alter zwischen 82 und 97 Jahren sassen in ihren Uniformen als Ehrengäste auf der Tribüne. In einer kurzen Ansprache würdigte der hart und entschlossen dreinblickende Putin die Heldentaten der Soldaten und erinnerte an den Beistand der restlichen Alliierten.
Er nutzte den Anlass gleichzeitig, um vor den heutigen Bedrohungen von Extremismus und Konfrontation zu warnen. Diese zielten, genau wie zu Zeiten des Dritten Reiches, auf globale Ausschliesslichkeit und weltweites Diktat. Er brauchte keine Namen zu nennen, um die Botschaft verständlich zu machen. Die Schaffung von Feindbildern steht derzeit in der vom Wahljahr und von der offenen Frage nach Putins Zukunft geprägten politischen Debatte hoch im Kurs.
Der 9. Mai ist ein Fest- und Gedenktag, aber ebenso sehr ein politisches Datum. Der Stellenwert, den die Politik den Feierlichkeiten gibt und den sie jährlich noch erhöht, sagt viel über das gegenwärtige Russland aus, das für einen Tag in der Grösse der Sowjetunion erstrahlt. Dunkle Flecken der Vergangenheit gibt es nicht, und wer am Tabu des noch immer weitgehend sowjetischen Geschichtsbilds von Heldentum und Befreiung zu rütteln wagt, gerät sofort in den Verdacht, die Geschichte umschreiben und den «Faschismus» rehabilitieren zu wollen. Das Trauma der sowjetischen Kriegsgefangenen, die nach ihrer Rückkehr direkt in die Hölle der stalinistischen Zwangsarbeitslager geraten waren, und die mit Deportation und Zwang verbundene Okkupation des Baltikums und Ostmitteleuropas existieren in dieser äusserst selektiven historischen Wahrnehmung nicht - ähnlich wie während der sowjetischen Nachkriegszeit.
Estland am Pranger
Wie sehr diese einseitige, hoch emotionalisierte Wahrnehmung der Vergangenheit politisch wirksam ist, bezeugen die Auseinandersetzungen um die Entscheidung Estlands, das bronzene Soldatendenkmal vom Zentrum Tallinns auf einen Kriegsfriedhof zu verlegen. Exemplarisch zeigte sich daran die unterschiedliche Bewertung des sowjetischen Sieges, der den baltischen Staaten zwar Befreiung von deutschen Truppen brachte, aber zugleich die über vierzigjährige Besetzung durch die Sowjetunion. Die Sensibilitäten wurden ohne Zweifel auf beiden Seiten verletzt. Um eine «Wiederkehr des Faschismus» und ein «Umschreiben der Weltkriegsgeschichte» in Estland und überhaupt in der Europäischen Union, von der am Mittwoch sogar Putin in seiner kurzen Rede auf dem Roten Platz sprach, geht es bei den Vorgängen in Tallinn indessen nicht. Solche Behauptungen reflektieren vielmehr Selbstgerechtigkeit und einen Mangel an kritischem Umgang mit der eigenen Geschichte.
Eine simple Schwarz-Weiss-Wirklichkeit gibt es auch im Streit um den Tallinner Bronze-Soldaten nicht. Am 8. Mai, dem Tag des Kriegsendes in Westeuropa, hatte auch die estnische Führung am neuen Standort des Denkmals einen Kranz niedergelegt. Gemeinsam mit akkreditierten Botschaftern gedachten die Esten überdies des Holocausts und des Krieges am Soldatendenkmal Maarjamägi. Russische Vertreter lehnten die Einladung zur Teilnahme an dieser Gedenkveranstaltung mit dem Hinweis auf ihren traditionellen Feiertag am 9. Mai ab. Sie legten am Mittwoch Blumen und Kränze am bronzenen Soldatendenkmal nieder. Viele Bürger pilgerten laut Medienberichten und gegen den Willen der Behörden zum bisherigen Standort der Statue im Zentrum Tallinns, wo das Polizeiaufgebot aus Furcht vor neuen Ausschreitungen gross war.
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