Freitag, Mai 11, 2007

Die Angst vor dem Musterschüler

10. Mai 2007, Neue Zürcher Zeitung
Die Angst vor dem Musterschüler
Sentiment und Ressentiment - das aufstrebende China erhitzt die Phantasie des Westens


Der rasante Aufstieg der Volksrepublik China nach Jahrzehnten der Selbstisolation ist Gegenstand heftiger Projektionen des Westens. Diese haben weniger mit den tatsächlichen Verhältnissen in China zu tun als mit dem verunsicherten Selbstbild der westlichen Demokratien.

10. Mai 2007, Neue Zürcher Zeitung
Die Angst vor dem Musterschüler
Sentiment und Ressentiment - das aufstrebende China erhitzt die Phantasie des Westens

Der rasante Aufstieg der Volksrepublik China nach Jahrzehnten der Selbstisolation ist Gegenstand heftiger Projektionen des Westens. Diese haben weniger mit den tatsächlichen Verhältnissen in China zu tun als mit dem verunsicherten Selbstbild der westlichen Demokratien.

Die Reaktionen auf den rasanten chinesischen Aufstieg bewegen sich zwischen den Extremen euphorischer Bewunderung und panischer Furcht vor den ungeheuren - vor allem wirtschaftlichen - Kräften, die er entfesselt hat. Dabei berühren sich beide Extremreaktionen zuweilen und vermischen sich zu einem diffusen Gefühl, einer unberechenbaren Gewalt ausgeliefert zu sein - ohne dass man erkennen könnte, ob sich ihre ungeheuren Wirkungen für uns im Westen als Segen oder als Verhängnis erweisen werden. Der Untertitel eines jüngst erschienenen China-Buches, «Globale Rivalen» von Eberhard Sandschneider, bringt dieses Sentiment passiv bangender, staunender Erwartung auf den Punkt: «Chinas unheimlicher Aufstieg und die Ohnmacht des Westens».

Jenseits westlicher Werte?
Sandschneider schreibt im Gestus des nüchternen Kenners nicht nur der chinesischen Verhältnisse, sondern auch der objektiven Gegebenheiten, von denen die Weltpolitik bestimmt wird - jenseits aller Wunschvorstellungen von der Universalität westlicher Werte wie Freiheit und Demokratie. Die Vorstellung von westlichen Kritikern, nach der China zur Verwirklichung dieser Werte gedrängt werden müsse, hält Sandschneider für ebenso weltfremd wie überheblich. Es sei die Illusion nach 1989 gewesen, dass sich die Ideen von Individualität und Menschenrechten nun auf dem ganzen Erdball durchsetzen würden. In Wirklichkeit gebe die chinesische Führung keinen Pfifferling auf Mahnungen des Westens, seinem Weg zu folgen, sondern verfolge unbeirrt seine eigene Entwicklungsagenda. Das nach westlichen Deutungsmustern undurchschaubare China wird bei Sandschneider zum Inbegriff einer in der Substanz fremden gesellschaftlichen und kulturellen Wirklichkeit, die sich von äusseren Ansprüchen nicht - oder nicht mehr - beeindrucken und beeinflussen lasse.

Erstaunlicherweise wird dieses Pathos des ganz Anderen bei uns in dem Masse stärker, als sich China unseren westlichen Wirtschafts- und Lebensgepflogenheit so eng wie nie zuvor anzugleichen scheint. «Unheimlich» war China uns schon immer - einst als rätselhaftes abgeschottetes «Reich der Mitte» und in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts als gleichgeschalteter kommunistischer «Ameisenstaat». Jetzt aber tritt es als potenter Konkurrent auf dem ureigensten Terrain des Westens an - nicht als Speerspitze einer darbenden «Dritten Welt», die dem amerikanisch-europäischen Entwicklungsmodell den «Krieg der Hütten gegen die Paläste» angesagt hat, sondern als (staats)kapitalistischer Global Player, der westliche Produkte und Produktionsweisen kopiert sowie die westlichen Produktionskosten durch den Rekurs auf frühkapitalistische Ausbeutung unterbietet. Dass China kein grundlegend anderes Weltanschauungsmodell mehr propagiert, sondern sich nach westlicher Effektivitätslogik an die Spitze der Weltwirtschaft zu katapultieren versucht, macht es in den Augen europäischer und anderer westlicher Beobachter doppelt suspekt - welche mimetische Anpassungsfähigkeit muss doch in einer solchen Kraft stecken, die ihre eigenen Ziele und Werte in der Verkleidung als Musterschüler des westlichen Kapitalismus durchzusetzen versteht!

Wachsendes Unbehagen
In Europa überwiegt noch Bewunderung für dieses Phänomen. Doch das Unbehagen über die schwindelerregende Dynamik Chinas wächst. Dabei wird die «chinesische» Gefahr bei uns, im Gegensatz zu den USA, meist noch mehr auf wirtschaftlichem Feld gesehen, nicht sosehr auf politischem und militärischem. Das deutsche Wochenmagazin «Der Spiegel» kam vor Jahresfrist mit eine alarmistischen Titelgeschichte heraus, in der die Chinesen als ökonomische Invasoren und Auslöser für die Neuauflage frühkapitalistischer Konkurrenzverhältnisse dargestellt wurden, die das europäische Sozialstaatsmodell hinwegfegen würden. Mit China bekommt so die tiefsitzende Angst der Europäer vor der - ihre wohlfahrtsstaatlichen Privilegien unterminierenden - Globalisierung einen neuen Namen und eine konkrete Gestalt. Freilich gibt es auch eine gegenläufige Furcht vor dem schwindelerregenden Tempo des chinesischen Wirtschaftswachstums: Was ist, wenn die Blase platzen und das chinesische System aufgrund von Überhitzung und innerer Widersprüche kollabieren sollte? Würde dann nicht der globale Wirtschafts- und Finanzmarkt in eine beispiellose Krise hineingerissen?

Weniger beunruhigt sind die Europäer einstweilen dagegen noch durch die politischen Weltmachtambitionen Chinas. Dabei spielt Peking gerade hier eine fragwürdige Rolle, die eigentlich alle globalisierungs- und kolonialismuskritischen Instinkte namentlich der Linken wachrütteln müsste. In Afrika zum Beispiel unterstützt Peking ohne jede Rücksicht auf Menschenrechte Regime, die ihm Rohstoffe für seinen Wirtschaftsboom liefern. So ist Peking der grösste Öl-Abnehmer des Sudans und schützt die Regierung in Khartum daher qua seiner Stellung als Vetomacht im Uno-Sicherheitsrat gegen internationale Sanktionen wegen des Völkermords in der westsudanesischen Provinz Darfur. Ähnlich verhält sich China in der Frage des iranischen Nuklearprogramms - iranisches Erdöl ist der chinesischen Führung wichtiger als die Gefahr für die internationale Stabilität, die von einem atomar bewaffneten Iran ausgehen würde. Dieser moralfreie, ökonomische Egoismus der Chinesen ruft im sonst hochmoralisch argumentierenden Europa freilich keine nennenswerten Proteste hervor.

Denn Chinas weltpolitische Obstruktionskraft wird hier auch mit einer Prise Genugtuung registriert - gegenüber den Amerikanern, die sich von der unaufhaltsam scheinenden Entwicklung Chinas zur zweiten Supermacht zunehmend bedroht und herausgefordert fühlen - auch wenn Peking, im Gegensatz zu Moskau, penibel jede offene, lautstarke Konfrontation mit Washington vermeidet. Allmählich rückt somit auch Chinas politisch-militärisches Potenzial als «Gegenmacht» zum übermächtigen «Hegemon» USA und möglichen Stifter einer «multipolaren Weltordnung» in den europäischen Blick.

Für den französischen Wirtschaftsexperten Jean-François Susbielle ist es gar ausgemachte Sache, dass es eines nicht allzu fernen Tages zu einem kriegerischen Showdown zwischen der «etablierten» Supermacht USA und der aufstrebenden Megamacht China kommen muss. «Der programmierte Krieg» lautet der deutsche Titel seines Buches, das sich ganz auf der Linie eines erstaunlich planen materialistischen Determinismus bewegt: Die Konkurrenz um die Erdölreserven der Welt, meint Susbielle, müsse die beiden weltpolitischen Giganten unweigerlich in einen militärischen Entscheidungskampf führen. Umso mehr, als Chinas Streben nach Weltherrschaft von einem extremen Nationalismus angetrieben werde, der sich auf das Bewusstsein der Überlegenheit der chinesischen Zivilisation stütze. In diesem sich abzeichnenden Kampf der Giganten wird Europa die Rolle des machtlosen Zuschauers zugewiesen, dessen moralisierende Sicht auf die Weltpolitik sich angesichts der harten Realität als irrelevant erweist.

Projektiv ausgetragener Konflikt
Es mag so scheinen, als baue Susbielle China zum neuen Feindbild auf. Doch tatsächlich dient ihm sein deterministisches Unheilszenario vor allem dazu, die Absehbarkeit des Endes der amerikanischen globalen Vormacht zu imaginieren. Der «eigentliche Gegner Amerikas» sei dabei «keineswegs al-Kaida, sondern das Reich der Mitte». Susbielle gibt Amerika «höchstens fünf Jahre», um «seine führende Rolle in der Welt aufrechtzuerhalten». Diese Aussicht dürfte bei vielen Europäern nicht nur Schrecken hervorrufen. Daran zeigt sich, dass in der europäischen Auseinandersetzung mit China häufig ein Konflikt projektiv ausgetragen wird, der die Europäer einstweilen noch dringender beschäftigt als die chinesische Herausforderung: der mit den zunehmend kritisch beäugten USA. Es ist offenbar ein Nachdenken darüber in Gang gekommen, ob Europa eine frühzeitige Anpassung an die Ansprüche der kommenden Supermacht im Fernen Osten besser täte, als die enge Gemeinschaft mit den Vereinigten Staaten fortzusetzen.

Richard Herzinger

Richard Herzinger ist Redaktor der «Welt am Sonntag» in Berlin. Zuletzt erschien 2001 sein Deutschland-Buch «Republik ohne Mitte».

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