Mittwoch, Juni 30, 2010

Wenn Traditionen töten

28. Juni 2010
NZZ-Online
Wenn Traditionen töten
Der Ehrenmord in Delhi signalisiert tiefgreifende Verwerfungen in der indischen Gesellschaft.

Am 14. Juni wurden in Delhi die Leichen eines jungen indischen Liebespaars gefunden, das einem brutalen Ehrenmord zum Opfer gefallen war. Die Tragödie ist kein Einzelfall – und das ihr zugrundeliegende Kastendenken noch längst nicht überwunden.

Von Chandrahas Choudhury

Gerade zwei Wochen ist es her, dass die 19-jährige Asha Saini und ihr Geliebter, Yogesh Kumar, im Viertel Swarup Nagar in der indischen Hauptstadt Delhi brutal ermordet wurden. Nach den Schuldigen brauchte man nicht lang zu suchen: Die Leichen lagen im Haus von Ashas Onkel, Om Prakash Saini, bei dem das Mädchen gelebt hatte. Ihre eigenen Angehörigen hatten Asha umgebracht.

Töten ohne Reue

Om Prakash wie auch Ashas Vater Suresh hatten sich der Liebesbeziehung der zwei jungen Leute wütend widersetzt – denn Yogesh stand als Dalit auf der untersten Stufe in der komplexen Hierarchie des Kastensystems, das die Beziehungen innerhalb der indischen Gesellschaft seit bald zwei Jahrtausenden regelt. Yogesh war am Vorabend zu den Sainis gerufen worden, wo sich die beiden Männer – unter den Augen der im Haus lebenden Frauen – auf ihn stürzten. Die gerichtsmedizinische Untersuchung wies nach, dass das junge Paar gefoltert worden war, bevor man es mit Stromstössen zu Tode brachte.

Zwei Aspekte der Untat sind besonders aufschlussreich. Erstens: Obwohl in diesem Falle Yogesh der «Andere» war, dessen Eindringen in den eigenen Kreis man nicht dulden wollte, verfiel auch Asha dem grauenvollen Todesurteil, das ihr Vater und ihr Onkel verhängt hatten. Allein durch ihre emotionale (und vielleicht auch körperliche) Beziehung zu einem Mann aus einer niedrigeren Kaste war auch sie in den Augen ihrer Familie eine «Andere» geworden – nicht mehr das Mädchen, das man im Haus erzogen und behütet hatte. Es reichte nicht, ihren Geliebten aus der Welt zu schaffen; auch sie musste sterben. Und zweitens: Die Täter verspürten keinerlei Gewissensregung. «Ich bereue nichts», gab Om Prakash zu Protokoll: Was laut geltendem Gesetz ein bestialischer Mord war, schien in seinen Augen ein völlig vernünftiger Akt der Gerechtigkeit, der die verletzte Ehre seiner Familie wiederherstellte.

Im 21. Jahrhundert blickt Indien auf eine gut sechzigjährige Vergangenheit als weltweit grösste demokratische Nation zurück. Und dennoch stellen diese sogenannten Ehrenmorde nicht eine Verirrung dar, sondern....

Dienstag, Juni 29, 2010

«Gehegte und gepflegte Schuld ist ein Hobby der Unschuldigen»

«Gehegte und gepflegte Schuld ist ein Hobby der Unschuldigen»
Von Simone Meier.

Der Psychoanalytiker Peter Schneider äussert sich zu Fragen von Schuld, Schuldnern und der grossen europäischen Schuldenfalle und erklärt den «Sündenstolz» der Schweiz.

Die Welt scheint im Schuldenkoma zu liegen: Griechenland ist pleite, Deutschland muss 80 Milliarden sparen, und auf den Privatsendern läuft nichts so gut wie Doku-Soaps über Schuldnerberatung. Sind die Menschen – und die Staaten – nicht mehr fähig, finanzielle Verantwortung zu übernehmen?
DIE Menschen? Ich glaube, ich kriege eine Subprime-Krise bei so viel Verantwortungs-Verallgemeinerung. Ich zahle regelmässig meine Rechnungen zum Monatsende, stehe leider bei keiner Bank hypothekarisch in der Kreide, zahle pünktlich nicht gerade wenig Steuern – in welche allgemeinmenschliche finanzielle Verantwortung für welche finanziellen Miseren soll ich mich da nehmen lassen?

Deshalb sind Sie ja auch in der Schweiz so wohl gelitten . . .
Genau. Täglich bekomme ich Hunderte von aufmunternden Rechnungen von Mitmenschen, die meine spontane und zugängliche Art in finanziellen Dingen zu schätzen wissen – viele davon mit einem Mut machenden «Weiter so!» versehen.

Aber wenn sich doch der Einzelne im Kleinen so korrekt wie irgendwie möglich verhält, wie kann dann so ein grosser Staatstanker.....

Donnerstag, Juni 24, 2010

Im Wunderland – wir haben eine kognitive Grenze überschritten

23. Juni 2010
NZZ Online
Im Wunderland – wir haben eine kognitive Grenze überschritten
Die Medien sind voller Berichte zur Finanzkrise – die Analysen türmen sich, die Rettungsvorschläge jagen sich. Doch die Experten täuschen ein Verständnis vor, das sie nicht mehr haben. Ihr Versagen ist Symptom einer tieferen Ursache: Unsere Welt ist zu komplex geworden, als dass wir sie noch durchschauen könnten.

Von Rolf Dobelli

In «Alice im Wunderland» taucht die Titelheldin in eine Welt ein, wo die Kaninchen riesig sind, die Uhren rückwärts laufen und die Leute wie Spielkarten aussehen. Es ist eine Welt voller Paradoxa und Absurditäten, die Alice nicht mehr versteht. Wir leben zwar nicht im Wunderland, doch so ähnlich fühlt es sich an, denn wir haben eine kognitive Grenze überschritten. Es ist an der Zeit, dies auszusprechen und die Schlüsse daraus zu ziehen.

Die Medien sind voller Kommentare zur Finanzkrise. Analyse türmt sich auf Analyse, Rettungsvorschlag auf Rettungsvorschlag. Doch die Experten täuschen ein Verständnis vor, das nicht da ist. Es gibt rund eine Million ausgebildeter Ökonomen auf diesem Planeten. Kein einziger hat das Timing der Finanzkrise exakt vorausgesagt, geschweige denn, wie die Sequenz vom Platzen der Immobilienblase über den Zerfall der Credit-Default-Swaps bis hin zur ausgewachsenen.....

Freitag, Juni 11, 2010

Deutscher Wirtschaftsflüchling grüsst seine Landsleute.......

Song: Kiosk by Rumpelstilz

Donnerstag, Juni 10, 2010

Wo sind die Vorbilder?

Tages Anzeiger Online 05.06.2010
Wo sind die Vorbilder?
Von Simone Meier

Lady Gaga, Emma Watson und Angela Merkel gelten als die wichtigsten Frauen der Welt, Nicole Kidman war einst die strahlendste. So bewundernswert wie George Clooney sind sie alle nicht.

Vielleicht wäre alles gut, wenn George Clooney eine Frau wäre. Sie wäre dann eine reife, aber immer noch strahlende Schönheit, würde entspannt altern und nicht wie Madonna oder Nicole Kidman, sie wäre noch nie in ihrem Leben auf so beängstigende Art kindersüchtig gewesen wie Angelina Jolie, sie wäre populär, hätte aber politisch das Herz auf dem richtigen Fleck und würde auch richtig viel Gutes tun und hätte sich doch zu allem eine gesunde, geistreiche Distanz bewahrt. Man könnte als Frau zu ihr aufschauen und sagen: Jawoll Mutter, so wie du wäre ich auch gern.

So, wie vor 20 Jahren zu Madonna. Als die noch eine relevante, radikale Künstlerin war, eine Feministin gegen den Herrgott in Theorie und Praxis, als sie das Wort «massgebend» tatsächlich für ein paar Jahre definierte. Als sie im intellektuellen Diskurs wie in der Disco den Ton angab.

Warum so einflussreich?

Stattdessen blickt man heute um sich, sieht, wie Lady Gaga in einem neuen Fasnachtsfummel überhaupt nichts sagt an einer Medienkonferenz, obwohl sie doch aus einem New Yorker Intellektuellenhaushalt kommen soll. Man sieht, wie sie zwar eine beachtliche Hochleistungsmaschine ist, wie sie....

Dienstag, Juni 01, 2010

Niemand ist seines Glückes Schmied

31. Mai 2010
NZZ Online
Niemand ist seines Glückes Schmied
Man höre auf seine innere Stimme und misstraue den Ratgebern
Das Glück des Eichenblattes - auch eine «metaphysische Erfahrung» der Kindheit?

Sprichwörter verkünden nicht immer Lebensweisheiten. Besonders auffällig ist dies bei dem Wort, das einen jeden zu seines eigenen Glückes Schmied erklärt. – Wenn man sein Glück nicht schmieden, nicht «machen» kann, kann man es dann vielleicht finden?

Von Michael Hampe

Es gibt eine Ideologie des Glücks, auf die sich der Gemeinspruch «Jeder ist seines Glückes Schmied» bezieht. Wenn dieser Spruch nicht lediglich als Ermunterung gedacht ist, kann man ihn als Kurzfassung der folgenden Überzeugungen ansehen: Menschen sind grundsätzlich autonom, haben die Macht, ihr Leben zu gestalten – und ihr Glück stellt sich als das Ergebnis dieser Lebensgestaltung ein. Diese Ideologie ist sowohl mit einer kollektiven wie auch individuellen Ausblendung von Krankheit und Tod verbunden, den Indizien für die Grenzen der Fähigkeit von Menschen, ihr Leben vollständig selbst zu kontrollieren.

Komplexität der Verhältnisse

Von «Ideologie» kann hier gesprochen werden, weil diese Vorstellungen die – in einem sehr allgemeinen Sinne von Macht verstandenen – wahren Machtverhältnisse, unter denen Menschen leben, verschleiern. Menschen verfügen als natürliche Wesen nur über relative Macht, vor allem über jene zur Selbsterhaltung. Sie sind deshalb immer dem Leiden ausgesetzt. Handlungsfreiheit ist ihnen nicht einfach gegeben, sondern sie müssen sie sich durch Selbstreflexion und Welterkenntnis erarbeiten – und können sie auch wieder verlieren. Deshalb ist der unter dem Titel «Jeder ist seines Glückes Schmied» firmierende Vorstellungszusammenhang eine Selbsttäuschung, eine Illusion, mit der Menschen ihre faktisch eingeschränkte Macht und Endlichkeit in der Phantasie zu kompensieren versuchen. Tatsächlich findet des Menschen Macht zur Selbstgestaltung nicht nur in biologischen Bedingtheiten ihre Grenze. Auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sich das biologisch begrenzte Leben der Menschen abspielt, schränken menschliche Autonomie ein.

Einsicht in die Beschränktheit menschlicher Macht bedeutet keineswegs, menschliche Selbstbestimmung und Freiheit zu leugnen. Doch der Gedanke, der in ungezählten Ratgeberbüchern gebetsmühlenartig wiederholt....