28. Juni 2010
NZZ-Online
Wenn Traditionen töten
Der Ehrenmord in Delhi signalisiert tiefgreifende Verwerfungen in der indischen Gesellschaft.
Am 14. Juni wurden in Delhi die Leichen eines jungen indischen Liebespaars gefunden, das einem brutalen Ehrenmord zum Opfer gefallen war. Die Tragödie ist kein Einzelfall – und das ihr zugrundeliegende Kastendenken noch längst nicht überwunden.
Von Chandrahas Choudhury
Gerade zwei Wochen ist es her, dass die 19-jährige Asha Saini und ihr Geliebter, Yogesh Kumar, im Viertel Swarup Nagar in der indischen Hauptstadt Delhi brutal ermordet wurden. Nach den Schuldigen brauchte man nicht lang zu suchen: Die Leichen lagen im Haus von Ashas Onkel, Om Prakash Saini, bei dem das Mädchen gelebt hatte. Ihre eigenen Angehörigen hatten Asha umgebracht.
Töten ohne Reue
Om Prakash wie auch Ashas Vater Suresh hatten sich der Liebesbeziehung der zwei jungen Leute wütend widersetzt – denn Yogesh stand als Dalit auf der untersten Stufe in der komplexen Hierarchie des Kastensystems, das die Beziehungen innerhalb der indischen Gesellschaft seit bald zwei Jahrtausenden regelt. Yogesh war am Vorabend zu den Sainis gerufen worden, wo sich die beiden Männer – unter den Augen der im Haus lebenden Frauen – auf ihn stürzten. Die gerichtsmedizinische Untersuchung wies nach, dass das junge Paar gefoltert worden war, bevor man es mit Stromstössen zu Tode brachte.
Zwei Aspekte der Untat sind besonders aufschlussreich. Erstens: Obwohl in diesem Falle Yogesh der «Andere» war, dessen Eindringen in den eigenen Kreis man nicht dulden wollte, verfiel auch Asha dem grauenvollen Todesurteil, das ihr Vater und ihr Onkel verhängt hatten. Allein durch ihre emotionale (und vielleicht auch körperliche) Beziehung zu einem Mann aus einer niedrigeren Kaste war auch sie in den Augen ihrer Familie eine «Andere» geworden – nicht mehr das Mädchen, das man im Haus erzogen und behütet hatte. Es reichte nicht, ihren Geliebten aus der Welt zu schaffen; auch sie musste sterben. Und zweitens: Die Täter verspürten keinerlei Gewissensregung. «Ich bereue nichts», gab Om Prakash zu Protokoll: Was laut geltendem Gesetz ein bestialischer Mord war, schien in seinen Augen ein völlig vernünftiger Akt der Gerechtigkeit, der die verletzte Ehre seiner Familie wiederherstellte.
Im 21. Jahrhundert blickt Indien auf eine gut sechzigjährige Vergangenheit als weltweit grösste demokratische Nation zurück. Und dennoch stellen diese sogenannten Ehrenmorde nicht eine Verirrung dar, sondern....
28. Juni 2010
NZZ-Online
Wenn Traditionen töten
Der Ehrenmord in Delhi signalisiert tiefgreifende Verwerfungen in der indischen Gesellschaft.
Am 14. Juni wurden in Delhi die Leichen eines jungen indischen Liebespaars gefunden, das einem brutalen Ehrenmord zum Opfer gefallen war. Die Tragödie ist kein Einzelfall – und das ihr zugrundeliegende Kastendenken noch längst nicht überwunden.
Von Chandrahas Choudhury
Gerade zwei Wochen ist es her, dass die 19-jährige Asha Saini und ihr Geliebter, Yogesh Kumar, im Viertel Swarup Nagar in der indischen Hauptstadt Delhi brutal ermordet wurden. Nach den Schuldigen brauchte man nicht lang zu suchen: Die Leichen lagen im Haus von Ashas Onkel, Om Prakash Saini, bei dem das Mädchen gelebt hatte. Ihre eigenen Angehörigen hatten Asha umgebracht.
Töten ohne Reue
Om Prakash wie auch Ashas Vater Suresh hatten sich der Liebesbeziehung der zwei jungen Leute wütend widersetzt – denn Yogesh stand als Dalit auf der untersten Stufe in der komplexen Hierarchie des Kastensystems, das die Beziehungen innerhalb der indischen Gesellschaft seit bald zwei Jahrtausenden regelt. Yogesh war am Vorabend zu den Sainis gerufen worden, wo sich die beiden Männer – unter den Augen der im Haus lebenden Frauen – auf ihn stürzten. Die gerichtsmedizinische Untersuchung wies nach, dass das junge Paar gefoltert worden war, bevor man es mit Stromstössen zu Tode brachte.
Zwei Aspekte der Untat sind besonders aufschlussreich. Erstens: Obwohl in diesem Falle Yogesh der «Andere» war, dessen Eindringen in den eigenen Kreis man nicht dulden wollte, verfiel auch Asha dem grauenvollen Todesurteil, das ihr Vater und ihr Onkel verhängt hatten. Allein durch ihre emotionale (und vielleicht auch körperliche) Beziehung zu einem Mann aus einer niedrigeren Kaste war auch sie in den Augen ihrer Familie eine «Andere» geworden – nicht mehr das Mädchen, das man im Haus erzogen und behütet hatte. Es reichte nicht, ihren Geliebten aus der Welt zu schaffen; auch sie musste sterben. Und zweitens: Die Täter verspürten keinerlei Gewissensregung. «Ich bereue nichts», gab Om Prakash zu Protokoll: Was laut geltendem Gesetz ein bestialischer Mord war, schien in seinen Augen ein völlig vernünftiger Akt der Gerechtigkeit, der die verletzte Ehre seiner Familie wiederherstellte.
Im 21. Jahrhundert blickt Indien auf eine gut sechzigjährige Vergangenheit als weltweit grösste demokratische Nation zurück. Und dennoch stellen diese sogenannten Ehrenmorde nicht eine Verirrung dar, sondern eine Ausprägung gewisser grundlegender Annahmen und Codes, die in der hinduistischen Mehrheitsgesellschaft fortwirken. Sie konnten sich insbesondere im Norden des Landes behaupten, wo ein stark patriarchales Selbstverständnis vorherrscht und die progressiven Re formbewegungen nie zum Tragen kamen, die im 19. und 20. Jahrhundert etwa die Gesellschaft im westlichen Gliedstaat Maharashtra und im östlich gelegenen Bengalen transformierten. Eine unlängst veröffentlichte polizeiliche Statistik kommt zum Schluss, dass im nördlichen Gliedstaat Punjab während der letzten zweieinhalb Jahre im Durchschnitt jeden Monat ein Ehrenmord begangen wurde; und mit aller Wahrscheinlichkeit ist mit einer beträchtlich höheren Dunkelziffer zu rechnen.
Die Zunahme derartiger Verbrechen wirft nicht nur ein Licht auf die Gewaltbereitschaft, die unter der vielgerühmten (und oft nur fiktiven) Toleranz der Inder lauert; sie ist auch ein Indikator für die seismischen Erschütterungen, denen die indische Gesellschaft ausgesetzt ist. Die Ehrenmorde signalisieren eine Phase des Umbruchs, in der sich die traditionelle Ordnung – häufig gewaltsam – gegen die offenere und entspanntere Haltung durchzusetzen versucht, mit der die junge Generation Liebesbeziehungen und Ehe angehen möchte.
Verrat am demokratischen Ideal
Die bedeutendsten Reformer der hinduistischen Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Mahatma Gandhi und Babasaheb Ambedkar, sahen das Kastenwesen, das dem Einzelnen einen festen Platz in einer weitgehend statischen, allein durch die gesellschaftliche Herkunft determinierten Ordnung zuweist, als eigentliche Antithese des demokratischen Ideals, das sie nach der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1947 für die junge indische Nation erstrebten. Die Ehrenmorde sind also nicht allein Ausdruck der Verwerfungen, welche die indische Gesellschaft infolge des jüngsten Modernisierungsschubs erfährt; in ihnen manifestiert sich auch der Konflikt zwischen der traditionellen sozialen Ordnung und den Idealen einer Verfassung, die keine Diskriminierung aufgrund von Religion, Kaste oder Geschlecht mehr zulassen wollte.
Das Ringen dieser Kräfte drückt sich etwa in dem Brief aus, den Dharmendra Pathak im vergangenen April an seine Tochter Nirupama schrieb. Die Pathaks wohnen im nordöstlichen Gliedstaat Jharkhand, Nirupama arbeitete als Journalistin in Delhi; sie hatte sich dort in einen Kollegen verliebt, der einer niedrigeren Kaste angehörte, und die beiden wollten heiraten. «Der Schritt, den du tun willst, verstösst gegen unsere Religion», heisst es in dem ominösen Schreiben, das später in zahlreichen Zeitungsberichten zitiert werden sollte. Und weiter – als müsste ein von Nirupama vorgebrachtes Argument abgeschmettert werden –: «Die indische Verfassung ist nur gerade 60 Jahre alt, unsere Religion dagegen Jahrtausende.» Auf Befehl der Eltern reiste Nirupama nach Hause; wenige Tage später war sie tot. Man wollte einen Suizid vorschützen, aber die Autopsie erwies, dass die junge Frau erstickt worden war – und dass sie ein Kind erwartete.
Das Kastensystem ist derart komplex, dass es nicht nur Heiraten ausserhalb der eigenen Kaste verbietet, sondern umgekehrt auch Ehen innerhalb von Unterkasten (Letztere definieren sich durch einen gemeinsamen Stammbaum, gotra genannt, der oft auf einen fiktiven Ahnherrn zurückgeht). Hindus dürfen also ihren Ehepartner weder zu fern noch allzu nahe in dieser komplexen sozialen Topografie suchen, wenn sie sich nicht gesellschaftlichen Sanktionen aussetzen wollen. Wie grausam und bedingungslos diese in Kraft gesetzt werden, zeigt etwa der Mord an Manoj und Babli, einem jungen, derselben Unterkaste entstammenden Liebespaar aus dem nördlichen Bundesstaat Haryana. Die beiden brannten miteinander durch, denn obwohl sie nicht blutsverwandt waren, hätte ihre Beziehung innerhalb des exogamen Systems der Unterkasten als Inzest gegolten. Fünf Männer aus Bablis Familie spürten die Liebenden auf; der junge Mann wurde erwürgt, das Mädchen vergiftet.
Im März 2010, drei Jahre nach der Mordtat, wurden die Schuldigen zum Tode verurteilt. Doch der Gerichtsentscheid zog Massenproteste der in Haryana äusserst einflussreichen khap panchayats (Kastenräte) nach sich. Im Gegensatz zu den gram panchayats – den Dorfräten, welche die Basisebene der indischen Demokratie verkörpern – sind die khap panchayats nicht gewählt; ihre Machtbefugnisse sind beträchtlich, und in manchen Fällen funktionieren sie als eine Art Parallelregierung. Nach dem Gerichtsurteil forderten die Kastenräte eine Revision der Hindu Marriage Act von 1955: Sie wollten, dass künftighin eine Heirat innerhalb derselben Unterkaste auch auf gesetzlicher Ebene als Verbrechen gelten sollte. Bezeichnenderweise unterstützte Naveen Jindal, Vertreter der Region im indischen Parlament, die Proteste – im Bewusstsein, dass es der eigenen Karriere nicht dienlich wäre, sich den mächtigen Kastenräten zu widersetzen. Auch die Regierung intervenierte nicht.
Stillschweigendes Einverständnis
Fast noch beängstigender als die Ehrenmorde selbst ist also die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil der Gesellschaft sie stillschweigend sanktioniert und für richtig hält. Ein Paar, das unter Missachtung der sozialen Normen heiratet, kann kaum auf Sympathie und Verständnis rechnen – weder seitens der eigenen Familie noch seitens der Sicherheitskräfte oder der Gesellschaft insgesamt. Darum gelingt es häufig, Ehrenmorde zu vertuschen.
Nachdem die Zahl solcher Bluttaten in ganz Nordindien sprunghaft zugenommen hat, erwägt die Regierung nun, auf gesetzlichem Weg direkt dagegen vorzugehen. Aber wie viel kann ein Gesetz bewirken, wenn es mit einer gesellschaftlichen Tiefenstruktur kollidiert, die Jahrtausende älter ist als die neue Rechtsordnung? Zwar werden in Indien trotz allem immer mehr Ehen geschlossen, die sich über jene tief verwurzelten Tabus und eisernen gesellschaftlichen Schranken hinwegsetzen; doch damit wird einstweilen zumindest in gewissen Regionen auch die Zahl derjenigen zunehmen, die demokratische und freiheitliche Ideale in den Staub treten, um solche Grenzüberschreitungen mit dem Tod zu ahnden.
Chandrahas Choudhury , Romancier und Literaturkritiker, lebt in Mumbai. Sein Roman «Arzee the Dwarf» erschien 2009. – Aus dem Englischen von as.
2 Kommentare:
Traditionen können nicht töten. Es sind immer Menschen, die das tun. Und Menschen werden nicht von Jahrtausenden geprägt, sondern von ihrer Sozialisierung, und die ist nicht älter als sie selbst. Der Artikel erscheint mir deshalb zu pessimistisch. Wenn wir bedenken, wie rasant sich sogenannte Traditionen bei uns gewandelt haben, dann gibt es keinen Grund, weshalb dies in Indien oder anderen Entwicklungsländern nicht auch geschehen könnte. Was sich ändern muss, sind die Machtbeziehungen. Der beste Weg dazu ist vermutlich die Bildung, denn aus freien Stücken geben die Mächtigen ihre Privilegien nicht auf. Es ist ausserdem sehr unwahrscheinlich, dass die Traditionen des Kastensystems in Indien tatsächlich so fix sind, wie das normalerweise dargestellt wird. In den letzten Jahrtausenden war Indien nicht vom Rest der Welt abgeschottet, es gab immer Einflüsse von aussen. Ausserdem ist das, was in heiligen Schriften steht, selten so, wie es in Realität gelebt wird. Und was wissen wir schon vom realen Leben in Indien vor Jahrtausenden?
wobei die Sozialisation ja wiederum in einem sozialen Kontext stattfindet und dieser eben auch durch Traditionen geprägt ist. z. Bsp. bin ich auch als Atheist durch ein judäo-christliches Umfeld geprägt.
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