Donnerstag, Juni 24, 2010

Im Wunderland – wir haben eine kognitive Grenze überschritten

23. Juni 2010
NZZ Online
Im Wunderland – wir haben eine kognitive Grenze überschritten
Die Medien sind voller Berichte zur Finanzkrise – die Analysen türmen sich, die Rettungsvorschläge jagen sich. Doch die Experten täuschen ein Verständnis vor, das sie nicht mehr haben. Ihr Versagen ist Symptom einer tieferen Ursache: Unsere Welt ist zu komplex geworden, als dass wir sie noch durchschauen könnten.

Von Rolf Dobelli

In «Alice im Wunderland» taucht die Titelheldin in eine Welt ein, wo die Kaninchen riesig sind, die Uhren rückwärts laufen und die Leute wie Spielkarten aussehen. Es ist eine Welt voller Paradoxa und Absurditäten, die Alice nicht mehr versteht. Wir leben zwar nicht im Wunderland, doch so ähnlich fühlt es sich an, denn wir haben eine kognitive Grenze überschritten. Es ist an der Zeit, dies auszusprechen und die Schlüsse daraus zu ziehen.

Die Medien sind voller Kommentare zur Finanzkrise. Analyse türmt sich auf Analyse, Rettungsvorschlag auf Rettungsvorschlag. Doch die Experten täuschen ein Verständnis vor, das nicht da ist. Es gibt rund eine Million ausgebildeter Ökonomen auf diesem Planeten. Kein einziger hat das Timing der Finanzkrise exakt vorausgesagt, geschweige denn, wie die Sequenz vom Platzen der Immobilienblase über den Zerfall der Credit-Default-Swaps bis hin zur ausgewachsenen.....



23. Juni 2010
NZZ Online
Im Wunderland – wir haben eine kognitive Grenze überschritten

Die Medien sind voller Berichte zur Finanzkrise – die Analysen türmen sich, die Rettungsvorschläge jagen sich. Doch die Experten täuschen ein Verständnis vor, das sie nicht mehr haben. Ihr Versagen ist Symptom einer tieferen Ursache: Unsere Welt ist zu komplex geworden, als dass wir sie noch durchschauen könnten.

Von Rolf Dobelli

In «Alice im Wunderland» taucht die Titelheldin in eine Welt ein, wo die Kaninchen riesig sind, die Uhren rückwärts laufen und die Leute wie Spielkarten aussehen. Es ist eine Welt voller Paradoxa und Absurditäten, die Alice nicht mehr versteht. Wir leben zwar nicht im Wunderland, doch so ähnlich fühlt es sich an, denn wir haben eine kognitive Grenze überschritten. Es ist an der Zeit, dies auszusprechen und die Schlüsse daraus zu ziehen.

Die Medien sind voller Kommentare zur Finanzkrise. Analyse türmt sich auf Analyse, Rettungsvorschlag auf Rettungsvorschlag. Doch die Experten täuschen ein Verständnis vor, das nicht da ist. Es gibt rund eine Million ausgebildeter Ökonomen auf diesem Planeten. Kein einziger hat das Timing der Finanzkrise exakt vorausgesagt, geschweige denn, wie die Sequenz vom Platzen der Immobilienblase über den Zerfall der Credit-Default-Swaps bis hin zur ausgewachsenen Wirtschaftskrise ablaufen würde. Nie hat eine Wissenschaft spektakulärer versagt. Sollten wir nun ihre Analysen und Rettungsvorschläge ernst nehmen?

Im Erkenntnissumpf

Eine rhetorische Frage; die spannendere ist: Warum haben die Ökonomen versagt? Der Grund liegt nicht in mangelnden Daten. Neben der Astro- und Elementarteilchenphysik kann keine Wissenschaft aus einem Datenpool schöpfen wie die Ökonomie. Das Versagen hat auch nichts mit mangelndem Willen zu tun. Nirgendwo sind die monetären Anreize, die Welt zu verstehen, so gross wie auf den Finanzmärkten. Das Versagen ist blosses Symptom einer tieferen Ursache: Der Finanzmarkt ist zu komplex, als dass wir ihn prinzipiell verstehen könnten. Überall, wo wir es mit extremer Komplexität zu tun haben, stossen wir auf dieselbe Erkenntnisgrenze. Denken wir nur an die Frage der Erderwärmung, an die ewigen regionalen Konflikte, an die Proliferation von Waffen oder an die chaotischen Adoptionskurven von Modetrends. Während die harten Wissenschaften wie Physik, Chemie und besonders Biologie von Erfolg zu Erfolg schreiten, laufen wir überall dort, wo viele Menschen im Spiel sind, in den Erkenntnissumpf.

Der Schluss ist eindeutig: Wir sind an eine epistemologische Grenze gestossen. Wir haben eine Welt geschaffen, die wir nicht mehr verstehen.

Dieser Satz ist für viele schockierend, ja unerträglich, denn unser Selbstverständnis geht davon aus, dass wir mit genügend grossem Einsatz von Daten und Intelligenz prinzipiell in der Lage sind, alles zu verstehen. Doch warum sollte dies zwangsläufig so sein? Warum sollte eine Spezies, die für ein Leben als Jäger und Sammler optimiert ist, so etwas wie globale Finanzmärkte verstehen? Warum sollte die Säugetierart Homo sapiens, die während 200 000 Jahren in überschaubaren Kleingruppen von 50 Individuen gelebt hat, den Einfluss von Social-Network-Technologien auf die Konsensfähigkeit einer Gesellschaft abschätzen können? So betrachtet, erstaunt unsere Unfähigkeit nicht.

Der Punkt ist der: Die Komplexität der ökonomisch-ökologisch-sozialen Sphäre hat die Komplexität des menschlichen Hirns überstiegen. Vielleicht seit der Industrialisierung, ganz sicher aber mit der Globalisierung haben wir diese Verständnisgrenze überschritten.

Ich mag den Begriff Komplexität nicht, weil er zu oft falsch gebraucht wird. Was ich meine, sind multiple Kausalitäten (A hat einen Effekt auf B, C und D) und Rückkopplungsschleifen (A wirkt auf A zurück). Solche Systeme sind intuitiv nicht mehr zu begreifen. Wir haben kein «Gefühl» dafür. So wie wir kein «Gefühl» für die Quantenmechanik oder die Relativitätstheorie haben, haben wir kein «Gefühl» für den Grad der Verschuldung eines Staates oder für das Risiko, das in der Bilanz einer UBS schlummert. Wir haben Neuland betreten, auf das wir evolutionär nicht vorbereitet sind.

Handeln – aber wie?

Dass die Komplexität weiter zunehmen wird, steht ausser Frage. Dies bedeutet nicht, dass die Welt untergeht. Es bedeutet bloss, dass wir Fehlentscheidungen in ungeahnten Massen machen werden. Und doch kommen wir nicht darum herum, zu entscheiden und zu handeln. Aber wie? Diese Frage stelle ich mir seit einigen Jahren. Die Antworten, die ich hier offeriere, sind vorläufig und unausgegoren:

1) Jede Entscheidung zieht einen Schwarm von unbeabsichtigten Konsequenzen nach sich. Wir tun gut daran, so viele sich widersprechende Meinungen wie möglich einzuholen und so viele Züge wie möglich vorauszudenken.

2) Wir dürfen die Entscheidungsträger in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik nicht mehr an ihren Resultaten messen, sondern an ihren Entscheidungsprozessen. Wie gut wurden die Entscheidungen vorbereitet? Wurden Kritiker und unabhängige Denker eingeladen? Gibt es Eventualpläne für alle Szenarien? Solange der Entscheidungsprozess nachweislich sauber durchgeführt wurde, dürfen wir uns über die Resultate nicht aufregen.

3) Wir sollten akzeptieren, dass es keine eindeutigen Prognosen mehr gibt. Die Ergebnisse unserer Überlegungen sind bestenfalls probabilistisch, wobei die Wahrscheinlichkeiten in einem breiten Band liegen.

4) Die Interdisziplinarität ist zu fördern – besonders an den Universitäten, wo der Trend, getrieben durch die Jagd nach einem hohen Zitate-Index, leider in die andere Richtung läuft. 5) Komplexität muss wissenschaftlich erforscht werden. So etwa, wie dies ein Team unter der Leitung des ETH-Professors Dirk Helbing tut. Ebenso wichtig ist die Forschung im Bereich der Emergenz, wie sie die Gruppe um seinen ETH-Kollegen Didier Sornette betreibt.

Dass wir an kognitive Grenzen stossen, hat uns vor über 200 Jahren der Königsberger Philosoph Immanuel Kant vorgeführt. Doch erst jetzt stossen wir an eine handfeste Verständnisgrenze, die uns in spürbare Schwierigkeiten versetzt. Ohne böse Absicht haben wir ein Wunderland geschaffen, das wir nicht mehr verstehen.

Rolf Dobelli ist Schriftsteller, Unternehmer (getAbstract AG) und Gründer von Zurich.Minds, einer Community von interdisziplinären Denkern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

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