Dienstag, Juli 20, 2010

Wie viel ist ein Menschenleben wert?

Tages Anzeiger Online
Wie viel ist ein Menschenleben wert?
Von Martin Ebel.

Ethik Für Philosophen ist klar: Den Wert eines Menschen kann und darf man nicht messen. Der Rechtsstaat jedoch muss kalkulieren – und gerät so in ein unlösbares Dilemma zwischen Ökonomie und Moral.

2004 wurde der Begriff «Humankapital» zum «Unwort des Jahres» gewählt. In ihm drücke sich, so die Jury, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche aus. Grosse Zustimmung in den Medien. «Human» und «Kapital»: Das geht gar nicht. Die Ökonomen aber rauften sich die Haare: Unter Humankapital verstehen sie die Summe aller Fähigkeiten der Mitarbeiter eines Unternehmens, von denen schliesslich dessen Erfolg abhängt. Also nichts Abwertendes, sondern etwas Positives!

Ein Jahr zuvor gab es einen ähnlichen Aufreger. Es sei der Solidargemeinschaft nicht zuzumuten, sagte der Jungpolitiker Philipp Missfelder von der deutschen CDU, einer 85-jährigen Frau ein neues Hüftgelenk zu bezahlen. Der Mann bekam die Wut der 85-Jährigen zu spüren und aller, die gern so alt werden und sich dann neuer Hüften erfreuen wollen. Er musste zu Kreuze kriechen, was seiner Karriere übrigens nicht geschadet hat. In beiden Fällen zeigt die Erregungshitze, dass ein Schmerzpunkt unserer Gesellschaft getroffen wurde. Denn die entwickelten Demokratien des Westens setzen, anders als Diktaturen oder Theokratien, den einzelnen Menschen absolut.

Die Würde ist «unantastbar»

In unseren Verfassungen drückt sich dieser absolute Wert in Formulierungen aus, die meist mit dem Begriff der Würde zu tun haben. «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen», heisst es in Artikel 7 der Schweizer.....



Tages Anzeiger Online
Wie viel ist ein Menschenleben wert?
Von Martin Ebel.

Ethik Für Philosophen ist klar: Den Wert eines Menschen kann und darf man nicht messen. Der Rechtsstaat jedoch muss kalkulieren – und gerät so in ein unlösbares Dilemma zwischen Ökonomie und Moral.

2004 wurde der Begriff «Humankapital» zum «Unwort des Jahres» gewählt. In ihm drücke sich, so die Jury, die Ökonomisierung aller Lebensbereiche aus. Grosse Zustimmung in den Medien. «Human» und «Kapital»: Das geht gar nicht. Die Ökonomen aber rauften sich die Haare: Unter Humankapital verstehen sie die Summe aller Fähigkeiten der Mitarbeiter eines Unternehmens, von denen schliesslich dessen Erfolg abhängt. Also nichts Abwertendes, sondern etwas Positives!

Ein Jahr zuvor gab es einen ähnlichen Aufreger. Es sei der Solidargemeinschaft nicht zuzumuten, sagte der Jungpolitiker Philipp Missfelder von der deutschen CDU, einer 85-jährigen Frau ein neues Hüftgelenk zu bezahlen. Der Mann bekam die Wut der 85-Jährigen zu spüren und aller, die gern so alt werden und sich dann neuer Hüften erfreuen wollen. Er musste zu Kreuze kriechen, was seiner Karriere übrigens nicht geschadet hat. In beiden Fällen zeigt die Erregungshitze, dass ein Schmerzpunkt unserer Gesellschaft getroffen wurde. Denn die entwickelten Demokratien des Westens setzen, anders als Diktaturen oder Theokratien, den einzelnen Menschen absolut.

Die Würde ist «unantastbar»

In unseren Verfassungen drückt sich dieser absolute Wert in Formulierungen aus, die meist mit dem Begriff der Würde zu tun haben. «Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen», heisst es in Artikel 7 der Schweizer Bundesverfassung, und das Deutsche Grundgesetz dekretiert noch deutlicher: «Die Würde des Menschen ist unantastbar.» Unantastbar: Das heisst keinerlei Einschränkungen unterworfen, schon gar keinen Kostenerwägungen. Wert und Würde des Menschen sind auch an keine Leistung gebunden; jeder Mensch ist wertvoll allein dadurch, dass er Mensch ist.

«Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.» So Immanuel Kant in der «Metaphysik der Sitten», für Rechtsphilosophen immer noch die Grundlage schlechthin.

Wo aber Knappheit herrscht, da muss gerechnet werden. Begrenzt sind Güter und Geld auf dieser Erde immer, auch die zur Erhaltung des Lebens verwendeten, und so wird schon jetzt gerechnet, ohne dass die Öffentlichkeit davon Kenntnis nimmt. Der Staat muss, wie jeder Unternehmer, seine Ressourcen sinnvoll einsetzen – auch wenn sein «Unternehmensziel» nicht der grösstmögliche Profit ist, sondern das «grösste Glück der grössten Zahl» (Jeremy Bentham). Also muss er kalkulieren: Wo bringt der Franken, Euro, Dollar den grösstmöglichen Nutzen? Und er muss vermeiden, den Franken an sinnloser Stelle auszugeben, damit er nicht an sinnvoller fehlt.

Fortschritt kostet Geld

Dass dabei auch der Wert eines Menschenlebens ins Kalkül gerät, ist so unvermeidlich wie empörend. Der Staat muss seine Bürger schützen, klar. Ihre Sicherheit ist ein hohes Gut. Aber wie viele Polizisten muss er dafür bezahlen? Wann bringt einer mehr keinen Zuwachs an Sicherheit mehr? Die Frage klingt abstrakt, der Staat aber muss sie beantworten, mehr noch: Er muss sie in eine Rechenformel verwandeln können.

Solche Formeln gibt es längst. Sie messen, um beim Beispiel zu bleiben, die Risikobereitschaft der Menschen. Oder das, was sie zur Erhaltung ihrer Gesundheit aufzuwenden bereit wären. Gerade im Gesundheitsbereich hat die Öffentlichkeit inzwischen begriffen, dass der Fortschritt Geld kostet, immer mehr Geld, und dass die Krankenkassenbeiträge nicht ins Unendliche wachsen können. «Presidential Care» für jedermann ist nicht bezahlbar. Bei begrenzten Ressourcen muss der Aufwand in ein «vernünftiges» Verhältnis zu den Kosten gesetzt werden.

Hier kommt QALY ins Spiel. QALY ist die Masseinheit für ein «Quality Adjusted Life Year», auf Deutsch ein «qualitätskorrigiertes Lebensjahr». Es ist der Versuch, Lebensqualität zu messen und mit der Lebenszeit zu verrechnen. Gibt man dem Tod den Wert null und vollkommener Gesundheit den Wert eins, so kann man – aufgrund von Befragungen und standardisierten Erhebungen – auch einem gesundheitlich eingeschränkten Leben einen Wert zuschreiben; etwa Blindheit mit 0,4. Zwei Jahre Weiterleben bei «halber Gesundheit» wären demnach so wertvoll wie ein Jahr bei voller Gesundheit.

Mit QALY können Ärzte die Auswirkungen verschiedener Behandlungsmethoden auf die Lebensqualität vergleichen; sie können aber auch die Kosten mit heranziehen. Wenn ein Medikament etwa die Lebensqualität von 20 Patienten um 0,05 Einheiten verbessert, macht das in der Summe 1 QALY aus. Kostet dieses Medikament mehr als 30 000 britische Pfund, «gilt es nicht als ökonomisch effizient»: Und Währung wie Zitat zeigen an, dass es sich hier nicht mehr um ein fiktives Beispiel handelt, sondern um eine Erläuterung der Effektivitätsmessung, wie sie auf der Website des National Institute for Health and Clinical Excellence zu lesen ist.

Das englische Gesundheitssystem praktiziert nicht nur die Rationierung der Medizin – nicht jeder kann alles bekommen –, sie geht auch offensiv damit um und benutzt die vorhandenen Methoden der Wirtschaftswissenschaft. In anderen Ländern scheut man die öffentliche Diskussion. Verständlich: Das Dilemma ist unauflösbar. Hier die begrenzten Mittel (kein Wähler möchte unendlich hohe Gesundheitsprämien zahlen), dort die Grausamkeit am konkreten Krankenbett, wenn es heisst: «Für Oma lohnt sich die Therapie nicht mehr.»

Es ist der Unterschied von Statistik und Einzelfall. In der Statistik ist der Mensch eine Zahl, im Einzelfall ein Absolutum. Das konkrete Menschenleben darf nicht verglichen, nicht relativiert, nicht berechnet werden. Aber es gibt Branchen, die mit dem Wert von Menschenleben rechnen müssen. Versicherungen etwa. Oder Verkehrsministerien. Auch unsere Strassen kann man nicht zu Hochsicherheitszonen hochrüsten, in denen kein Unfall mehr passieren kann. Auch hier muss es um eine Relation gehen: vermiedene Todesfälle ins Verhältnis gesetzt zu den Kosten – einer Unterführung etwa.

Jede Relation braucht Zahlen. Was zählt also ein Menschenleben? Die Frage hat kürzlich auch den deutschen Journalisten Jörn Klare umgetrieben. Er hat viele Interviews – mit Gesundheitspolitikern, Wirtschaftsmathematikern, einem Pfarrer und Philosophen – geführt und ein materialreiches Buch geschrieben, das allerdings allzu penetrant auf der Titelfrage beharrt: «Was bin ich wert?» (Suhrkamp Nova, 30 Fr.). Angestrengt bemüht, den Leser nicht zu überfordern, unterfordert er das Thema, trägt es aber immerhin in die Öffentlichkeit.

500 Franken gegen den Tod

Wie berechnet also der Ökonom ein Menschenleben? Dafür hat er zwei Methoden. Die eine geht vom Humankapital aus, sie berechnet, was durch den Tod der Gesellschaft an Wertschöpfung entgeht – stark vereinfacht wäre das der bis zum Ende des Arbeitslebens gezahlte Lohn. Sie findet bei Entschädigungszahlungen Verwendung; auch etwa bei den Opfern von 9/11 – da bekam die Witwe eines Bankers mehr als die Witwe eines Feuerwehrmannes.

Die andere Methode ist die der Zahlungsbereitschaft. Danach ist etwas so viel wert, wie man bereit ist, dafür zu bezahlen. Ermittelt wird dieser Wert durch Risikoanalysen. Natürlich nicht mit der Frage: «Was würdest du zahlen, um hier und jetzt nicht sterben zu müssen?» Denn die Antwort würde lauten: «Alles.» Sondern mit Fragen nach statistisch geringeren Risiken, die dann hochgerechnet werden. Ein gern benutztes Beispiel ist das Fussballstadion mit 10?000 Besuchern, unter denen einer per Zufall sterben muss. Wenn, um dieses statistische Risiko von einem Zehntausendstel auszuschalten, jeder Besucher 500 Franken zahlen würde, ergäbe sich für ein statistisches Menschenleben ein Wert von 500 mal 10 000 gleich 5 Millionen.

Die Methode hat so viele offensichtliche Schwächen – etwa die Annahme, Zahlungsbereitschaft und Risiko stiegen linear, aber auch die stark abweichenden Auskünfte bei unterschiedlichen Befragungen –, dass man sich wundert, wie weit sie sich durchgesetzt hat. Der Nationalökonom Hannes Spengler von der Technischen Universität Darmstadt kam mit einer viel beachteten Untersuchung zu «kompensatorischen Lohndifferenzialen», die ebenfalls auf Risikovermeidung beruht, auf einen statistischen Lebenswert von 1,65 Millionen Euro – umgerechnet 2,26 Millionen Franken. Ist das viel, ist das wenig? Wer so fragt, verwechselt erneut eine statistische Kennzahl mit der Bewertung seines eigenen Lebens, dessen Wert, weil einzigartig und unersetzlich, gegen unendlich geht.

Auch Linke und Ökologen kann man leicht von der Notwendigkeit statistischer Lebenswertermittlung überzeugen. Wer die sogenannten externen Kosten des Individualverkehrs berechnen will, also die Umweltbelastung, muss Luftschadstoffe in verkürzte Lebensjahre umrechnen. Auch dafür gibt es eine Formel. Die besagt nicht, welcher Mensch früher stirbt und wie man das verhindern kann, sondern, dass in einer gewissen Menge eine gewisse Anzahl weniger lang lebt, weil Autos die Luft verpesten.

Mit Zahlen wird Politik gemacht, in die eine oder die andere Richtung. Nur wird darüber nicht gern geredet; die Materie bleibt in den Händen von Spezialisten. Den Laien erstaunt es allenfalls, wie wacklig die Methodik ist und wie weit die Rechenergebnisse auseinanderliegen. Zahlen sind gefährlich, weil sie Objektivität suggerieren; wie sie zustande kommen, hängt aber wiederum von methodischen und politischen Entscheidungen ab. Und die sollten nicht unter Experten im stillen Kämmerlein gefällt werden.

Ob ein statistisches Menschenleben mit 1, 3, 5 oder 7 Millionen Franken angesetzt wird, hat Konsequenzen etwa für die Sicherheitsmassnahmen, die für den Schutz eines statistischen Bergarbeiters vor einem Grubenunglück ergriffen werden. Wenn allerdings ein konkreter Bergmann unter Tage verschüttet wird, dann gehört jede Statistik über den Haufen geworfen, dann muss egal sein und ist auch egal, was die Rettungsmassnahmen kosten. Dann steigt der Wert des Einzelnen wieder ins Unermessliche.

Hier ist es wieder, das Dilemma des Rechtsstaates: Er soll dem Leben des einzelnen Bürgers den höchsten Rang einräumen, kann für den Schutz des ganzen Volkes aber nur begrenzte Mittel einsetzen. Das Dilemma kann bis zur Ratlosigkeit gehen. 2006 hat das deutsche Verfassungsgericht einen Passus des Luftsicherheitsgesetzes gekippt. Dieser sah vor – auch eine Reaktion auf 9/11 –, dass ein von Terroristen gekidnapptes Flugzeug abgeschossen werden darf, um zu verhindern, dass es etwa in ein Hochhaus fliegt. Das Gericht verbot den (potenziellen) Abschuss. Man darf keine Menschen töten, damit andere nicht getötet werden. Das wäre Aufrechnen.

Der konkrete Mensch bleibt das Mass aller Dinge. Für ihn muss sich der Staat gewissermassen vierteilen lassen. Mit dem statistischen Menschen dagegen darf er munter rechnen – der ist nur ein Kostenfaktor.

(Tages-Anzeiger)

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