Mittwoch, August 11, 2010

Jugendgewalt - Den Tätern Paroli bieten

NZZ Online
7. August 2010
Den Tätern Paroli bieten

Jugendgewalt ist ein grosses deutsches Thema

Prävention ist wichtig, aber wo sie zu spät kommt, muss der Gewalt mit Mut, klug dosierter Repression und einer strengeren Ahndung brutaler Exzesse begegnet werden. So könnte die Lehre lauten, die sich mit den Namen Dominik Brunner und Kirsten Heisig verbindet.

Joachim Güntner

Am 12. September 2009 starb Dominik Brunner, und Deutschland betrauerte einen Helden. Der 50-jährige Unternehmer hatte sich schützend vor Jugendliche gestellt, die in der S-Bahn von zwei Halbstarken drangsaliert worden waren. Als die Gruppe am Bahnhof München-Solln ausstieg, war die bestellte Polizei noch nicht eingetroffen, es kam zu einer für Brunner tödlichen Schlägerei zwischen ihm und den beiden Kriminellen. Mehr als zwanzig Verletzungen, darunter auch einen Tritt an die Schläfe, der am Stiefelabdruck zu identifizieren war, ergab die Obduktion. Viele davon hatte Brunner erlitten, als er bereits am Boden lag. «Minutenmonster», die kaum Gründe brauchen und «mit irrsinniger Wut zuschlagen», nannte der «Spiegel» die 17 und 18 Jahre alten Täter. Das Opfer Brunner hingegen galt dem Magazin als «Held der Zivilgesellschaft», als idealer Bürger, «der sich einmischt und der Gesellschaft jenen Gemeinsinn gibt, ohne den sie nur eine Ansammlung von Egoisten bliebe». Brunner erhielt postum.....



NZZ Online
7. August 2010
Den Tätern Paroli bieten

Jugendgewalt ist ein grosses deutsches Thema
Gewalt von Jugendlichen bleibt ein Thema.

Prävention ist wichtig, aber wo sie zu spät kommt, muss der Gewalt mit Mut, klug dosierter Repression und einer strengeren Ahndung brutaler Exzesse begegnet werden. So könnte die Lehre lauten, die sich mit den Namen Dominik Brunner und Kirsten Heisig verbindet.

Joachim Güntner

Am 12. September 2009 starb Dominik Brunner, und Deutschland betrauerte einen Helden. Der 50-jährige Unternehmer hatte sich schützend vor Jugendliche gestellt, die in der S-Bahn von zwei Halbstarken drangsaliert worden waren. Als die Gruppe am Bahnhof München-Solln ausstieg, war die bestellte Polizei noch nicht eingetroffen, es kam zu einer für Brunner tödlichen Schlägerei zwischen ihm und den beiden Kriminellen. Mehr als zwanzig Verletzungen, darunter auch einen Tritt an die Schläfe, der am Stiefelabdruck zu identifizieren war, ergab die Obduktion. Viele davon hatte Brunner erlitten, als er bereits am Boden lag. «Minutenmonster», die kaum Gründe brauchen und «mit irrsinniger Wut zuschlagen», nannte der «Spiegel» die 17 und 18 Jahre alten Täter. Das Opfer Brunner hingegen galt dem Magazin als «Held der Zivilgesellschaft», als idealer Bürger, «der sich einmischt und der Gesellschaft jenen Gemeinsinn gibt, ohne den sie nur eine Ansammlung von Egoisten bliebe». Brunner erhielt postum den Bayerischen Verdienstorden und das Bundesverdienstkreuz, eine Stiftung für Zivilcourage trägt seinen Namen. Auf Zweifel an seinem Verhalten wird noch zurückzukommen sein.

Kulturkritische Klage

Im Buch der Jugendrichterin Kirsten Heisig, das Anfang Woche unter dem Titel «Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter» erschien und dessen Startauflage von vierzigtausend Exemplaren sofort verkauft war, findet der Überfall von Solln dreimal Erwähnung. Die Tat steht dort für eine besonders schreckliche Entladung einer «schleichenden Brutalisierung in den Köpfen vieler Kinder und Jugendlicher», sie wird analog gesetzt zur Attacke auf einen Rentner, der Heranwachsende auf das Rauchverbot in der U-Bahn hingewiesen hatte und dafür beinahe totgeschlagen worden war. Schliesslich motiviert der Tod von Dominik Brunner, der gegen zwei Gegner kämpfte, die Autorin zu einer grundsätzlichen kulturkritischen Klage: «Wir leben in einer Gesellschaft, in der an den Problemen bewusst vorbeigeschaut wird [. . .] Die Menschen achten nicht mehr aufeinander und stehen nicht mehr füreinander ein.»

Wie Brunner ist auch Kirsten Heisig durch den Tod zu einer Berühmtheit geworden: Vor einem Monat fand man die Leiche der schon als vermisst gemeldeten Richterin im Tegeler Forst. Ihr mutmasslicher Selbstmord gibt vielen Berlinern Rätsel auf, und sicherlich hat die Kunde davon den Verkaufserfolg ihres Buches befördert. Es kommt aber mehr hinzu. Heisig lockt mit Berichten vom kriminellen Alltag aus erster Hand, zugleich befriedigt sie die Sehnsucht nach Moralität und praktischen Problemlösungen. Obgleich der Autorin der Ruf einer «Richterin Gnadenlos» vorauseilt, überzeugt der Text gerade dadurch, dass ihm ideologische Verhärtung fehlt.

Jugend immer brutaler?

Heisig hält nichts von einer Verschärfung des Strafrechts oder einer Herabsetzung der Altersgrenze für die Strafmündigkeit. Umso mehr verspricht sie sich von zügigen Prozessen (zwischen Straftat und Gerichtsurteil dürfen nicht Monate liegen, da der Täter sonst den Bezug von Tat und Strafmass nicht vergegenwärtigen kann und die erzieherische Wirkung entfällt) sowie einer Vernetzung der Informationen zwischen Polizei, Justiz, Schulen und Jugendarbeit. Den überproportionalen Anteil, den Migranten in Berlin-Neukölln an Delikten haben, stellt das Buch klar heraus, und grosse Sorgen bereitet Heisig die Abkapselung einiger muslimischer Milieus, die nach eigenen Gesetzen leben und für den deutschen Staat unerreichbar sind. Doch anstatt sich auf die Seite politischer Stimmungsmache zu begeben, hat Kirsten Heisig zu Lebzeiten Verbindungen zu türkischen und arabischen Vereinen geknüpft und an Elternabenden die Notwendigkeit schulischer Bildung gepredigt. Es hielt die Richterin nicht im Gerichtssaal, sie wurde im Kiez aktiv.

Die Fälle Brunner und Heisig korrespondieren miteinander und forcieren die dramatische Seite der – gewiss nicht nur deutschen – Diskussion über Jugendgewalt. Beide geben der Auffassung Nahrung, dass die Lage «immer schlimmer» werde: Brunner durch die Art, wie er Opfer wurde, Heisig dadurch, dass sie mit der Autorität einer Praktikerin, die sich auf Erfahrungswissen stützt, explizit für die Gegenwart behauptet, «dass die Gewalttaten von grösserer Brutalität und Häufigkeit gekennzeichnet sind, obwohl es wesentlich weniger junge Menschen gibt». Damit bringt sie sich in einen bewussten Gegensatz zu den Ansichten des namhaften Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen und seines Direktors Christian Pfeiffer. Gestützt auf die polizeiliche Kriminalstatistik und eine breit angelegte eigene Studie, verkündet das Institut, es gebe in den letzten vier bis sechs Jahren «einen stabilen bis leicht sinkenden Trend der Jugendgewalt». In einem offenen Brief an die Rechtspolitiker von Bund und Ländern beklagt Pfeiffer, dass niemand die frohe Botschaft hören wolle.

Nun verrät allerdings die kriminologische Forschung meist wenig darüber, wie rücksichtslos und exzessiv Gewalttaten sind, sie begnügt sich mit einer groben Einteilung nach einfacher und schwerer Körperverletzung, Raub, Erpressung und sexueller Gewalt. Hier geraten Statistik und Kasuistik, wissenschaftliche Umfrage und erlebte, manchmal auch nur «gefühlte» Realität aneinander. Zum Paradigma der neuartigen Brutalisierung ist das Treten – bis hin zum Tottreten – geworden, namentlich der gezielte Tritt gegen den Kopf eines bereits wehrunfähig gemachten Opfers. Als ich Christian Pfeiffer zehn Tage nach Dominik Brunners Tod anrief und fragte, ob er, wenn er einen zahlenmässigen Rückgang von Gewalttaten feststelle, nicht doch zumindest zugeben müsse, dass die Taten zwar weniger, dafür aber härter geworden seien, bestritt er dies. Die gern verbreitete Darstellung, früher hätten Jugendliche mit Schlagen aufgehört, wenn der Gegner am Boden lag, sei «frei erfunden». Unzufrieden mit diesem Bescheid, der meinen Kindheitserinnerungen widersprach, stiess ich bei Nachforschungen auf eine «Spiegel»-Serie von 1973 zur Jugendkriminalität, die Pfeiffer auf den ersten Blick zu bestätigen schien. Das Lamento über die Verrohung Heranwachsender ist alt, und es fand sich sogar eine Parallele zum Fall Brunner: Rocker hatten in Hamburg einen Kaufmann totgetreten, weil er ein angepöbeltes junges Pärchen hatte beschützen wollen. Und doch hält sich bei vielen die Vorstellung, damals seien Schlägereien glimpflicher ausgegangen, «abgezockte» Schulkinder und S-Bahn-Reisende mit eingetretenem Schädel habe es weit seltener gegeben.

Im Prozess gegen die Straftäter von Solln dürften bald die Urteile gesprochen werden, die Beweisaufnahme scheint abgeschlossen. Dominik Brunners leuchtendes Vorbild hat einige Flecken bekommen; ob damit auch die anfängliche Unterteilung in den Helden hier und die Monster dort obsolet wurde, ist strittig. Zeugen gaben an, Brunner, erfahren im Kickboxen, habe auf dem Bahnsteig als Erster zugeschlagen und so möglicherweise die Eskalation provoziert. Dass keiner der Schläge und Tritte für sich genommen tödlich gewesen sei, sondern dass der Fünfzigjährige an Herzversagen gestorben war, war gleich zu Anfang des Prozesses klar, jedoch hatte die Staatsanwaltschaft zunächst einen medizinisch dokumentierten Herzfehler Brunners verschwiegen. Der Verteidigung nutzt dies natürlich, und für die strafrechtliche Würdigung wird Brunners (von seinem langjährigen Internisten bestrittene) angebliche «Herzkrankheit» gewiss eine Rolle spielen. Zugleich gilt hinsichtlich der Todesursache selbstredend, dass Brunners Herz ohne die Tortur, die das Opfer erlitt, gar nicht erst versagt hätte.

Unklug, aber heldenhaft

Bleibt die Frage nach dem Tötungsvorsatz. Deutsche Gerichte neigen bis anhin dazu, eine gravierende Tötungshemmung vorauszusetzen und selbst für Tritte gegen den Kopf strafmildernd anzunehmen, der Täter wisse nicht, was er tue. Dies dürfte nach der Dissertation des Bremer Juristen Daniel Heinke zum Delikt «Tottreten» schwerer werden. Heinke kann fundiert belegen, dass es in der Bevölkerung sehr wohl eine ausgeprägte Ahnung davon gibt, wie lebensgefährlich Tritte gegen Kopf und Bauch sein können. Dass im Einzelfall Wutausbrüche diese Ahnung vergessen machen können, räumt Heinke ein. So spräche für die Täter von Solln, dass sie zuvor zwar als Kleinkriminelle, nie aber als Schläger aktenkundig geworden sind. Typisch ist ihr Fall eher nicht.

Dominik Brunner hat nicht so klug gehandelt, wie es Konflikt-Trainer für solche Situationen empfehlen. Er hätte durch direkte Ansprache der Mitreisenden Genossen finden und den Kampf «Einer gegen zwei» vermeiden müssen. Moralisch aber bleibt er der Held, der nicht wegsah, als Schwache in Bedrängnis gerieten. Der emphatische Kommentar eines Verehrers: «Die Frage ist nicht, warum Dominik Brunner gestorben ist, sondern wofür», markiert den zentralen Punkt.

1 Kommentar:

Gert Sambor hat gesagt…

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang die Initiative BOY4PEACE interessant, die versucht, speziell mit Jungs über Männlichkeitsideale und Gewalt zu diskutieren.

G.Sambor