Dienstag, August 03, 2010

Mit Kindersklaven zu Wohlstand

Tages Anzeiger Online
Mit Kindersklaven zu Wohlstand
Von Stefan Eiselin.

Eine neue Studie der Uni Oxford stellt die bisherige Wirtschaftsgeschichte in Frage: Nur dank massivem Einsatz von Kindern konnte Grossbritannien zur ersten modernen Wirtschaftsmacht aufsteigen.

Jane Humphries hat Hunderte von statistischen Quellen aus 600 Autobiographien ausgewertet. Und dabei eine Entdeckung gemacht, welche die bisherige Geschichtsschreibung auf den Kopf stellt. Kinderarbeit war demnach weitaus wichtiger für die industrielle Revolution als bislang angenommen. Anfang des 19. Jahrhunderts habe es in Grossbritannien über eine Million Kinder gegeben, die in Fabriken geschuftet hätten, so die Professorin der Elite-Universität Oxford. Damit hätten sie 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung ausgemacht.

Damals wuchs Grossbritannien gerade zur ersten modernen Wirtschaftsmacht der Welt heran. Vor allem an Wasserläufen auf dem Land schossen neue Fabriken aus dem Boden. Für sie gab es viel zu wenig Arbeitskräfte: Die in den....



Tages Anzeiger Online
Mit Kindersklaven zu Wohlstand
Von Stefan Eiselin.

Eine neue Studie der Uni Oxford stellt die bisherige Wirtschaftsgeschichte in Frage: Nur dank massivem Einsatz von Kindern konnte Grossbritannien zur ersten modernen Wirtschaftsmacht aufsteigen.
Kinderarbeit wurde schon früh zum Thema gemacht: Karikatur aus den USA von ca. 1914.

Jane Humphries hat Hunderte von statistischen Quellen aus 600 Autobiographien ausgewertet. Und dabei eine Entdeckung gemacht, welche die bisherige Geschichtsschreibung auf den Kopf stellt. Kinderarbeit war demnach weitaus wichtiger für die industrielle Revolution als bislang angenommen. Anfang des 19. Jahrhunderts habe es in Grossbritannien über eine Million Kinder gegeben, die in Fabriken geschuftet hätten, so die Professorin der Elite-Universität Oxford. Damit hätten sie 15 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung ausgemacht.

Damals wuchs Grossbritannien gerade zur ersten modernen Wirtschaftsmacht der Welt heran. Vor allem an Wasserläufen auf dem Land schossen neue Fabriken aus dem Boden. Für sie gab es viel zu wenig Arbeitskräfte: Die in den ländlichen Gebieten lebenden Menschen, die meist in der Landwirtschaft arbeiteten, liessen sich nicht an die Fabrikarbeit gewöhnen. Fündig wurden die Fabrikherren bei den Kindern. «Sie suchten billige, formbare und schnell lernende Mitarbeiter – und fanden sie bei den Kindern der Fabrikarbeiter», erklärt Humphries.

Jeder zweite Bube arbeitete

Und so stieg die Beschäftigung bei den jungen Menschen rapide an. Im 18. Jahrhundert arbeiteten rund 35 Prozent der zehnjährigen Buben. Zwischen 1790 und 1820 stieg diese Zahl jedoch gemäss der neuen Studie auf 55 Prozent. Bis 1850 nahm sie dann gar auf 60 Prozent zu. Bei den Achtjährigen stieg die Zahl ebenso stark.

Die Forschungsergebnisse zeigen, dass die industrielle Revolution am Anfang auf Kinderarbeit aufbaute – oder wie die Zeitung «Independent» anmerkt: auf Kindersklaven. Denn die jungen Arbeiter wurden nicht bezahlt. Sie erhielten lediglich Kost und Logis. Damit baute also auch ein schöner Teil des Wohlstandes Grossbritanniens auf Kinderarbeit auf. Denn in der industriellen Revolution stieg das Bruttoinlandprodukt des Königreiches markant (siehe Grafik).

Frauen an den Herd

An sich wurde damit aber nur eine lange Tradition fortgeführt: Denn in der Landwirtschaft und im Handwerk waren arbeitende Kinder schon immer üblich.

Die vermehrte Kinderarbeit hatte auch gesellschaftliche Folgen. Die Eltern konnten ihre Kinder nicht mehr so strikte kontrollieren. Dadurch heirateten die Sprösslinge viel früher, die Familien wurden grösser. Und dadurch wiederum wurden die Frauen zurück an den Herd gedrängt. Ihre Beschäftigungsquote nahm stark ab. Je mehr sich die Frauen aus der Arbeitswelt zurückzogen, desto mehr Kinder mussten angeheuert werden – ein Teufelksreis nahm seinen Lauf.

Childhood and Child Labour in the British Industrial Revolution, Jane Humphries, Cambridge Studies in Economic History 2010. 456 Seiten.

(Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

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