Samstag, Februar 07, 2009

Der Fluch des Christentums

Die Zeit / Anno 2000
Der Fluch des Christentums

Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion.
Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren.

Von Herbert Schnädelbach


Mit seinem "Mea culpa!" hatte der Papst Woityla auf seine Weise Bilanz gezogen; er bat um Vergebung für das, was Christen im christlichen Namen getan haben, hütete sich aber, irgendeine Schuld der Kirche als solcher einzuräumen. In der Perspektive der Kirchenräson ist das verständlich, aber es dient nicht der Wahrheit, denn die Wahrheit ist: Die "sieben Todsünden", die der Papst nennt, sind nicht trotz, sondern wegen des Christentums geschehen; die Täter haben dabei nicht gegen dessen Prinzipien verstoßen, sondern nur versucht, sie durchzusetzen. Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation, der bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts reicht, während der christliche "Segen" stets von Individuen ausging, die das, was sie Gutes taten, allzu oft gegen den Widerstand der amtskirchlichen Autoritäten durchsetzen mussten. Meine Vermutung ist, dass diese Christen ihre Kraft stets aus den biblischen Beständen bezogen, die gar nicht spezifisch christlich sind, sondern jüdisches Erbe: zum Beispiel das Liebesgebot. Im Folgenden geht es nicht um die grauenvolle Kriminalgeschichte des Christentums; in die Falle "Prinzip versus Realität" und "Wir sind allzumal Sünder" möchte ich nicht tappen. Deswegen werde ich stattdessen, im Gegenzug zu den "sieben Todsünden" des Papstes, auf sieben Geburtsfehler des Christentums verweisen, die es gar nicht beheben kann, weil dies bedeutete, sich selbst aufzuheben. Vielleicht aber ist diese Selbstaufgabe der letzte segensreiche Dienst, den das Christentum unserer Kultur nach 2000 Jahren zu leisten vermöchte; wir könnten es dann in Frieden ziehen lassen.

1. Die Erbsünde

Wie das Christentum als Theologie......



Die Zeit / Anno 2000
Der Fluch des Christentums

Die sieben Geburtsfehler einer alt gewordenen Weltreligion.
Eine kulturelle Bilanz nach zweitausend Jahren.

Von Herbert Schnädelbach


Mit seinem "Mea culpa!" hatte der Papst Woityla auf seine Weise Bilanz gezogen; er bat um Vergebung für das, was Christen im christlichen Namen getan haben, hütete sich aber, irgendeine Schuld der Kirche als solcher einzuräumen. In der Perspektive der Kirchenräson ist das verständlich, aber es dient nicht der Wahrheit, denn die Wahrheit ist: Die "sieben Todsünden", die der Papst nennt, sind nicht trotz, sondern wegen des Christentums geschehen; die Täter haben dabei nicht gegen dessen Prinzipien verstoßen, sondern nur versucht, sie durchzusetzen. Nicht bloß die Untaten einzelner Christen, sondern das verfasste Christentum selbst als Ideologie, Tradition und Institution lastet als Fluch auf unserer Zivilisation, der bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts reicht, während der christliche "Segen" stets von Individuen ausging, die das, was sie Gutes taten, allzu oft gegen den Widerstand der amtskirchlichen Autoritäten durchsetzen mussten. Meine Vermutung ist, dass diese Christen ihre Kraft stets aus den biblischen Beständen bezogen, die gar nicht spezifisch christlich sind, sondern jüdisches Erbe: zum Beispiel das Liebesgebot. Im Folgenden geht es nicht um die grauenvolle Kriminalgeschichte des Christentums; in die Falle "Prinzip versus Realität" und "Wir sind allzumal Sünder" möchte ich nicht tappen. Deswegen werde ich stattdessen, im Gegenzug zu den "sieben Todsünden" des Papstes, auf sieben Geburtsfehler des Christentums verweisen, die es gar nicht beheben kann, weil dies bedeutete, sich selbst aufzuheben. Vielleicht aber ist diese Selbstaufgabe der letzte segensreiche Dienst, den das Christentum unserer Kultur nach 2000 Jahren zu leisten vermöchte; wir könnten es dann in Frieden ziehen lassen.

1. Die Erbsünde

Wie das Christentum als Theologie ist auch die Erbsünde eine Erfindung von Paulus: "Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben" (Röm. 5, 12). In der Tat ist auch Genesis 2, 17 zufolge der Tod "der Sünde Sold" (Römer 6, 23), denn Gott sprach: "... aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben." Das Alte Testament kennt somit den Tod aller Menschen nur als Erbschaft der Sünde Adams. Aus diesem "Erbtod" macht Paulus im kühnen Umkehrschluss die Erbsünde: Wenn die Sünde den Tod zur Folge hat, muss dort, wo gestorben wird, auch Sünde gewesen sein, für den der Tod die Strafe ist; also sind alle Nachkommen Adams allein deswegen, weil sie als Sterbliche geboren worden sind, geborene Sünder - unabhängig von ihren Taten. Daraus ergibt sich die paulinische Botschaft der Rechtfertigung durch den Glauben, auf die sich in unseren Tagen Katholiken und Protestanten in einem gigantischen Formelkompromiss erneut geeinigt haben. Eine solche Nachricht ist aber kein Trost, sondern eine Provokation für alle, die sich weigern, den paulinischen Zusammenhang zwischen Tod und Sünde anzuerkennen: Warum sollte ich mich bloß deswegen, weil ich sterblich bin, für schuldig halten? Wer sich nur durch den Glauben für gerechtfertigt hält, ist bereit, sich um Adams willen oder besser grundlos beschuldigen zu lassen und dann als bloß Begnadigter weiterzuleben. Überdies kann der Begnadigte seiner Gnade niemals sicher sein, wie uns die Lehre von der Prädestination versichert. Deren Funktion ist es freilich, die Rechtfertigung durch den Glauben nicht selbst als einen Rechtsanspruch darzustellen, aber was ist das für eine Gerechtigkeit, die die einen Erbsünder zum Heil und die anderen zur Verdammnis vorherbestimmt? An dieser Stelle verbietet uns das Christentum den Mund: "Ja, lieber Mensch, wer bis du denn, daß du mit Gott rechten willst?" (Röm., 9, 20)

Was die Lehre von der Erbsünde anthropologisch bedeutet, liegt auf der Hand: Sie ist menschenverachtend. Der Mensch, wie er geht und steht, ist verblendet, wenn er sich nicht für "verderbt" und für unfähig zum Guten hält. Dass die Ideen der Menschenwürde und der Menschenrechte christliche Wurzeln hätten, ist ein gern geglaubtes Märchen. Die Idee der Humanitas stammt aus der Stoa, und die Figur des aufrechten Ganges des Menschen vor Gott ist ein jüdisches Erbe, das das paulinische Christentum korrumpiert und verschleudert hat. Der fromme Jude spricht sich selbstverständlich die prinzipielle Fähigkeit zu, "gerecht", das heißt dem göttlichen Gesetz gemäß zu leben; er kennt keine Erbsünde, sondern nur die Sünden, die er selbst begangen hat, und für die existiert auch Vergebung. Diese jüdische Überzeugung trifft der ganze Hass und die ganze Verachtung des Neuen Testaments; Paulus zufolge gibt es vor Gott keine Gerechten, und die, die sich dafür halten, sind Pharisäer - ein Schimpfwort bis heute. Dem fügt er noch die Propagandaphrase vom Leiden der Juden unter dem Gesetz hinzu, die bis heute die Judenmission rechtfertigen soll; es gilt ihm als "Fluch" und als "Zuchtmeister ... auf Christum" (Galater 3, 13 und 24). In Wahrheit ist für die frommen Juden das Gesetz selbst göttliche Gnade; wie könnten sie sonst das Fest der Gesetzesfreude feiern?

Die Lehre von der Erbsünde und ihr Gegenstück, die These von der Gerechtigkeit allein durch den Glauben, haben dazu geführt, dass das jüdische Motiv der Würde eines jeden Menschen als Gottes Ebenbild und die stoische Idee der Menschenrechte im Christentum nur in verstümmelter und dadurch pervertierter Gestalt festgehalten wurden. Das Resultat ist die christliche Lehre vom relativen Naturrecht: Menschenwürde und Menschenrechte existieren im Christentum nur für Glaubende als von Gott Begnadigte. Wer dazugehört, darüber entscheidet die Kirche: "Extra ecclesiam nulla salus." So ist es kein Zufall und erst recht kein historischer Unfall, wie der Papst glauben machen möchte, dass seit je für die Christen die Heiden bis zu ihrer Taufe keine Menschen waren und auch nicht so behandelt werden mussten.

In den christlichen Staaten konnten naturrechtliche Ansprüche stets mit dem Hinweis auf den "Sündenstand" der Betroffenen abgewiesen werden. So musste die Aufklärung die Idee des nichtrelativen Naturrechts gegen den erbitterten Widerstand der Amtskirche beider Konfessionen durchsetzen, denn es ließ sich nur als säkulares durchsetzen. Dabei galt es, die Erbsündenlehre samt ihren fatalen Implikationen zu neutralisieren. Dass auch heute ständig auf die Verdienste des Christentums für die Ideen der Menschenwürde und Menschenrechte verwiesen wird, so als hätte hier etwas vorgelegen, was nur zu säkularisieren gewesen wäre, ist in Wahrheit bittere Ironie: Das jüdische und stoische Erbe musste der christlichen Tradition erneut abgetrotzt werden. Es gibt keinen Grund für Christen, darauf auch noch stolz zu sein.

2. Die Rechtfertigung als blutiger Rechtshandel

Die ursprüngliche Botschaft der ersten Christen lautete: "Er ist auferstanden." Welchen Sinn hatte dann seine Kreuzigung? Die Auskunft des Paulus lautet: "Wie nun durch eines Sünde die Verdammnis über alle Menschen gekommen ist, also ist auch durch eines Gerechtigkeit die Rechtfertigung des Lebens über alle Menschen gekommen" (Röm. 5, 18). Die Gerechtigkeit dieses einen aber ist für das Neue Testament keine andere als die des leidenden Gottesknechts nach Jesaja 53, 4 ff., der sich wie ein "Lamm" zur "Schlachtbank" (10) führen lässt und sein Leben zum "Schuldopfer" hingibt. Das Christentum fasst die Erlösung von der Erbsünde im Sinne des alten jüdischen Sühnerituals, in dem ein Schaf zum "Sündenbock" gemacht wird, als das Sühnopfer eines unschuldig Gekreuzigten, der "unsere Sünden ... hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz" (1. Petrus 3, 24).

Wenn das die ganze Wahrheit vom "Lamm Gottes" wäre, dann genügte Dankbarkeit, um einen zum Christsein zu veranlassen, aber uns wird gesagt: Dieser unschuldig Geopferte war nicht irgendwer, sondern der Sohn Gottes; das Lamm Gottes war selbst Gott. Somit hat Gott dieses Sühnopfer mit sich selbst veranstaltet, denn "Gott war in Christo und versöhnte die Welt mit ihm selbst"(2. Kor. 5, 19 ). Diese Selbstversöhnung Gottes erscheint auch als Rechtshandel, in dem Gott zugleich Gläubiger und Vertreter der Schuldner ist; die Währung ist Blut: "Ihr seid teuer erkauft" (1. Kor. 6, 20); "... mit dem teuren Blut Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes" (1. Petrus 1, 18 f.). Angesichts dieses unbegreiflichen Szenariums möchte man fragen, warum der christliche Gott nicht unter denselben Bedingungen vergeben kann wie der jüdische Gott am Jom-Kippur-Fest, und dies vielleicht auch ohne Opferlamm.

"Das Blut Jesu Christi ... macht uns rein von aller Sünde" (1. Johannes 1, 7) - im Pietismus und seinen Liedern wurden daraus wahre Blutorgien. Seit dem späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert ist die christliche Ikonografie eine Welt von "Blut und Wunden". Die Maler und Bildner können sich gar nicht genug tun in der grausigen Darstellung der Leiden Christi und der unzähligen Märtyrer. Warum hängt ein sterbender Gehenkter in allen Kirchen und bayerischen Schulstuben - und nicht ein Auferstandener? Warum genügt nicht ein Kreuz als das paradoxale Zeichen der Einheit von Niederlage und Sieg, von Erniedrigung und Erhöhung? Wieso müssen christliche Kinder vom ersten Schultag an vor Augen haben, was Kreuzigung physisch bedeutet?

Der Grund ist: Das Christentum kann sich Glaube/Liebe/ Hoffnung nicht ohne Blut vorstellen; je blutiger, desto authentischer. Was wäre schon ein siegreicher gegenüber dem gegeißelten Jesus in der Wieskirche? Sicher wäre es überzogen, diese Bilderwelt mit heutigen Gewaltvideos zu vergleichen; die Vermutung aber, dies alles habe auch der mentalen Vorbereitung auf die Grausamkeiten im Namen Christi gedient, lässt sich nur schwer abweisen. Die antike Rechtspraxis der Folter wurde schließlich von Papst Innozenz III. im 11. Jahrhundert wieder eingeführt und erlebte durch die heilige Inquisition ihre perfide Vollendung. Was waren die Leiden der Gefolterten gegenüber den in den Kirchen dargestellten? Wo immer realistischere Cruzifixe zum optischen Alltag der Städte gehörten, konnten Geräderte vor den Toren verenden, ohne zu irritieren. Es ist nicht bekannt, dass das Christentum führend war bei der Humanisierung der Strafjustiz; die letzte europäische Schauhinrichtung veranlasste Papst Leo XII. 1825.

Waren die Passionsgeschichte und die Märtyrerlegenden nicht außerdem die beste Einübung in die christliche Behandlung der Heiden und Ketzer? Immer noch sollen wir glauben, der Beitrag des Christentums zu unserer Kultur habe vor allem in der Humanisierung der heidnischen Menschen bestanden. Diese Fabel bestimmte auch über Jahrhunderte die Vorstellung christlicher Erziehung als einer Zähmung der als Sünder geborenen kleinen Wilden und musste überdies zur Rechtfertigung des Kolonialismus herhalten. In Wahrheit ist nicht bekannt, dass Kelten, Germanen oder Slaven Greuel vom Ausmaß des Massenmords Karls des Großen an den Sachsen, des Blutbads bei der Eroberung Jerusalems während der Kreuzzüge, des Strafgerichts über die Katharer oder der Untaten der südamerikanischen Eroberer begangen hätten; wenn das alles die Domestikation der "blonden Bestie" bezeugen soll, dann bezeugt es deren Misslingen. Tatsächlich stammt die Ritterlichkeit der Ritter aus der islamischen Welt und die Höflichkeit der Höflinge, das heißt des Adels und des aufsteigenden Bürgertums, aus der Wiederaneignung der Antike in der Renaissance. Hier liegen die Wurzeln des Humanismus, dem noch zu Beginn unseres Jahrhunderts alle katholischen Amtsträger im so genannten Anti-Modernismus-Eid abschwören mussten. Nicht nur den Menschenrechten ohne die Kautelen der Erbsünde, sondern auch der Menschlichkeit als Prinzip setzte das Christentum oft tödliche Widerstände entgegen; die Geschichte der Märtyrer des Humanismus ist wohl noch zu schreiben.

3. Der Missionsbefehl

Was im Christentum dem humanistischen Respekt vor dem natürlichen Menschen von allem Anfang an entgegenstand, war der Missionsbefehl. Im Matthäusevangelium heißt es: "Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker, indem ihr sie taufet im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes, und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe" (Matthäus 28, 19 f.). Hier werden die "Völker" nicht gefragt, ob sie getauft und zu Jüngern gemacht werden wollen, sondern die Taufenden dürfen sich als Vollstrecker "aller Gewalt im Himmel und auf Erden" verstehen; die Zwangstaufen sind dafür der Beleg.

Der Missionsbefehl ist ein Toleranzverbot, denn was anders ist als christlich, ist nur dazu da, getauft zu werden. Von Duldsamkeit gegenüber den anderen brauchte freilich so lange keine Rede sein, wie die Christen selbst eine verfolgte und geduldete Minderheit in einer heidnischen Umwelt waren; in der Perspektive einer Kultur hingegen, die sich längst als christliche etabliert hat, bedeutet das Missionsgebot den Auftrag zur Ausrottung des Heidentums weltweit, das heißt die theologische Ermächtigung zum christlichen Kulturimperialismus. Dass die Missionare selbst zunächst friedliche Mittel bevorzugten, kann man zugeben, aber sie hatten auch nichts dagegen, wenn nach ihnen die Händler und dann die Kanonenboote kamen. Und wie Beispiele aus Brasilien zeigen, kommen heute erst die dollargespickten Missionare der fundamentalistischen Sekten und dann die Ölmultis.

Das Judentum ist insofern tolerant, als es nicht missioniert, und der Islam hat trotz seines Missionsdranges immer die beiden Schriftreligionen Juden- und Christentum respektiert; so blühte die jüdische Kultur unter muslimischer Herrschaft, und die orthodoxen Völker konnten im Osmanischen Reich immerhin im kirchlichen Raum ihre kulturelle Identität bewahren. Religiöse Toleranz ist keine christliche Tugend, denn sie verstößt gegen den Missionsbefehl. Das kirchliche Misstrauen gegen Lessings Nathan war wohlbegründet, denn die Möglichkeit einzuräumen, dass die Juden oder die Muslime den echten Ring besitzen könnten und nicht die Christen, bedeutete den Einbruch der Skepsis in die kirchenoffizielle Glaubensgewissheit der einen und einzigen Wahrheit. Wo das Christentum tolerant wird, hat es sich in Wahrheit schon aufgegeben, auch wenn es dann noch als Privatangelegenheit fortlebt oder als eine moralische Grundhaltung, zu deren Begründung die Bibel entbehrlich ist.

4. Der christliche Antijudaismus

Die christliche Judenfeindschaft hat ihre Wurzel in den Evangelien, während im Umkreis von Paulus davon kaum die Rede ist. Sie ist ursprünglich eine innerjüdische Angelegenheit, denn die Evangelisten sammeln frühestens drei Jahrzehnte nach dem Tod Jesu judenchristliche Berichte über dessen Leben und Sterben, und die kommen darin überein, die Hohepriester und Schriftgelehrten sowie das von ihnen angestachelte "Volk" für die Kreuzigung verantwortlich zu machen. Es sind also zunächst getaufte Juden, die Juden anklagen, den wahren Messias verkannt zu haben.

Während es Markus und Lukas bei der Beschuldigung des orthodoxen Judentums belassen, geht Matthäus zum christlichen Antijudaismus über. Was heute noch jeden christlichen Hörer von Bachs Matthäuspassion erstarren lassen sollte, ist das, was das "ganze Volk" dem Pilatus antwortet, als der seine Hände in Unschuld wäscht und sagt: "Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten!" - "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!" Geschrieben ist dies nach der Eroberung und Zerstörung Jerusalems durch die Römer im Jahre 70, und dieses Ereignis gilt dem frommen Evangelisten als Erfüllung jenes unfrommen Wunsches; zuvor hatte er Jesus die Katastrophe des palästinensischen Judentums ausführlich prophezeien lassen (Matthäus 23 und 24). Es handelt sich hier um eine der zahlreichen Varianten des Schemas Verheißung-Erfüllung, mit denen das Matthäusevangelium seinen Judengenossen das Christentum nahe bringen wollte. Was den Juden in Jerusalem von den Römern geschah, erscheint als gerechte Folge der Selbstverfluchung eines ganzen Volkes, durch die es nach Matthäus die Schuld am Tode Jesu ausdrücklich auf sich genommen haben soll und fortwirkt in alle Ewigkeit. Also nicht bloß der Bericht aller Evangelien, dass Juden die Kreuzigung betrieben hätten - Johannes spricht an dieser Stelle nur noch von "den" Juden -, ist schon ein hinreichendes Motiv der christlichen Judenfeindschaft; erst die Behauptung, "die" Juden hätten doch selbst das Blut Jesu heraufbeschworen, verschaffte den christlichen Judenverfolgungen ein gutes Gewissen. So zieht sich von jener Blut-Stelle des Matthäus eine Blutspur über die ungezählten Judenpogrome im christlichen Europa bis hin zum rassistischen Antisemitismus als dem säkularen Erbe des religiösen Antijudaismus. Der Holocaust war ohne das Christentum nicht möglich, viele Christen haben sich daran ohne schlechtes Gewissen beteiligt, und die katholische Kirche hat dazu geschwiegen; zu diesem Schweigen schweigt der Papst bis heute.

5. Die christliche Eschatologie

Das wohl schrecklichste Erbe des Neuen Testaments ist die so genannte Offenbarung des Johannes, die alle Ansätze christlicher Eschatologie im Neuen Testament zusammenführt und dramatisiert. Nichts hat seit zwei Jahrtausenden die Menschen des Abendlandes so kontinuierlich in Angst und Schrecken versetzt wie dieses Buch. Fast jedes Kathedralportal und viele Tafelbilder bezeugen dies, vor allem aber das uralte Dies irae aus der Totenmesse, in dem die ausführliche Schilderung des Grauens der Apokalypse nur unterbrochen wird durch das wimmernde Flehen um Erbarmen. Jahrhundertelang haben die Menschen im Schatten dieser Panikvisionen gelebt. Die wissenschaftliche Auskunft, Apokalypsen seien um die Zeitenwende eine verbreitete Literaturgattung gewesen und schließlich habe auch eine jüdische Eschatologie existiert, vermag nichts gegen die katastrophale Wirkungsgeschichte des letzten Buches der Bibel.

Zwischen der jüdischen und der christlichen Eschatologie bestehen wichtige Unterschiede. Die Messiashoffnung der Propheten ist in ihrem Kern eine politische und bezieht sich bei Jesaja auf die Wiederaufrichtung des Reiches Davids. Trotz des Transports dieses Motivs ins Weltgeschichtliche bleibt es auch bei Daniel beim Ethnozentrismus: "... das Reich, Gewalt und Macht unter dem ganzen Himmel wird dem heiligen Volk des Höchsten gegeben werden, des Reich ewig ist, und alle Gewalt wird ihm dienen und gehorchen" (Daniel 7, 27). Zugleich fließt hier schon das altägyptische und platonische Motiv eines Totengerichts auf der Grundlage von "Büchern" mit ein, das sich aber auf ganze Völker bezieht (Daniel 7, 10 und 24 ff.). Genau dies greift die christliche Apokalypse auf (Offenbarung 20, 11 ff.), um es sofort zu individualisieren, das heißt, die ganze Bürde des "Jüngsten Gerichts" lastet jetzt auf jedem Einzelmenschen, der sich dabei dem "feurigen Pfuhl" (V. 15) als künftiger Alternative ausgesetzt sieht. Damit erzeugt die christliche Apokalypse einen ungeheuer verstärkten eschatologischen Druck. So hat sich hier das Christentum ein Instrumentarium unablässiger Verunsicherung und Disziplinierung der "eigenen Leute" geschaffen, durch das es ständig den Ausweg aus von ihm selbst erzeugten Ängsten verheißt, um sie im gleichen Atemzug erneut zu schüren; jede Feier des Requiems folgt diesem Mechanismus. Nur so ist zu erklären, warum sich so viele Menschen über so viele Jahrhunderte von der Offenbarung des Johannes terrorisieren ließen.

Die christliche Eschatologie hat auch politisch gewirkt - in der Gestalt eschatologischer Politik von Christen und Nichtchristen. Sektenführer versuchten, selbst die Apokalypse herbeizuzwingen und zu vollstrecken, und Tausende sind ihnen dabei in den Tod gefolgt; die Ahnenreihe reicht von mittelalterlichen Sektierern über Savonarola und die Täufer bis zu den religiös motivierten kollektiven Selbstmorden unserer Tage. Die Zahl der Opfer eschatologischer Politik unter Bedingungen der Profanität hingegen geht in die Millionen; dabei handelt es sich um Versuche, den endgültigen Sieg des Guten und die definitive Vernichtung des Bösen Gott aus der Hand zu nehmen und mit menschlichen Mitteln zu erreichen. Die unvermeidbare Konsequenz ist Terror.

Natürlich macht es keinen Sinn, den "Seher von Patmos" für die apokalyptischen Untaten Lenins, Stalins, Pol Pots oder Hitlers verantwortlich zu machen, aber die Christen sollten sich doch fragen, wie sie es mit der Eschatologie halten wollen. Liegt nicht in der Verheißung: "Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen" (Offenbarung 20, 4) eine ständige Versuchung, hier Gott durch einen modernen Götzen zu ersetzen - gemäß Blochs Diktum "Ubi Lenin ibi Jerusalem" - und dann die Preise zu verschweigen, die man zahlen muss? In der Bibel haben die in den "feurigen Pfuhl" geworfenen Gottlosen die Zeche zu zahlen; nach dem Abschied von der Religion waren die an der Reihe, die im Zeichen von "Endlösungen" die Hölle auf Erden durchleiden mussten. Wäre es nicht christlicher, die Eschatologie unter das biblische Bilderverbot zu stellen?

6. Der Import des Platonismus

Ein besonders folgenreicher Geburtsfehler des Christentums ist der Import des Platonismus, der durch die Anstrengungen der Kirchenväter erfolgte, ihren Glauben der hellenistischen Welt als die überlegene Philosophie zu präsentieren. Das Resultat war eine ontologische Aufspaltung der Wirklichkeit in Diesseits und Jenseits sowie der Leib-Seele-Dualismus. Beide Denkmodelle, die Platon in neuplatonischer Vermittlung repräsentieren, bestimmen das christliche Denken bis heute, obwohl sie in Wahrheit mit dem Kernbestand des Alten und Neuen Testaments unvereinbar sind.

Im jüdischen Denken gibt es zunächst nur das Diesseits, das heißt die Gegenwart und ihre Vorgeschichte; es kennt ursprünglich auch kein Leben nach dem Tod, denn die Verheißungen Gottes beziehen sich noch bei Hiob nur auf das irdische Leben und die Nachkommen. Durch die prophetische Eschatologie kommt dann ein Jenseits hinzu, aber das verhält sich zum Diesseits wie die Zukunft zur Gegenwart. Dem Christentum zufolge ist zwar dieses Zukünftige schon erschienen - als der paradoxe Messias am Kreuz -, aber es wird wiederkommen in der Parusie Christi als Weltenherrscher. Die Frage, wo sich Christus in der Zwischenzeit aufhält, wird mit dem Verweis auf den "Himmel", das heißt auf ein höheres Stockwerk der einen Wirklichkeit beantwortet, zu dem Jesus hinaufgefahren sei und von dem er wieder herabkommen werde; zuvor sei er "hinabgestiegen in das Reich der Toten", also ins Kellergeschoss. Im Zuge der Hellenisierung des Christentums aber wird aus jener Ebenendifferenz von Diesseits und Jenseits eine Artdifferenz, das heißt beide Sphären sollen sich wie Platons reale und ideale Welt zueinander verhalten. So entstanden auch im christlichen Platonismus die Ontologie der "Hinterwelt" und die Tendenz zur Verleumdung des Diesseits, die dann Nietzsches langen Zorn auf sich zog.

Beide Arten der Unterscheidung zwischen Diesseits und Jenseits, die topologische und die ontologische, haben im Christentum stets in einem niemals wirklich ausgetragenen Konflikt gelegen: Wenn das Nizänum Gott den "Schöpfer des Himmels und der Erde, alles Sichtbaren und Unsichtbaren" nennt, konnte man unter dem Unsichtbaren stets sowohl eine geografisch höhere und deswegen unseren Augen entzogene Sphäre der einen von Gott geschaffenen Wirklichkeit verstehen oder den platonischen kósmos noetós - die bloß denkbare Welt. Die Entwicklung der Kosmologie in der Neuzeit hat aber das topologische Modell vollends unglaubwürdig werden lassen, obwohl die Christen in aller Welt in der Deklamation des Credo immer noch an ihm festhalten; damit blieb nur der platonische Ausweg, das heißt die Spiritualisierung des Jenseits, wenn man an ihm festhalten wollte. Wo sollte man auch hin mit einer Utopie, die schon "erschienen" ist? Das Nirgendwo muss dann doch irgendwo sein, und wenn es nicht "oben" ist, dann kann es nur "im Geiste" existieren. Damit aber wurde die geistige Welt zur angeblich einzig wahren "umgelogen" (Nietzsche).

Das Unheil der christlich-platonischen Diesseits-Jenseits-Unterscheidung besteht darin, dass durch sie die reale Welt zum bloßen Schein herabgesetzt und normativ entwertet wurde. Die neuzeitliche Aufklärung war wesentlich bestimmt durch die Idee der Rehabilitierung der wirklichen Wirklichkeit. Die kirchlichen Anwälte des Jenseits sollten nicht länger das, was es wirklich gibt, für ihre Machtzwecke instrumentalisieren dürfen; mit der Zwei-Reiche-Lehre und dem "Es wird euch im Himmel wohl belohnt werden" als Herrschaftslegitimation sollte Schluss sein. Am Ende dieses Prozesses zeichnet Nietzsche nach, "wie die ,wahre Welt' endlich zur Fabel wurde", und triumphiert: "... mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft."

Der Import des Platonismus führte im Christentum aber nicht nur zur Denunziation der Realität, sondern zu einer dualistischen Anthropologie mit fatalen Konsequenzen. Das "Menschenbild" des Judentums und der frühen Christen ist monistisch; was Luther mit "Seele" übersetzt, ist die Lebendigkeit des Geschöpfs "Mensch", von Gott gemacht "aus einem Erdenkloß" und verlebendigt durch das Einblasen des "lebendigen Odem" in seine Nase (1. Mose 2, 7). In diesem Sinne lehren die Apostel die "Auferstehung des Fleisches", also des ganzen Menschen; selbst im Credo ist nur (wie schon bei Daniel) von der Auferstehung der Toten die Rede, aber nicht von der Unsterblichkeit der Seele, die den platonischen Leib-Seele-Dualismus voraussetzt. Gleichwohl wurde diese unbiblische Gedankenfigur im Christentum zu einer kulturellen Selbstverständlichkeit: Der christliche Platonismus bedeutete nicht nur im Kosmos, sondern auch im Menschen die normative Herabsetzung der Wirklichkeit, das heißt seiner Leiblichkeit. Das Ergebnis ist die systematische Leibfeindlichkeit der christlichen Tradition, wie sie sich besonders in der repressiven Sexualmoral der Kirchen forterbte.

Natürlich predigt schon Paulus asketische Ideale, aber die stehen bei ihm noch ganz im Kontext der Naherwartung der Wiederkehr Christi (1. Korinther 7); sonst hätten sie dem Juden Paulus ganz fern gelegen. Das Judentum kennt keine Leibfeindschaft; gutes Leben und erfüllte Sexualität sind da gute Gaben Gottes, für die Gott freilich auch eine gute Ordnung erlassen hat. Erst der Import des Platonismus hat im Christentum die menschliche Leiblichkeit vergiftet. Diese Lebensform lebt im Zölibat fort, in dessen Geschichte die kirchenpolitische Verhinderung priesterlicher Dynastiebildung allmählich zu einem besonderen geistlichen Gut umfunktioniert wurde. Es wird immer wieder behauptet, die Frauen seien durch das Christentum aufgewertet worden, und das ist wohl wahr, was den Umgang von Jesus mit ihnen betrifft in einer Welt, in der Religion Männersache war. Aber welche Verachtung der Weiblichkeit liegt im Mythos der Jungfrauengeburt und im Ausdruck "unbefleckte Empfängnis", so als seien Empfängnis, Geburt und überhaupt weibliche Sexualität etwas Schmutziges und des "reinen" Gottessohnes Unwürdiges. In diesem Sinne hat das Christentum das Weibliche nur als das Jungfräuliche und deswegen "Reine" zu schätzen gelehrt. Neben der katholischen Sexualmoral, die in der Frage der Geburtenregelung längst in blanken Zynismus übergegangen ist, sollten wir aber die pietistische nicht vergessen, die sich ohne Außenstützen wie Beichte und Absolution ungleich effektiver ins Innere der Menschen einbohrte und viele zu psychischen Krüppeln machte. Die platonische Leib-Seele-Schizophrenie ging in manifeste Krankheit über.

7. Der Umgang mit der historischen Wahrheit

Oben war von der besonderen Bedeutung des Matthäusevangeliums für den christlichen Antijudaismus die Rede; es ist überdies ein bemerkenswertes Beispiel für den Umgang der frühen Christenheit mit der historischen Wahrheit, denn der Bericht von der Selbstverwünschung der Juden ist ja nicht die einzige strategische Erfindung, die sich im Neuen Testament findet. Unter den Evangelien tut sich dabei das Matthäusevangelium besonders hervor; ihm ist fast jedes Mittel recht, den Judengenossen Jesus als den wahren Messias vor Augen zu stellen. Zu diesem Zweck wird das Alte Testament geplündert, und was sich dort in irgendeiner Weise als messianische Verheißung auffassen lässt, wird dann in der Biografie Jesu als erfüllt behauptet - nach dem Schema: "Auf daß erfüllet werde die Schrift ...". So wurde Jesus wegen Micha 5, 1 in Bethlehem geboren, wegen 4. Mose 24, 17 musste da ein Stern aufgehen, wegen Psalm 72, 10 und 15 und Jesaja 60, 6 mussten die Weisen aus dem Morgenland kommen, und wegen Hosea 11, 1 musste die Heilige Familie nach Ägypten geflohen sein. Jeremia 31, 15 ist die Raison d'Être des Bethlemitischen Kindermordes - eines unfassbaren Ereignisses, dessen sich nach zwei Generationen die Zeitgenossen bestimmt noch erinnert hätten, handelte es sich dabei nicht um eine dreiste Fiktion. Dass der sterbende Jesus Worte des Alten Testaments zitiert habe, könnte wahr sein, aber dass in seiner Sterbestunde der Vorhang im Tempel zerrissen sei, die Erde gebebt habe und Tote den Lebenden erschienen seien (Matthäus 27, 51 ff.), dafür gäbe es ganz sicher unabhängige Zeugen, wäre dies nicht auch eine Legende. Das Ganze verliert dort aber endgültig seine Unschuld: "... sondern der Kriegsknechte einer öffnete seine Seite mit einem Speer, und alsbald ging Blut und Wasser heraus. Und der das gesehen hat, der hat es bezeugt, und sein Zeugnis ist wahr; und dieser weiß, daß er die Wahrheit sagt, auf daß ihr glaubet" (Johannes 19, 34 f.). Hier wird absichtlich und zweckrational gelogen: Es wird etwas berichtet als eine weitere Erfüllung alttestamentlicher Verheißungen mit der ausdrücklichen Beteuerung der Wahrheit, die im Fall der schlichten Wahrheit entbehrlich wäre.

Bestimmte Neutestamentler werfen einem an dieser Stelle Naivität und unhistorisches Denken vor; wir sollen also so unnaiv sein zu glauben, die Evangelisten hätten eben ein naives Verhältnis zur historischen Wahrheit gehabt. Darauf sei es ihnen gar nicht angekommen, sondern sie hätten überlieferte Jesusworte aufgenommen und daran Wundergeschichten angelagert - und Wunder seien damals nichts Besonderes gewesen; was hätten sie denn sonst predigen sollen als Worte des Alten Testaments? Nun, gerade das Lukasevangelium bemüht sich um eine Lokalisierung des Jesus-Geschehens in der profanen Geschichte, und es widerspricht der Lehre von der Fleischwerdung Gottes, das Fleischgewordene in lauter Fiktionen aufzulösen. Jesus muss darum eine historische Figur gewesen sein, und denen, die über ihn berichteten, war der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge bekannt. Wie konnten sie dann glauben, historische Unwahrheiten taugten besonders zur Verbreitung der christlichen Wahrheit.

Der strategische Umgang mit der historischen Wahrheit um einer höheren Wahrheit willen ist ein Erbübel des verfassten Christentums. Da haben die Evangelisten Tatsachen erfunden, und bis in unsere Tage war es Christen streng verboten, sie auch nur zu bezweifeln. Die Geschichte der rationalen Bibelkritik seit der frühen Neuzeit zeigt, wie das starre Festhalten an den biblischen Tatsachenwahrheiten die Glaubwürdigkeit der christlichen Botschaft insgesamt beschädigte. Noch heute versuchen die Amtskirchen, die theologische Aufklärung des Kirchenvolkes zu verhindern. Das ist sogar verständlich, denn was bleibt vom "Kern" des Christentums übrig, wenn man seine fiktiven Schalen entfernt? Was bleibt von der Auferstehung, wenn man das leere Grab auf sich beruhen lässt? Paulus sagt: "Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist unsre Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich. Wir würden aber auch erfunden als falsche Zeugen Gottes, daß wir wider Gott gezeugt hätten, er hätte Christum nicht auferweckt ..." (1. Korinther 15, 14 f.). Predigt und Glaube dürfen aber nicht vergeblich und das Zeugnis darf nicht falsch gewesen sein, also war das Grab leer.

8. Christentum heute?

Wenn das Christentum einmal seine sieben Geburtsfehler hinter sich gelassen haben sollte, wird von ihm fast nichts übrig geblieben sein; vor allem wird es sich dann kaum noch von einem aufgeklärten Judentum unterscheiden lassen. Was im Christentum etwas taugt, ist ohnehin jüdisch. Jesus war ein frommer und radikaler Jude; wie wäre es, wenn die Christen wieder "jesuanisch" würden? Die Kirchen predigen die Erbsünde ohnehin nur noch in spiritualistischer Verdünnung; da ist zum Judentum, das die angeborene Schwäche des Menschen sehr wohl kennt, kein Unterschied mehr. Die Rechtfertigung durch den Glauben kann man auch ohne den blutigen Rechtshandel Gottes mit sich selbst allein auf der Grundlage des Alten Testaments predigen, denn schon Paulus zitiert immer wieder den Propheten Habakuk: "Der Gerechte wird seines Glaubens leben" (Römer 1, 17). Den Missionsbefehl könnten die Christen abschwächen zur Aufforderung, die Welt im Geiste der Toleranz mit dem eigenen Glauben bekannt zu machen; genau dies haben die jüdischen Gelehrten stets getan. Damit wäre auch der Antijudaismus erledigt. Was die Eschatologie betrifft, so könnten Juden wie Christen es Gott überlassen, was am Jüngsten Tag geschieht; Hoffen ist freilich eine jüdische und eine christliche Tugend. Auch sollte das Christentum von seinen platonisierenden Ausflügen endlich zurückkehren und seine Dualismen ersetzen durch eine Philosophie der einen Welt und des ganzen Menschen, die uns das Judentum vorzeichnet.

Fraglich ist, ob es das Christentum überleben kann, sein Verhältnis zur historischen Wahrheit im modernen Sinne wirklich zu ordnen. Die bloß allegorischen oder gar symbolischen Deutungen der biblischen Berichte haben sich längst als Sackgassen erwiesen. Die Nachgeschichte des Bultmannschen Entmythologisierungsprogrammes zeigt überdies, welche Leere sich auftut, wenn man Kernaussagen des Christentums nur noch "existenziell" interpretiert. Was soll man denn noch glauben, wenn man in der Schriftreligion "Christentum" nichts mehr wörtlich nehmen kann? Adorno meinte einmal, die Bitte um das tägliche Brot mache Sinn in einer bäuerlichen Welt, aber nicht angesichts von Brotfabriken. Wenn in unseren Gesangbüchern Gebete um Regen stehen, machen sie damit nicht den christlichen Gott zu einem heidnischen Wetterdämon? Ein Kirchenlied behauptet: "Es kostet viel, ein Christ zu sein." Das ist wahr, wenn man die unausgesetzten Forderungen und Vorschriften bedenkt, mit denen die Kirchen ihre Glieder traktieren. Aber was wäre der Gewinn, der Mehrwert solcher Kosten? Was kann uns das Christentum versprechen? Nachdem wir uns nicht mehr mit dem "feurigen Pfuhl" Angst machen lassen, wollen wir uns auch nicht auf die ewige Seligkeit vertrösten lassen; ein glückliches Leben in dieser Welt genügt uns. Wie sagt Heine? "... den Himmel überlassen wir den Engeln und den Spatzen."

Ich habe den Eindruck, dass das verfasste Christentum in der modernen Welt sein tatsächliches Ende längst hinter sich hat, aber ohne dies bemerkt zu haben. Kirche als moralische Anstalt und als soziale Veranstaltung - das verdient Respekt und Unterstützung. Die Kirchen sind nicht zufällig leer, denn wer versteht schon die Predigten, Bibel- und Liedertexte? In Wahrheit haben die Kirchen nichts spezifisch Christliches mehr zu sagen. Das Christentum hat unsere Kultur auch positiv geprägt, das ist wahr, wenn auch seine kulturelle Gesamtbilanz insgesamt verheerend ausfällt; seine positiv prägenden Kräfte haben sich erschöpft oder sind übergegangen in die Energien eines profanen Humanismus. Der neuzeitliche Aufklärungsprozess folgte dabei selbst einem christlichen Gebot - dem der Wahrhaftigkeit - und damit einer "zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lüge im Glauben an Gott verbietet" (Nietzsche). Erst in seinem Verlöschen könnte sich der Fluch des Christentums doch noch in Segen verwandeln.

*

Herbert Schnädelbach lehrt als Professor für Philosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Vor wenigen Wochen ist von ihm im Frankfurter Suhrkamp Verlag die Vortrags- und Aufsatzsammlung "Philosophie in der modernen Kultur" erschienen.

© beim Autor/DIE ZEIT 2000 Nr. 20

Berge / Mountains

Freitag, Februar 06, 2009

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Schweizerdeutsch

Mittwoch, Februar 04, 2009

Capercaillie - Karen Matheson

Him Bo

NYT: Lithium - In Bolivia, Untapped Bounty Meets Nationalism

New York Times
February 3, 2009
In Bolivia, Untapped Bounty Meets Nationalism
By SIMON ROMERO

UYUNI, Bolivia — In the rush to build the next generation of hybrid or electric cars, a sobering fact confronts both automakers and governments seeking to lower their reliance on foreign oil: almost half of the world’s lithium, the mineral needed to power the vehicles, is found here in Bolivia — a country that may not be willing to surrender it so easily.


New York Times
February 3, 2009
In Bolivia, Untapped Bounty Meets Nationalism
By SIMON ROMERO

UYUNI, Bolivia — In the rush to build the next generation of hybrid or electric cars, a sobering fact confronts both automakers and governments seeking to lower their reliance on foreign oil: almost half of the world’s lithium, the mineral needed to power the vehicles, is found here in Bolivia — a country that may not be willing to surrender it so easily.

Japanese and European companies are busily trying to strike deals to tap the resource, but a nationalist sentiment about the lithium is building quickly in the government of President Evo Morales, an ardent critic of the United States who has already nationalized Bolivia’s oil and natural gas industries.

For now, the government talks of closely controlling the lithium and keeping foreigners at bay. Adding to the pressure, indigenous groups here in the remote salt desert where the mineral lies are pushing for a share in the eventual bounty.

“We know that Bolivia can become the Saudi Arabia of lithium,” said Francisco Quisbert, 64, the leader of Frutcas, a group of salt gatherers and quinoa farmers on the edge of Salar de Uyuni, the world’s largest salt flat. “We are poor, but we are not stupid peasants. The lithium may be Bolivia’s, but it is also our property.”

The new Constitution that Mr. Morales managed to get handily passed by voters last month bolstered such claims. One provision could give Indians control over the natural resources in their territory, strengthening their ability to win concessions from the authorities and private companies, or even block mining projects.

None of this is dampening efforts by foreigners, including the Japanese conglomerates Mitsubishi and Sumitomo and a group led by a French industrialist, Vincent Bolloré. In recent months all three have sent representatives to La Paz, the capital, to meet with Mr. Morales’s government about gaining access to the lithium, a critical component for the batteries that power cars and other electronics.

“There are salt lakes in Chile and Argentina, and a promising lithium deposit in Tibet, but the prize is clearly in Bolivia,” Oji Baba, an executive in Mitsubishi’s Base Metals Unit, said in La Paz. “If we want to be a force in the next wave of automobiles and the batteries that power them, then we must be here.”

Mitsubishi is not alone in planning to produce cars using lithium-ion batteries. Ailing automakers in the United States are pinning their hopes on lithium. One of them is General Motors, which next year plans to roll out its Volt, a car using a lithium-ion battery along with a gas engine. Nissan, Ford and BMW, among other carmakers, have similar projects.

Demand for lithium, long used in small amounts in mood-stabilizing drugs and thermonuclear weapons, has climbed as makers of batteries for BlackBerrys and other electronic devices use the mineral. But the automotive industry holds the biggest untapped potential for lithium, analysts say. Since it weighs less than nickel, which is also used in batteries, it would allow electric cars to store more energy and be driven longer distances.

With governments, including the Obama administration, seeking to increase fuel efficiency and reduce their dependence on imported oil, private companies are focusing their attention on this desolate corner of the Andes, where Quechua-speaking Indians subsist on the remains of an ancient inland sea by bartering the salt they carry out on llama caravans.

The United States Geological Survey says 5.4 million tons of lithium could potentially be extracted in Bolivia, compared with 3 million in Chile, 1.1 million in China and just 410,000 in the United States. Independent geologists estimate that Bolivia might have even more lithium at Uyuni and its other salt deserts, though high altitudes and the quality of the reserves could make access to the mineral difficult.

While estimates vary widely, some geologists say electric-car manufacturers could draw on Bolivia’s lithium reserves for decades to come.

But amid such potential, foreigners seeking to tap Bolivia’s lithium reserves must navigate the policies of Mr. Morales, 49, who has clashed repeatedly with American, European and even South American investors.

Mr. Morales shocked neighboring Brazil, with whom he is on friendly terms, by nationalizing that country’s natural gas projects here in 2006 and seeking a sharp rise in prices. He carried out his latest nationalization before the vote on the Constitution, sending soldiers to occupy the operations of the British oil giant BP.

At the La Paz headquarters of Comibol, the state agency that oversees mining projects, Mr. Morales’s vision of combining socialism with advocacy for Bolivia’s Indians is prominently on display. Copies of Cambio, a new state-controlled daily newspaper, are available in the lobby, while posters of Che Guevara, the leftist icon killed in Bolivia in 1967, appear at the entrance to Comibol’s offices.

“The previous imperialist model of exploitation of our natural resources will never be repeated in Bolivia,” said Saúl Villegas, head of a division in Comibol that oversees lithium extraction. “Maybe there could be the possibility of foreigners accepted as minority partners, or better yet, as our clients.”

To that end, Comibol is investing about $6 million in a small plant near the village of Río Grande on the edge of Salar de Uyuni, where it hopes to begin Bolivia’s first industrial-scale effort to mine lithium from the white, moonlike landscape and process it into carbonate for batteries.

Technicians first need to get a brine, or water saturated with salt that is found deep beneath the salt desert, to the surface, where it is evaporated in pools to expose the lithium. Mr. Morales wants the plant finished by the end of this year.

Workers here were in a frenzy to meet that goal during late January, laboring under the sun around half-finished walls of brick. Over a meal of llama stew and a Pepsi, Marcelo Castro, 48, the manager overseeing the project, explained that along with processing lithium, the plant had another objective.

“Of course, lithium is the mineral that will lead us to the post-petroleum era,” Mr. Castro said. “But in order to go down that road, we must raise the revolutionary consciousness of our people, starting on the floor of this very factory.”

Beyond the tiny plant, lithium analysts say Bolivia, one of Latin America’s least developed nations, needs to be investing much more to start producing carbonate. But with economic growth slowing and a decline in oil prices limiting the reach of its top patron, Venezuela, it remains unclear how Bolivia can achieve this on its own.

Still, even though Mr. Morales is asserting greater control of the economy and taking over oil and gas projects, optimistic industry analysts point out that he allowed some foreign companies to remain in the country as minority partners.

Mining lithium in Bolivia has its own history of fits and starts. In the early 1990s, nationalist opposition reportedly led by Gonzalo Sánchez de Lozada, a wealthy holder of mining concessions who later became Bolivia’s president, thwarted a plan by Lithco, an American company, to tap the lithium deposits here.

That history, coupled with Mr. Morales’s current tensions with Washington, might help explain why American companies appear to be on the sidelines as others seek lithium deals here. Mr. Sánchez de Lozada was ultimately forced to resign as president in 2003 after Mr. Morales led protests against his efforts to export natural gas with the help of foreign capital.

As Bolivia ponders how to tap its lithium, nations with smaller reserves are stepping up. China has emerged as a top lithium producer, tapping reserves found in a Tibetan salt flat.

But geologists and economists are fiercely debating whether the lithium reserves outside of Bolivia are enough to meet the climbing global demand. Keith Evans, a California-based geologist, argues that accessible lithium resources outside Bolivia are significantly larger than estimated by the United States Geological Survey.

Juan Carlos Zuleta, an economist in La Paz, said: “We have the most magnificent lithium reserves on the planet, but if we don’t step into the race now, we will lose this chance. The market will find other solutions for the world’s battery needs.”

On the flat salt desert of Uyuni, such debate seems remote to those still laboring as their ancestors did, scraping salt off the ground into the cone-shaped piles that line the horizon like some geometric mirage. The lithium found under the surface of this desert seems even more remote for these 21st-century salt gatherers.

“I’ve heard of the lithium, but I only hope it creates work for us,” said Pedro Camata, 19, his face shielded from the unforgiving sun by a ski mask and cheap sunglasses covering his eyes. “Without work out here, one is dead.”

Dienstag, Februar 03, 2009

Berge / Mountains

Montag, Februar 02, 2009

NZZ: Operation «Walküre» – das andere Gesicht Deutschlands

2. Februar 2009, Neue Zürcher Zeitung
Operation «Walküre» – das andere Gesicht Deutschlands
Claus Schenk Graf von Stauffenberg und das gescheiterte Attentat auf Hitler


Die kontrovers diskutierte Verfilmung des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 hat die Verschwörung um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Der renommierte britische Historiker Sir Ian Kershaw rekapituliert die Geschichte des Anschlags.

Von Ian Kershaw



2. Februar 2009, Neue Zürcher Zeitung
Operation «Walküre» – das andere Gesicht Deutschlands
Claus Schenk Graf von Stauffenberg und das gescheiterte Attentat auf Hitler


Die kontrovers diskutierte Verfilmung des Attentats auf Hitler vom 20. Juli 1944 hat die Verschwörung um Claus Schenk Graf von Stauffenberg ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Der renommierte britische Historiker Sir Ian Kershaw rekapituliert die Geschichte des Anschlags.

Von Ian Kershaw

Gegen Hitler sind mehr Mordkomplotte ausgesponnen worden als gegen jeden anderen deutschen Kanzler. Die meisten wurden von den Sicherheitskräften vereitelt, oder sie liefen vorzeitig auf Grund – so etwa eine Verschwörung leitender Persönlichkeiten aus Armee, Spionageabwehr und Aussenministerium, die Hitler verhaften oder töten lassen wollten, falls er im Oktober 1938 tatsächlich in die Tschechoslowakei eingefallen wäre. Das Münchener Abkommen, in dessen Rahmen das Sudetenland an Deutschland abgetreten wurde, liess dieses Komplott ins Leere laufen. Aber am 8. November 1939 wäre ein anderer Attentatsversuch beinahe geglückt. Dem süddeutschen Schreiner Georg Elser, der vormals mit den Kommunisten sympathisiert hatte, gelang es, ganz auf eigene Faust eine Bombe im Münchener Bürgerbräukeller zu legen, wo Hitler zur Erinnerung an den 1923 gescheiterten Putsch der Nationalsozialisten alljährlich eine Rede hielt. 1939 aber war Deutschland gerade in den Krieg eingetreten, und Hitler fasste seine Ansprache unerwartet kurz, um noch am selben Abend nach Berlin zurückzukehren. Nachdem er das Lokal verlassen hatte, ging die Bombe hoch; hätte Hitler so lange gesprochen wie sonst, wäre er in tausend Stücke zerrissen worden. Es war nicht das einzige Mal, dass schieres Glück ihn vor dem Tod bewahrte.

Daraufhin wurden die Sicherheitsvorkehrungen so strikt, dass kein Aussenstehender mehr einen Anschlag auf Hitler hätte verüben können; jeder derartige Versuch konnte nur mehr aus dem Inneren des Regimes kommen. Die an der Ostfront stationierte Heeresgruppe Mitte plante 1943 und 1944 mehrere Attentate. Aber das Glück war stets auf Hitlers Seite – insbesondere, als 1943, nach seinem Besuch in Smolensk, die in seinem Flugzeug placierte Bombe nicht explodieren wollte. Führender Kopf bei den Komplotten der Heeresgruppe Mitte war Generalmajor Henning von Tresckow, ein ehrgeiziger Offizier mit ausgeprägtem Pflichtgefühl gegenüber Staat und Volk; er war längst überzeugt, dass Hitler einer kriminellen Regierung vorstand, die Deutschland ins Verderben trieb, und dass er beseitigt werden müsse. Und endlich fand Tresckow den Mann, der diesem Ziel am nächsten kommen sollte: Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg.

Ein idealistischer Patriot

Stauffenberg entstammte einem alten süddeutschen Adelsgeschlecht katholischen Glaubens. Wie seine Brüder Alexander und Berthold wurde er ein leidenschaftlicher Anhänger des Dichters Stefan George, dessen Jünger von einem «Neuen Reich» träumten – einem Deutschland, das sich, geleitet von einer künstlerisch-geistigen Elite, aus den Ruinen der gescheiterten Demokratie erheben sollte. Stauffenberg trat eine brillante Offizierskarriere an; in der Armee sah er die Garantin jenes künftigen Deutschland. Er war eine beeindruckende Persönlichkeit: gut aussehend, intelligent, dynamisch, mit einer naturgegebenen Autorität, die ihm bei praktisch allen, denen er begegnete, Bewunderung und Respekt verschaffte – auch wenn einige ihn für einen Hitzkopf hielten.

Im Urteil über das Naziregime war er sich zunächst nicht schlüssig. Aber je skrupelloser Hitlers Kriegstreiberei wurde, desto kritischer stand er der Regierung gegenüber, und sein Abscheu angesichts der Judenpogrome im November 1938 liess seine Ablehnung noch schärfer werden. Dennoch freute er sich am Sieg über Polen im Herbst 1939 (und war auch durchaus nicht frei von den typischen Vorurteilen gegen die Polen). Im folgenden Jahr, nach dem erstaunlichen Sieg über Frankreich, revidierte er vorübergehend seine Meinung über Hitler; aber als sich die deutsche Armee im Winter 1941/42 immer mühsamer durch die russischen Schneewüsten kämpfte und die Verluste rasant stiegen, kam Stauffenberg erneut zum Schluss, dass Hitler sein Land in die Katastrophe führte. Was er von den in Deutschlands Namen begangenen Greueln in Osteuropa vernahm, bestärkte ihn in dieser Überzeugung. Im Mai 1942 hörte er einen Augenzeugenbericht über ein Massaker an ukrainischen Juden. Unverblümt, wie es seine Art war, konstatierte er, dass es nur eine Art gebe, mit Hitler fertig zu werden: ihn zu töten.

Im März 1943 wurde Stauffenberg nach Nordafrika versetzt und kurze Zeit später schwer verwundet. Nach seiner Genesung trat er im Herbst einen neuen Posten im Kriegsministerium in Berlin an – und fand seine Berufung innerhalb der Widerstandsbewegung, die zunehmend orientierungslos schien. Tresckow war an die Ostfront geschickt worden und demzufolge handlungsunfähig. In den folgenden Monaten scheiterten mehrere Anschlagspläne der Verschwörer – weil es immer schwieriger wurde, sich Zugang zu Hitler zu verschaffen, weil sich kein geeigneter Mann fand, um die Tat auszuführen, oder auch aus schierem Pech. Aber am 1. Juli 1944 war der erste dieser Hinderungsgründe aus dem Weg geräumt: Stauffenberg wurde zum Stabschef beim Befehlshaber des Ersatzheeres ernannt und hatte damit Zugang zu Hitlers militärischen Einsatzbesprechungen. Er nahm es auf sich, das Attentat selbst auszuführen.

Deutschland befand sich mittlerweile in einer verzweifelten Lage. Die Alliierten hatten ihre Stellungen in der Normandie gefestigt, im Osten drang die Rote Armee mächtig vor. Die Verschwörer hätten einfach die Hände in den Schoss legen und auf die endgültige Niederlage warten können. Davon aber wollte Tresckow nichts wissen. Es ging ihm darum, «dass die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig.» Freilich fanden sich die Verschwörer in einem Dilemma: Stauffenberg, der designierte Attentäter, hätte gleichzeitig vom Armeehauptquartier in Berlin aus den Staatsstreich anführen sollen. Das sollte sich als der eine, tödliche Fehler im Plan erweisen.

Tresckow hatte schon im Herbst 1943 den Plan für einen Staatsstreich gefasst; er bediente sich dazu eines offiziellen militärischen Plans mit dem Namen «Walküre», der ursprünglich zur Unterdrückung einer allfälligen Revolte ausländischer Arbeitskräfte erdacht war, und konvertierte ihn in eine getarnte Order zum Militärputsch gegen das Hitler-Regime. Kern- und Ausgangspunkt der neuen Operation «Walküre» war die Ermordung Hitlers; von dort her war alles detailliert und mit exaktem Timing ausgearbeitet. Die Order konnte einzig vom Befehlshaber des Ersatzheeres, Generaloberst Friedrich Fromm, ausgehen; dieser jedoch wollte erst dann mit den Verschwörern gemeinsame Sache machen, wenn er mit Sicherheit wusste, dass Hitler tot war. Stauffenberg hatte zu diesem Zeitpunkt schon dreimal einen Sprengsatz in die Lagebesprechungen mit Hitler geschmuggelt, am 6. und am 11. Juli im Berghof, am 15. Juli im ostpreussischen Führerhauptquartier «Wolfsschanze»; nie aber hatte er die tödliche Ladung gezündet. Trotz seinem optimistischen Naturell begann er den Mut zu verlieren, doch einen letzten Versuch wollte er noch unternehmen. Als Termin wurde der 20. Juli festgesetzt.

Vom Unglück verfolgt

Was irgend für die Verschwörer an diesem Tag schiefgehen konnte, traf ein. Stauffenberg musste seinen Sprengsatz in aller Hast vorbereiten, denn die Lagebesprechung war an diesem Tag unerwarteterweise eine halbe Stunde vorverlegt worden. Die Zeit fehlte, um auch die zweite Sprengladung scharf zu machen, welche mit Sicherheit alle Offiziere getötet hätte, die in der hölzernen Baracke zur Besprechung versammelt waren. Zudem schirmte ein massiver Eichentisch Hitler gegen die Explosion ab: Einmal mehr war das Glück auf seiner Seite. Als die Bombe um etwa 12 Uhr 45 hochging, wurden die meisten Anwesenden schwer verletzt, einige sogar getötet; Hitler dagegen taumelte mit einigen kleineren Schürfungen, ein paar Holzsplittern im Fleisch und geborstenen Trommelfellen aus der Hütte.

Stauffenberg und sein Adjutant, Werner von Haeften, hörten die Explosion, bevor sie sich in grösster Eile zum Rückflug nach Berlin aufmachten. Sie gingen davon aus, dass niemand das Attentat überlebt hatte. Als sie zwei Stunden später in der Reichshauptstadt ankamen, war niemand dort, um sie abzuholen. Das Auto war zum falschen Flughafen geschickt worden. Das bedeutete eine weitere Verzögerung, bevor die Order «Walküre» ergehen konnte. Auch die geplante totale Drosselung des Informationsflusses war missglückt: Dem Regime standen immer noch Kommunikationskanäle offen, und Joseph Goebbels, der Propagandaminister, befand sich auf freiem Fuss. Stauffenberg, inzwischen im Berliner Armeehauptquartier Bendlerblock eingetroffen, behauptete mit aller Überzeugung, dass Hitler tot sei; bald stellte sich heraus, dass das nicht zutraf.

Des Führers Rache

Major Remer, ein Erznazi und Kommandant des Wachbataillons «Grossdeutschland», war zum Zeitpunkt des Coups vor Goebbels' Residenz stationiert. Er glaubte erst ans Überleben des Führers, als der Propagandaminister ihn am Telefon direkt mit Hitler sprechen liess. Dieser erteilte Remer umgehend den Befehl, den Coup in Berlin niederzuschlagen – eine Aufgabe, in die sich Remer mit Begeisterung stürzte. Generaloberst Fromm, von den Verschwörern zunächst in Haft gesetzt, wurde befreit und zögerte nicht, sich gegen sie zu wenden. Der Zauderer wandelte sich flugs zum in der Wolle gefärbten Loyalisten und tat alles, um – wie er hoffte – die eigene Haut zu retten. Er liess Stauffenberg und einige andere führende Köpfe des Coups verhaften und summarisch zum Tod verurteilen. Vier von ihnen, darunter Stauffenberg, wurden kurz nach Mitternacht in den Hof des Bendlerblocks abgeführt und, geblendet von Lastwagenscheinwerfern, vor ein improvisiertes Exekutionskommando gestellt. Stauffenberg starb als Dritter. Seine letzten Worte waren: «Es lebe das heilige Deutschland.»

In Paris und Prag, Wien und Berlin wurden die Ausläufer der Verschwörung umgehend niedergeschlagen. Am frühen Morgen des 21. Juli war alles vorbei. Kurz nach Mitternacht schon hielt Hitler eine Ansprache am Radio, um allen Gerüchten über seinen Tod ein Ende zu machen und die «ganz kleine Clique» von Offizieren zu denunzieren, die einen Anschlag auf sein Leben versucht hatten. Er war besessen von Rachedurst, und dieser wurde bald gestillt. In den folgenden Wochen wurden die meisten Verschwörer verhaftet, gefoltert und dann in einem lachhaften Schauprozess dem «Volksgerichtshof» vorgeführt, den der berüchtigte Roland Freisler präsidierte – ein Strafrichter, der ebenso gut gleich zum Scharfrichter getaugt hätte. Sämtliche Angeklagten wurden zum Tode verurteilt und die Exekutionen auf die barbarischste Weise durchgeführt: An Fleischerhaken hängend, erlitten die Opfer einen qualvollen, langsamen Tod, während ihr Sterben – wie schon die Schauprozesse – zur obszönen Befriedigung der Machthaber auf Film gebannt wurde.

Die Verschwörung freilich ging offensichtlich weit über eine «ganz kleine Clique» hinaus. Um die 200 unmittelbar an der Operation «Walküre» Beteiligte wurden hingerichtet, andere – so etwa Tresckow – begingen Selbstmord, als sie vom Scheitern des Coups erfuhren. Fromm wurde verhaftet, hinter Gitter gebracht und später exekutiert. Stauffenbergs Angehörige und die Familien anderer führender Verschwörer wurden bis zum Ende des Krieges in Konzentrationslagern festgehalten. Eine weitere Arrestwelle im August brachte 5000 Oppositionelle hinter Gitter.

Das Regime, und insbesondere Hitler, hatte dennoch einen massiven Schock davongetragen – immerhin war der Coup vom Offizierskorps ausgegangen, ein «Dolchstoss» (aus Sicht der Nazis jedenfalls), der noch verwerflicher war als derjenige, den die Nationalsozialisten für Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg verantwortlich machten. Die Sicherheitsvorkehrungen für Hitlers Person wurden nochmals massiv verstärkt. Seine Paranoia, dass verräterische Elemente in der Führungselite die deutschen Kriegsanstrengungen sabotieren könnten, wurde grenzenlos.

Hitlers Machtfülle aber blieb intakt. Das Regime hatte überlebt. Seine wichtigsten Stützen – die SS, die Partei, die Staatsbürokratie, die Wehrmacht – schlossen sich noch enger um Hitler zusammen. Die Staatsmacht radikalisierte sich auf allen Ebenen, zumindest befristet war Hitler auch von einer breiten Sympathiewelle getragen. Insgesamt aber beruhte der Machterhalt des Regimes zunehmend auf brutaler Repression. Für jedes missliebige Wort drohten schreckliche Sanktionen. Der gescheiterte Coup war Deutschlands letzte Chance gewesen, Hitler von innen her zu Fall zu bringen. Solange er am Leben war, blieb nun jede Verhandlungslösung zur Beendigung des Krieges ausgeschlossen. Die totale Niederlage, die totale Katastrophe war unvermeidlich.

Was aber, wenn Stauffenbergs Anschlag geglückt wäre? Die neue Regierung hätte sich wahrscheinlich sofort um ein Friedensabkommen mit dem Westen bemüht, kaum aber um eines mit der Sowjetunion. Versucht man, weiter zu blicken, trübt sich die Kristallkugel. Ein nur auf die westlichen Mächte beschränktes Friedensangebot hätte deren brüchige Allianz mit der Sowjetunion endgültig aufgelöst und wäre deshalb wohl nicht angenommen worden. Da die neue deutsche Regierung sich in einer schwachen Verhandlungsposition befand, hätte sie sich vielleicht gezwungen gesehen, die Sowjetunion in ein Friedensabkommen einzuschliessen. Mit aller Wahrscheinlichkeit aber hätten die Alliierten eine bedingungslose Kapitulation gefordert, der die neue deutsche Regierung über kurz oder lang hätte zustimmen müssen. Der Krieg wäre früher zu Ende gewesen, Millionen Leben wären verschont geblieben, die grauenhaften Zerstörungen der letzten, unverhältnismässig blutigen Kriegsmonate hätten nicht stattgefunden.

Wäre das Attentat gelungen, dann hätte Deutschland aber auch eine Art Neuauflage jener Dolchstosslegende gehabt, welche nach dem Ersten Weltkrieg die deutsche Politik vergiftete. Die Deutschen hätten sich wesentlich schwerer damit getan, die Katastrophe, welche das Regime über ihr eigenes Land und den Rest Europas gebracht hatte, in vollem Mass zu erfassen. Und da sich die führenden Köpfe der Verschwörung über die politische Zukunft Deutschlands uneins waren und zudem nicht eben die Ideale der modernen Demokratie vertraten, wäre der Weg zu einem neuen, liberaldemokratischen Staatswesen wohl dornenvoll gewesen.

Mut und Opferbereitschaft

Die «Männer des 20. Juli» haben ausserordentlichen Mut bewiesen und aus nobler Absicht gehandelt. Nicht nur die simple Gewissheit, dass Hitler ihr Land in den Abgrund führte, hat sie zu ihrer Tat bewogen, sondern das Bewusstsein, dass in Deutschlands Namen entsetzliche Verbrechen gegen die Menschheit – darunter insbesondere der Massenmord an den Juden – begangen wurden. Um Hitlers verbrecherisches Regime zu stürzen, das unsinnige Blutvergiessen des Krieges zu beenden und Deutschland zu Recht und Ordnung zurückzuführen, setzten sie ihr eigenes Leben und dasjenige ihrer Angehörigen aufs Spiel. Für ihr Land und ihre Prinzipien haben sie das letzte und grösste Opfer gebracht, das Menschen möglich ist. Sie wussten, dass sie nicht auf breite Unterstützung rechnen konnten; umso mehr beweist ihr Handeln Mut und geistige Grösse. «Derjenige allerdings, der etwas zu tun wagt, muss sich bewusst sein, dass er wohl als Verräter in die deutsche Geschichte eingehen wird», schrieb Stauffenberg. «Unterlässt er jedoch die Tat, dann wäre er ein Verräter vor seinem eigenen Gewissen.»

Ob die Verfilmung der «Operation Walküre» mit Tom Cruise in der Hauptrolle der heroischen Tragödie Stauffenbergs und seiner Mitverschwörer gerecht wird, ist zwar umstritten. Immerhin aber könnte der Film sogar in Deutschland, wo sich die historische Forschung schon über jede Facette des Widerstands gegen das Hitler-Regime gebeugt hat, ein breiteres Bewusstsein für die mutige Tat der «Männer des 20. Juli» schaffen. Ausserhalb Deutschlands könnte er nach wie vor bestehenden antideutschen Vorurteilen mit der Tatsache begegnen, dass nicht alle Deutschen Nazis waren; dass es, trotz allem, ein «anderes Deutschland» gegeben hat.


Der britische Historiker Ian Kershaw ist einer der führenden Experten auf dem Gebiet der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Seine Massstäbe setzende Hitler-Biografie ist in deutscher Übersetzung bei DVA erschienen. © 2009, Ian Kershaw. Aus dem Englischen von as.

Sonntag, Februar 01, 2009

NZZ: Krieg in Gaza Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine

31. Januar 2009, NZZ Online
Krieg in Gaza
Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine
Empörung über Israels Vorgehen und über die Zurückhaltung der Hamas-Kämpfer

Viele in Gaza beschreiben die jüngste Kampagne Israels als Krieg gegen das ganze Volk und nicht gegen die Hamas. Erschütterte und dezimierte Familien nehmen die Trümmer ihrer Häuser wieder in Besitz. Die Hamas wird kritisiert wegen zu schwachen Widerstands, aber nicht ernstlich angefochten.

Von Viktor Kocher, Gaza, 29. Januar



31. Januar 2009, NZZ Online
Krieg in Gaza
Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine
Empörung über Israels Vorgehen und über die Zurückhaltung der Hamas-Kämpfer

Viele in Gaza beschreiben die jüngste Kampagne Israels als Krieg gegen das ganze Volk und nicht gegen die Hamas. Erschütterte und dezimierte Familien nehmen die Trümmer ihrer Häuser wieder in Besitz. Die Hamas wird kritisiert wegen zu schwachen Widerstands, aber nicht ernstlich angefochten.

Von Viktor Kocher, Gaza, 29. Januar

Unter einer dicken Schicht von Löschsand schwelt es immer noch in den Trümmerhaufen an einer Ecke des total verkohlten Lagerhauses des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) in Gaza. «Wenn das mehr als zehn Tage nach dem Bombardement noch immer brennt, kann das nur Phosphor sein», versichert der Sprecher des Hilfswerks.

Verbittert weist er auf zehn zerstörte Busse, eine Reihe anderer havarierter Dienstfahrzeuge und die Vorräte für Hunderttausende von Hilfsrationen hin, die alle dem Beschuss am letzten Tag des israelischen Kriegs gegen die Hamas zum Opfer gefallen sind. «Gleich nach dem Einschlag des ersten Geschosses nahm der UNRWA-Chef direkt Kontakt zum israelischen Verteidigungsministerium auf», sagt der Sprecher, «doch allen Versicherungen der Generäle zum Trotz schlugen eine Stunde später nochmals drei Phosphorgranaten ins Lagerhaus ein und setzten alles in Brand.»

Verwüstete Viertel und Äcker

Die unmittelbar daneben gelagerten grossen Benzinvorräte der Uno-Agentur blieben wie durch ein Wunder unversehrt. Doch in der Vernichtung der Hilfsgütervorräte in einem seit Jahrzehnten bekannten und bestens markierten Lagerhaus sieht der Uno-Sprecher keinen Unfall, sondern zynische Berechnung der Israeli. «Sie wollten uns endgültig zermürben und uns auch den letzten Glauben an ein humanes Weltgewissen rauben.»

Der Gazastreifen bietet gut eine Woche nach der Einstellung des Feuers ein widersprüchliches Bild: Die Stadt Gaza erwacht rund um die verstreuten Trümmerhaufen von den öffentlichen Gebäuden zögernd zu einem Alltagsleben, seit die Schulen am 24. Januar den Betrieb wieder aufgenommen haben. In Rafah am Südende herrscht sogar lebhafter Marktbetrieb, denn die Schmuggel-Pipeline durch die Tunnels nach Ägypten ist weiterhin aktiv. Auf Erkundungsfahrten durch die aussen liegenden Ortschaften, vor allem im Nordteil des Streifens und an der Peripherie der Stadt Gaza, stösst man immer wieder auf die Spuren einer riesigen, gefrässigen Zerstörungsmaschinerie, als welche die israelische Armee auf ihrem Weg ganze Häuserzeilen in Trümmer gelegt, die Wohnblöcke links und rechts mit Panzergranaten und Maschinengewehrfeuer durchsiebt, Fabriken und Lagerhäuser vernichtet und Dutzende von Hektaren Ackerland und Baumgärten verwüstet hat.

Eine Zahl von vielen zehntausend Obdachlosen errechnet sich aus dem Total von 2400 gänzlich und über 16 000 teilweise zerstörten Wohnhäusern. Die Zahl der Toten beträgt nach dem unabhängigen Palästinensischen Menschenrechtszentrum (PHRC) insgesamt 1285; von ihnen sind 82,6 Prozent zivile Opfer, insbesondere 280 Kinder, 111 Frauen und 167 Polizisten im zivilen Dienst. Nach der gleichen Quelle wurden überdies 4336 Personen verletzt, von ihnen 1133 Kinder und 735 Frauen. Die Erhebungen des PHRC ergaben überdies, dass 28 öffentliche Gebäude wie Ministerien und das Parlament, 60 Polizeiposten, 30 Moscheen und 10 Sozialzentren, 121 Werkstätten, 21 Gaststätten und Geschäfte sowie 5 Zementfabriken zerstört wurden.

Die Zivilbevölkerung als Zielscheibe

In den Katastrophenzonen nehmen die Menschen trotz der zweifelhaften Waffenruhe die Trümmerhaufen, die von ihrem einstigen Heim geblieben sind, wieder in Besitz, sie wühlen nach den letzten Leichen und noch brauchbarem Hausrat, und viele haben sich unter einem stehengebliebenen Stück Dach oder auch nur einer Zeltblache notdürftig aufs Bleiben eingerichtet. «Was nützen mit jetzt die Notrationen von Zucker und Mehl», klagt ein Student und Familienvater in Izbet Abedrabboh, «ich brauche dringlich ein Dach über dem Kopf, damit ich mit den Nahrungsmitteln überhaupt irgendwo etwas anfangen kann.» Mannschaften der Lokalverwaltung legen mit Schläuchen behelfsmässige Wasserleitungen und reparieren notdürftig zerbrochene Kanalisationen und Stromleitungen.

Die Leute von Gaza lesen aus dem Muster der Zerstörungen eine erschreckende Botschaft heraus: «Die Israeli hatten es weniger auf die Hamas als auf die ganze Bevölkerung von Gaza abgesehen», urteilt der Leiter des Menschenrechtszentrums von Gaza, Jaber Weshah. «Sie wollten uns alle vom Widerstand abschrecken, uns klarmachen, dass es im Krieg gegen die Palästinenserkämpfer nirgends einen sicheren Ort mehr geben kann und dass es uns überaus blutig zu stehen kommt.» Eine Journalistin der unabhängigen Agentur Ramattan meint: «Noch nie haben sie den Kampf gegen die Palästinenser derart brutal geführt. Sie achteten weder Frauen noch Kinder, weder Schulen noch Spitäler, weder die Sanitäter des Roten Halbmonds noch die Kameraleute und Journalisten.» Wie zur Bestätigung findet sich eine Reihe von Moscheen, bei denen lediglich die Spitze des Minaretts mutwillig mit einer Panzergranate abgeschossen ist.

Mit einzelnen Episoden aus dem 22-tägigen Krieg illustrieren die Leute dieses Urteil. So machten die Truppen ganze Wohnviertel dem Erdboden gleich, einfach weil sie von einem Hügelzug aus die nahe Grenze zum Streifen dominierten, etwa in Izbet Abedrabboh bei Beit Lahia. Etwas weiter südlich, in Shijaiya, beschossen sie das Wafa-Spital, nur weil es eine offene Front gegen Osten auf die Grenze zu aufweist. Eine Panzergranate schlug wie von ungefähr mitten im Wort «Hospital» ein, welches das Krankenhaus als solches gross kennzeichnet. Die Präsenz bewaffneter Kämpfer, die die Armee jeweils zur Rechtfertigung anführte, bestreitet die Spitalverwaltung kategorisch.

Exekutionen von Zivilisten?

Der Direktor des Spitals des Roten Halbmondes in Gaza erzählt von einem ganzen Konvoi mit Schwerverletzten in ihren Krankenbetten und Neugeborenen in ihren Brutkästen, die mitten in der Nacht unter Feuer auf offener Strasse hatten evakuiert werden müssen, nachdem die Israeli die beiden obersten Stockwerke des Spitals in Brand geschossen hatten. Mit grossen Fliegerbomben zerstörte die Luftwaffe ausgelesene Wohnhäuser im Weichbild der Stadt, etwa dasjenige des Hamas-Innenministers Said Siyam. Auch das Haus eines notorischen Fatah-Aktivisten und Feindes der Hamas aus dem Helles-Klan wurde vernichtet, während dasjenige des Hamas-Scharfmachers Mahmud Zahhar oder das des Kassam-Kommandanten Ahmed Jaabari intakt blieben.

Der Chef des Ambulanzdienstes des Roten Halbmonds beschuldigt die israelischen Truppen, in vielen Fällen den Rettungsmannschaften den Zugang zu Verwundeten verweigert zu haben, oftmals auch nach einer ausdrücklichen Zusage des Verbindungsbüros der Armee über die Vermittlung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Ambulanzen hätten nicht nur Bombensplitter abgekriegt, sondern seien mehrmals direkt mit israelischem Gewehrfeuer belegt worden. Der Arzt betont, es habe sich kaum um Missverständnisse gehandelt, weil die israelischen Feldkommandanten meist über Mobiltelefon direkt mit den Ambulanzfahrern Kontakt hatten. Wegen der langen Verzögerungen hätten die Sanitäter mitunter Leichen geborgen, welche von den Hunden angefressen waren. Bürgerrechtsaktivisten haben Zeugenaussagen von Überlebenden aufgenommen, wonach die Soldaten Dutzende von wehrlosen Zivilpersonen exekutiert hätten. Der Leiter der chirurgischen Abteilung des Shifa-Spitals in Gaza weist auf einen sechsjährigen Knaben hin, der nach einem Kopfschuss, also einer vermutlich absichtlichen Verletzung aus einem israelischen Gewehr, um sein Leben ringt.

Widerstandskämpfer im Versteck

«Wir haben gesiegt, wahrlich, wir haben gesiegt», so geht der bittere Scherz über die triumphale Propaganda der Hamas, «und wenn wir noch zwei, drei Male weiter so siegen, dann ist ganz Gaza verwüstet.» Mancher Familienvater rauft sich die Haare in der Erinnerung an die langen schlaflosen Nächte unter den schweren Bombardementen, als seine Kinder bei ihm, dem ebenfalls Hilflosen, Schutz suchten. Als Schlimmstes nennt man die heimtückischen Phosphorgranaten, die mitten in zivilen Wohngebieten unlöschbare Brände entfachten und schreckliche Wunden schlugen. Wer nicht selbst ein Hamas-Aktivist ist, legt den Finger auf die zweifelhafte Wirkung des meist versteckt gebliebenen Widerstands. «Der Sieg gehört dem Volk, nicht den Widerstandskämpfern. Wir haben durchgehalten, wir standen tagelang Schlange für ein paar Fladen Brot oder etwas Trinkwasser.» Trotzdem glaubt keiner an die Entmachtung der Hamas – allein schon weil es keine Alternative gibt.

Und in einem verkörpert die Hamas recht deutlich den Willen der Leute. Jetzt wollen sie erst recht der israelischen Besetzung die Stirn bieten, was immer auch kommen mag, mit oder ohne Hamas. Von Präsident Abbas und einer gemässigten Politik der Verhandlungen will in Gaza kaum mehr einer etwas hören. «Die Israeli haben uns rundum eingeschlossen und ihre Armee auf uns losgelassen, ohne irgendeinen Ausweg offen zu lassen», meint der Bürgerrechtsaktivist Jaber Weshah, «aber das war der Wendepunkt. Wir werden uns zur Wehr setzen und schliesslich die israelischen Kriegsverbrecher genauso jagen, wie man Jagd auf die Nazis gemacht hat.»

Samstag, Januar 31, 2009

Berge / Mountains

NZZ: Wie gehorsam sind die Menschen von heute?

Neue Zürcher Zeitung
28. Januar 2009,
Wie gehorsam sind die Menschen von heute?
Eine Neuauflage des Milgram-Experiments – mit ähnlichen Ergebnissen wie vor 45 Jahren
In einer Variante des Milgram-Experiments drückte der strafende Lehrer die Hand des Schülers auf eine Platte, die vorgeblich unter Strom stand

Zu Beginn der sechziger Jahre fanden sich in einem aufsehenerregenden Experiment rund zwei Drittel der Teilnehmer bereit, auf Geheiss einer Autoritätsperson einen Menschen mit starken Elektroschocks zu bestrafen. Eine Neuauflage des Versuchs hat nun ergeben, dass die Gehorsamsbereitschaft seither kaum abgenommen hat.

Ralph Erich Schmidt


Neue Zürcher Zeitung
28. Januar 2009,
Wie gehorsam sind die Menschen von heute?
Eine Neuauflage des Milgram-Experiments – mit ähnlichen Ergebnissen wie vor 45 Jahren
In einer Variante des Milgram-Experiments drückte der strafende Lehrer die Hand des Schülers auf eine Platte, die vorgeblich unter Strom stand

Zu Beginn der sechziger Jahre fanden sich in einem aufsehenerregenden Experiment rund zwei Drittel der Teilnehmer bereit, auf Geheiss einer Autoritätsperson einen Menschen mit starken Elektroschocks zu bestrafen. Eine Neuauflage des Versuchs hat nun ergeben, dass die Gehorsamsbereitschaft seither kaum abgenommen hat.

Ralph Erich Schmidt

1963 prägte Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Prozess gegen den NS-Schreibtischtäter Adolf Eichmann die berühmte Formel von der «Banalität des Bösen». Im selben Jahr veröffentlichte Stanley Milgram, ein junger Assistenzprofessor an der Yale University, die Ergebnisse eines Experiments, die in seinen Augen die zentrale These von Arendt belegten: Ganz «banale» Menschen können anderen erhebliches Leid zufügen, es bedarf dazu keiner sadistischen Persönlichkeitszüge. Auf Anweisung einer Autoritätsperson bestraften in seinem Experiment rund zwei Drittel der Teilnehmer einen Probanden für falsche Antworten in einer Lernaufgabe mit starken Stromschlägen – ohne zu wissen, dass die Apparatur nicht unter Strom stand. Aus ethischen Gründen wurde das Experiment während langer Zeit nicht mehr durchgeführt. Manche Fachleute mutmassten aber, die Menschen seien heute – etwa im Gefolge der antiautoritären 68er Bewegung – hellhöriger für die Gefahren blinden Gehorsams und würden sich daher eher widersetzen. Doch eine ethisch vertretbare Neuauflage des Experiments hat diese Vermutung nun widerlegt.

Kleine Schritte in die Unmenschlichkeit

An der von Jerry Burger von der Santa Clara University in Kalifornien durchgeführten Studie nahmen wie bei Milgram Angehörige verschiedenster Berufsgruppen teil, insgesamt 29 Männer und 41 Frauen. Jeweils zwei Personen wurden vom Versuchsleiter, einem Mittdreissiger in einem weissen Laborkittel, gleichzeitig empfangen. Er erklärte, die Studie bezwecke, den Einfluss von Strafen auf das Lernvermögen zu erkunden. Dazu müsse ein Teilnehmer einen Lehrer spielen, der andere einen Schüler. Bei der vermeintlich zufälligen Rollenverteilung wurde der Part des Schülers immer einem fünfzigjährigen Komplizen des Versuchsleiters zugelost. Die tatsächliche Testperson sah nun mit an, wie der Versuchsleiter die Arme des auf einem Stuhl sitzenden Schülers an den Lehnen festband und eine Elektrode an seinem linken Handgelenk anbrachte. Dann wurde ihm mitgeteilt, dass er gleich eine Liste von 25 Wortpaaren, zum Beispiel «stark - Arm», vorgelesen bekomme, die er sich einprägen solle. Für Fehler beim anschliessenden Abfragen werde er mit Stromschlägen zunehmender Stärke bestraft.

An dieser Stelle wies der Schüler darauf hin, dass bei ihm vor einigen Jahren ein leichtes Herzleiden diagnostiziert worden sei. Der Versuchsleiter beschwichtigte, die Schocks seien zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Daraufhin begab er sich mit dem Lehrer in einen Nebenraum und bat ihn, vor einem grossen Gerät, dem «Schockgenerator», Platz zu nehmen. An der Frontseite prangte eine Reihe von 30 Schaltern, die in 15-Volt-Schritten das Spannungsspektrum von 15 bis 450 Volt umfassten. Der Lehrer wurde instruiert, wie er den Schüler zu prüfen habe. Falsche Antworten seien mit einem Stromstoss zu bestrafen, die erste mit 15 Volt und jede weitere mit der nächsthöheren Spannungsstufe. Schliesslich gab der Versuchsleiter dem Lehrer mit dessen Einverständnis einen Probeschock von 15 Volt, um ihm einen Eindruck zu vermitteln, wie sich die Strafe anfühlte.

«Machen Sie bitte weiter!»

Im Verlaufe der Unterweisung wurde der Lehrer dreimal darauf aufmerksam gemacht, dass er seine Teilnahme am Experiment jederzeit aufkündigen und das bereits ausbezahlte Entgelt von 50 Dollar dennoch behalten könne – ihm war also bewusst, dass er die Rolle des strafenden Lehrers jederzeit aufgeben konnte. Ungemütlich wurde seine Lage spätestens nach Betätigung des 75-Volt-Schalters, denn da drang erstmals ein Stöhnen des Schülers durch die Wand, das bei den nachfolgenden Stromschlägen immer lauter wurde. Zeigte sich der Lehrer zögerlich oder wandte er sich fragend an den Versuchsleiter, so bekam er eine der folgenden Standardantworten zu hören: «Machen Sie bitte weiter!», «Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!» oder «Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitermachen!». Erkundigte sich der Lehrer, ob er es zu verantworten habe, falls der Schüler einen gesundheitlichen Schaden davontragen sollte, erwiderte ihm der Versuchsleiter beruhigend: «Ich bin verantwortlich!»

Beim Drücken des 150-Volt-Schalters eskalierte die Situation – der Schüler schrie: «Es reicht, lassen Sie mich hier raus! Ich habe doch gesagt, dass ich an Herzbeschwerden leide. Ich weigere mich weiterzumachen!» Fand sich der Lehrer ungeachtet dieses Protests bereit, die Prozedur fortzusetzen, so wurde das Experiment an diesem Punkt aus ethischen Gründen abgebrochen und der Proband darüber aufgeklärt, dass dem Schüler in Wirklichkeit keine Schocks verabreicht worden waren. Bei Milgram hatten die Teilnehmer ihren Gehorsam bis zur Betätigung des 450-Volt-Schalters beweisen können, wobei ab 330 Volt kein Laut vom Schüler mehr zu vernehmen war. An der Frage, ob die Belastung der Versuchspersonen in Milgrams Experiment nicht die Grenzen des Zumutbaren überschritten habe, entzündete sich seinerzeit eine erbitterte Kontroverse, die letztlich zur Einführung von ethischen Richtlinien für die Forschung beitrug – und ab Ende der siebziger Jahre eine Wiederholung von Milgrams Experiment in den USA verunmöglichte. Vergeblich hatte er immer wieder hervorgehoben, dass in einer Nachbefragung viele Probanden die Teilnahme an seinem Experiment als persönliche Bereicherung beschrieben und lediglich weniger als zwei Prozent sie bereut hätten.

Kulturelle Unterschiede

In den sechziger Jahren vermochte er aber mit verschiedenen Varianten seines Experiments zu zeigen, in welchem Ausmass das Umfeld menschliches Verhalten beeinflusst. Wurde den Teilnehmern ein «Lehrerkollege» an die Seite gestellt und das Umlegen des Stromschalters an diesen delegiert, fanden sich über 90 Prozent zu maximalem Gehorsam bereit. Hatten sie dagegen die Hand des Schülers selber auf eine Stromplatte zu drücken, fiel die Gehorsamsrate auf etwa 30 Prozent. Wichtiger noch als die Nähe des Schülers aber war die Anwesenheit der Autoritätsperson: Erteilte diese ihre Anweisungen telefonisch, zog nur noch jeder Fünfte die Strafprozedur bis ans Ende durch. Auch kulturelle Unterschiede scheinen die Gehorsamsbereitschaft beeinflussen zu können: In Australien beispielsweise ergab sich 1974 bei einer Wiederholung des Milgram-Experiments eine Gehorsamsrate von 28 Prozent, während sie sich in Deutschland zur gleichen Zeit auf 85 Prozent belief. Im Durchschnitt jedoch waren in neun Versuchswiederholungen in Europa, Afrika und Asien wie bei Milgram rund 65 Prozent der Teilnehmer bereit, den letzten Schalter zu drücken.

In der nun durchgeführten Neuauflage des Experiments zeigten sich 70 Prozent der Teilnehmer gewillt, über das Strafmass von 150 Volt hinauszugehen. Da bei Milgram 79 Prozent derjenigen, die bei 150 Volt weitermachten, schliesslich auch den 450-Volt-Schalter gedrückt hatten, lässt sich hochrechnen, dass die Gehorsamsrate für den letzten Schalter heute nur unwesentlich unter derjenigen der sechziger Jahre liegen dürfte. Im Übrigen hing die Gehorsamsbereitschaft wie bei Milgram weder mit dem Alter noch dem Geschlecht oder Bildungsniveau der Teilnehmer zusammen. Indes ergab sich ein bedeutsamer Zusammenhang mit dem Empathievermögen, das mittels eines Fragebogens eingeschätzt wurde: Besonders einfühlsame Menschen verweigerten zwar nicht häufiger den Gehorsam, wandten sich aber früher als andere mit kritischen Rückfragen an den Versuchsleiter. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen einer kürzlich erschienenen Nachauswertung von acht Milgram-Studien, die für einmal anstelle des Gehorsams den Ungehorsam in den Mittelpunkt rückte.
Rechtsbewusstsein wichtiger als Mitleid

Dabei untersuchte Dominic Packer von der Ohio State University, wie sich die Weigerung der Teilnehmer, einen weiteren Stromschlag zu verabreichen, in Milgrams Studien auf die 30 Schalter verteilt hatte. Die Auswertung ergab zum einen, dass die Ausstiegsrate nicht mit den Schmerzbekundungen des Schülers zusammenhing, die ab 75 Volt einsetzten und mit jedem weiteren Stromschlag an Intensität zunahmen. Mitgefühl allein scheint demnach nicht zu höheren «Befehlsverweigerungsraten» zu führen – selbst bei besonders einfühlsamen Menschen nicht, wie es auch Burgers Studie bestätigte. Zum anderen stellte sich heraus, dass die höchste Ungehorsamsrate nach dem Drücken des 150-Volt-Schalters auftrat: Mehr als ein Drittel der «Dienstverweigerer» stieg hier aus. Wie bereits erwähnt, verlangten die Schüler in Burgers und Milgrams Experimenten an diesem Punkt erstmals ausdrücklich, aus dem Experiment entlassen zu werden. Aussteiger, so die Deutung von Packer, entschieden den nun offen ausgebrochenen Konflikt augenscheinlich in dem Sinne, dass sie den Rechten des anderen Teilnehmers den Vorrang vor den Anweisungen des Versuchsleiters einräumten.

Diese Erkenntnis könnte für das Verständnis verschiedener Probleme des «wirklichen Lebens» von Bedeutung sein, zu deren Erklärung Milgrams Experiment immer wieder herangezogen wird, etwa das der Misshandlung von Gefangenen. Packer erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die amerikanische Regierung unter Präsident Bush im Kampf gegen den Terrorismus verschiedene Rechte, die Kriegsgefangenen aufgrund der Genfer Konventionen zustehen, ausser Kraft gesetzt und durch die Zusicherung ersetzt hat, den Gefangenen werde bei den Verhören «kein übermässiger Schmerz» zugefügt. Die Ergebnisse seiner Studie legten nun allerdings nahe, so Packer, dass Schmerzeinfühlung kaum Schutz vor Misshandlung zu bieten vermöge, wenn die Rechte der Betroffenen eingeschränkt oder unklar seien. Trete in einer solchen Situation eine Autoritätsperson auf, die eine Technik wie etwa das «Waterboarding» (das Begiessen des Kopfes eines auf ein Brett gefesselten Menschen mit Wasser, wodurch Erstickungsängste ausgelöst werden) als notwendig und ungefährlich darstelle, dann bestehe die Gefahr, dass blinder Gehorsam von ganz gewöhnlichem Vollzugspersonal in Unmenschlichkeit münde.

Freitag, Januar 30, 2009

NZZ: Die neuen Stellvertreterkriege - Russland rüstet gemeinsam mit China die Gegner des Westens auf

29. Januar 2009
Neue Zürcher Zeitung
* Der Autor ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter am Institut für politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

Die neuen Stellvertreterkriege
Russland rüstet gemeinsam mit China die Gegner des Westens auf

Russlands wirtschaftliche und militärische Schwäche im Vergleich zu Amerika schafft Probleme. Eine direkte Konfrontation ist nicht ratsam, deshalb rüsten Moskau und Peking die Gegner des Westens auf. Damit wird Geld verdient und werden strategische Ziele erreicht.

Von Thomas Speckmann*


29. Januar 2009
Neue Zürcher Zeitung
* Der Autor ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter am Institut für politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

Die neuen Stellvertreterkriege
Russland rüstet gemeinsam mit China die Gegner des Westens auf

Russlands wirtschaftliche und militärische Schwäche im Vergleich zu Amerika schafft Probleme. Eine direkte Konfrontation ist nicht ratsam, deshalb rüsten Moskau und Peking die Gegner des Westens auf. Damit wird Geld verdient und werden strategische Ziele erreicht.

Von Thomas Speckmann*

Als im August 2008 für fünf Tage Krieg in Georgien tobte, da begann sogleich die Suche nach einem Begriff für diesen Typ von Waffengang. Erlebt der klassische Krieg zwischen Staaten eine Renaissance? Wird der «neue kalte Krieg» zu einem heissen? Steht die Welt vor einer Serie von kleinen lokalen Kriegen zwischen Ost und West? Moskaus Feldzug gegen Tiflis weckte derlei Vermutungen. Doch sie spiegeln nicht die Wirklichkeit. Russland ist militärisch wie ökonomisch viel zu schwach, um ein direktes Kräftemessen mit den Vereinigten Staaten zu wagen.

Schwächen im Georgien-Feldzug

Das hat nicht zuletzt der russische Einmarsch in Georgien gezeigt: Russlands Börsenindex fiel um 13 Prozent. Ausländische Investoren zogen mehr als 20 Milliarden Dollar vom russischen Finanzmarkt ab. Auch Russlands Armee offenbarte Schwächen. Nach überraschend hohen Verlusten in den ersten Kriegstagen gelang ihr der Sieg auf dem Schlachtfeld vor allem durch die erdrückende Übermacht an Mensch und Material. Moskaus vollmundige Ankündigungen einer verstärkten Aufrüstung wirken da wie Trotzreaktionen.

Dem russischen Militär stehen 2009 rund 35 Milliarden Dollar zur Verfügung – dem Pentagon 612 Milliarden. Ein neues Wettrüsten mit der Nato kann sich der Kreml nicht leisten. Das gilt spätestens seit der internationalen Finanz- und Wirtschaftskrise. Ohnehin von gravierenden Problemen in der Infrastruktur, von einem dramatischen Rückgang der Bevölkerung und niedriger Lebenserwartung geplagt, zeigt sich Russland besonders hart von der globalen Rezession und dem Preisverfall bei Erdöl und Erdgas getroffen. Glaubte sich der Kreml zu Zeiten der Sowjetunion ein Militärbudget von bis zu einem Viertel des Bruttoinlandprodukts leisten zu können, so waren es in Putins Präsidentschaft weniger als 3 Prozent. Bis auf Tartus in Syrien sind alle Stützpunkte ausserhalb Russlands geschlossen worden. Selten war die Schere zwischen Moskaus imperialem Anspruch und der realpolitischen Wirklichkeit grösser.

Nun soll die noch 2 Millionen Mann umfassende Armee weiter schrumpfen. Allein im ersten Quartal 2009 sollen über 200 000 militärische und zivile Stellen wegfallen. Bis 2012 soll die Truppe personell fast halbiert sein. Auch das Raketenarsenal soll bis 2020 um 30 Prozent verringert werden. Eine Streitmacht von gut einer Million Mann mit mobilen, schlagkräftigen Brigaden ist das Ziel.

Droht dem Westen also in naher Zukunft neue Gefahr aus Moskau? Es mag auf den ersten Blick paradox klingen: Gerade weil Russland derzeit nicht in der Lage ist, den USA militärisch und wirtschaftlich auf Augenhöhe zu begegnen, bereitet der Kreml dem Weissen Haus zunehmend Probleme. Denn für Moskau erscheint es politisch wie ökonomisch lukrativer denn je, Washington indirekt zu treffen. Russland rüstet systematisch die Gegner der amerikanischen Verbündeten auf. Eine Renaissance der Stellvertreterkriege ist die Folge: Im Kaukasus hängen Südossetien und Abchasien am Tropf russischer Waffenlieferungen. Bereits vor Moskaus August-Feldzug beschossen südossetische Milizen georgische Dörfer mit schwerer Artillerie, die sie nur vom Kreml erhalten haben konnten.

Iran als Kunde

Ein ähnliches Bild entfaltet sich derweil im Nahen Osten. Iran wird von Russland bewaffnet. Teherans Raketen- und Atomprogramme wären ohne russische Hilfe nicht denkbar. Bereits Ende der neunziger Jahre hat Iran zahlreiche Atom- und Raketenexperten aus Russland angeworben. Wiederholt wurden russische Firmen von den USA mit Sanktionen belegt, da sie den Kernwaffensperrvertrag unterliefen. Mit dem Bau des Atomkraftwerks Bushehr am Persischen Golf, an dem Moskau in den letzten Jahren mit bis zu 2500 russischen Arbeitern und Ingenieuren massgeblich beteiligt war, gelangt Teheran in den Besitz moderner Atomtechnologie. Zusätzlich zur Fertigstellung des Kernreaktors, der im Jahr 2009 ans Netz gehen soll, bildet Russland rund 500 iranische Atomwissenschafter und Techniker aus.

Für Moskau ist das Engagement in Iran ein lukratives Geschäft: Das eine Milliarde Dollar teure Bauprojekt in Bushehr hat der russischen Atomindustrie als erster Auslandsauftrag nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Existenz gesichert. Anschlussverträge für weitere sechs Reaktoren und für Uranlieferungen in gewaltigen Mengen stehen in Aussicht. Von Aufträgen in zweistelliger Milliarden-Dollar-Höhe ist die Rede. Dabei scheint sich der Kreml vollkommen bewusst, welche Konsequenzen Irans atomare Aufrüstung hat. Bereits Präsident Jelzin gab nach der Unterzeichnung des Bushehr-Vertrages 1995 zu, dass das Abkommen sowohl Elemente friedlicher wie militärischer Nutzung enthalte.

Um die iranischen Atomanlagen vor etwaigen Luftangriffen Israels oder der USA zu schützen, haben Moskau und Teheran im Dezember 2005 die Lieferung von 29 Boden-Luft-Raketen-Systemen des Typs TOR-M1 für 1,4 Milliarden Dollar vereinbart. Damit hat Russland das sogenannte «Tschernomyrdin-Gore-Abkommen» von 1995 aufgekündigt, nach dem Moskau auf Waffenlieferungen an Teheran verzichtet und dafür mit amerikanischen Finanzhilfen für die eigene Atomwirtschaft entschädigt wird. Indes ist die Auslieferung der russischen Raketen an Iran abgeschlossen. Auch die Bedienungsmannschaften stehen bereit. Schon im Dezember 2006 hat eine Gruppe iranischer Soldaten ihren Schulungslehrgang in Russland beendet.

Derzeit wird ferner über die Lieferung von fünf russischen Flugabwehrsystemen vom Typ S-300 verhandelt. Mit einer Reichweite von 200 Kilometern, einer Flughöhe von bis zu 27 Kilometern und der Fähigkeit, gleichzeitig bis zu hundert Flugzeuge oder Raketen zu erfassen und zwölf von ihnen zu bekämpfen, würde diese Waffe das Kräfteverhältnis am Golf entscheidend zugunsten Teherans verlagern. Denn selbst für die Hightech-Luftwaffen Israels und der USA wäre die S-300 ein ernstzunehmender Gegner. Auch an diesem System sollen bereits Iraner in Russland ausgebildet worden sein. Damit hat sich Iran als Kunde für russische Waffen hinter China und Indien auf den dritten Platz vorgeschoben und beflügelt erheblich Moskaus Waffenexport.

Hizbullah und Hamas

Ende Dezember 2008 hat Russland nach Meldungen einheimischer Medien mit der Lieferung von 200 Boden-Luft-Raketen im Gesamtwert von 250 Millionen Dollar an weitere sieben Staaten begonnen. Unter ihnen befinden sich neben Venezuela, Libyen und Ägypten auch Syrien, das im August 2008 Verständnis zeigte für die russische Invasion Georgiens und die Militärbeziehungen mit Russland ausbaut – eine Stationierung russischer Raketen auf syrischem Territorium nicht ausgeschlossen. Damaskus kauft seit 2005 moderne Luft- und Panzerabwehrwaffen in Moskau und betätigt sich zugleich als Drehscheibe für iranische Waffenlieferungen russischer Produktion an den Hizbullah.

Im Libanonkrieg 2006 wurden fünfzig schwere «Merkava»-Kampfpanzer der israelischen Armee von modernen Panzerabwehrwaffen zerstört oder beschädigt. Dabei kamen 30 Soldaten um, mehr als 100 wurden verletzt. Nach einer von Israels Generalstab in Auftrag gegebenen Analyse hatte Teheran in Russland entwickelte und gebaute Panzerabwehrraketen vom Typ AT-13 Metis-M an den Hizbullah geliefert. Neuerdings soll er auch über russische schultergestützte Flugabwehrraketen des Typs SA-18 verfügen. Mitte Dezember 2008 hat überdies Libanon als Heimatland des Hizbullah bekanntgegeben, man wolle zehn moderne MiG-29-Kampfflugzeuge von Moskau beziehen.

Bereits im April 2006 hatte der Kreml auch der Hamas direkte Finanzhilfen zugesagt. Präsident Putin stilisierte Russland zur Schutzmacht der Muslime, um wieder eine führende Rolle in der Weltpolitik spielen zu können. Ist es da Zufall, dass bei den jüngsten Kämpfen auf Seiten der Hamas Waffensysteme aus dem Kalten Krieg auftauchen, die über Ägypten in den Gazastreifen geschmuggelt werden? Auf Israel werden unter anderem Flugkörper vom Typ BM-21 Grad («Hagel») mit einer Reichweite von bis zu 30 Kilometern abgefeuert – eine Rakete, die ursprünglich die Sowjetunion in den sechziger Jahren entwickelt hatte und die heute in Iran unter dem Namen «Arash» produziert und weiterentwickelt wird.

Russische Unternehmen und Wissenschafter sind auch erheblich in das ambitionierte Programm zur Entwicklung ballistischer Raketen in Iran involviert, das unter den Gesichtspunkten der militärischen Effizienz wie der politischen Symbolwirkung nur dann als sinnvoll gilt, wenn zu ihrer Bestückung ABC-Sprengköpfe zur Verfügung stehen, wobei Kernwaffen allein aus technischen Gründen eindeutig am attraktivsten sind. Während es sich bei der iranischen Mittelstreckenrakete vom Typ Shahab III («Sternschnuppe») um eine Eigenentwicklung auf Basis der nordkoreanischen Nodong-1 handelt, orientiert sich die Konstruktion des Flugkörpers mit der Projektbezeichnung Shahab IV stark an der einstigen sowjetischen Mittelstreckenrakete SS-4. Entsprechend gross ist die Beteiligung russischer Experten an dem iranischen Versuch, die Technologie dieses Flugkörpers mit einer Reichweite von etwa 2000 Kilometern wiederzuverwenden.

Munition für die Taliban

Nachdem es Ende der neunziger Jahre so geschienen hatte, als sei es den Vereinigten Staaten gelungen, durch politischen Druck sowie Sanktionen gegen Firmen die russische Unterstützung für das iranische Raketenprogramm deutlich zu verringern, berichteten amerikanische Nachrichtendienste in den vergangenen Jahren, dass erneut Russland zusammen mit China und Nordkorea zu den wichtigsten Helfern bei der Entwicklung von Flugkörpern in Iran gehöre. Wie weit die iranische Technologie inzwischen gereift ist, zeigte im August 2008 der erstmalige Test einer mehrstufigen Trägerrakete vom Typ Safir («Botschafter»), die als bedeutender Schritt zur Entwicklung von atomaren Langstreckenraketen angesehen wird. Bereits 2005 hatte Teheran, das auch ein eigenes Raumfahrtprogramm betreibt, mit Hilfe Moskaus einen kommerziellen Satelliten ins All geschossen; 2008 folgte ein iranischer Forschungssatellit an Bord einer chinesischen Rakete.

Obwohl Russland offiziell mit dem Westen in Irans Nachbarland Afghanistan kooperiert und seit November 2008 Deutschland erlaubt, seine Truppen am Hindukusch nicht nur auf dem Luftweg, sondern auch per Bahn über russisches Territorium mit Nachschub zu versorgen, mehren sich die Berichte über ein doppeltes Spiel Moskaus. Kommandanten der Taliban rühmen sich, von Russland und China gegen die Nato-Truppen munitioniert zu werden. Motive dafür dürfte es in Moskau und Peking genügend geben, allen Beteuerungen eines gemeinsamen Kampfes gegen den islamistischen Terrorismus zum Trotz.

Russische Hardliner glauben ohnehin, in Afghanistan noch eine Rechnung mit den USA aus dem Kalten Krieg offen zu haben, als nicht zuletzt amerikanische Waffenlieferungen für den afghanischen Widerstand die sowjetischen Besetzer schliesslich zum Abzug zwangen. Auch Peking verdächtigt das Weisse Haus, in Zentralasien Ziele zu verfolgen, die sich gegen China richten.

Moskau rüstet gleichfalls im südlichen Amerika die Gegner der Vereinigten Staaten auf. Venezuela ist zum grössten Kunden von russischen Waffen in Lateinamerika geworden und hat seit 2005 Rüstungsgüter im Wert von 6,7 Milliarden Dollar in Russland erworben: 24 Suchoi-MK2-Jagdbomber, 50 Helikopter der Typen Mi-26, Mi-35 und Mi-17, Panzer, Radargeräte und 100 000 Kalaschnikow-AK-103-Sturmgewehre. Waffengeschäfte im Wert von weiteren 2,5 Milliarden Dollar sind vereinbart, darunter MiG-29-Jagdflugzeuge. Auch ein Atomkraftwerk soll mit russischer Hilfe gebaut werden.

Venezuela, Nicaragua, Kuba

Zur Bekräftigung der «strategischen Partnerschaft» zwischen Russland und Venezuela landeten im September 2008 zwei strategische TU-160-Bomber der russischen Luftwaffe zu Trainingsflügen auf der venezolanischen Luftwaffenbasis Libertador rund hundert Kilometer westlich der Hauptstadt Caracas. Anfang Dezember 2008 fanden erste gemeinsame Flottenmanöver in der Karibik statt. Das zentralamerikanische Nicaragua hat sich sogar bereitgefunden, die von Georgien abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien als eigenständige Staaten anzuerkennen. Kuba ist als erneuter Stationierungsort oder Auftankplatz für russische Kampfflugzeuge im Gespräch.

Russlands unabhängiger Verbündeter in seinen neuen Stellvertreterkonflikten gegen den Westen ist China. Zwar investiert Peking sowohl absolut als auch relativ noch stärker als Moskau in die Modernisierung seiner Armee und baut vor allem sein atomares Arsenal und seine Marine aus, die nun mit ihrem Anti-Piraterie-Einsatz vor der Küste Somalias zum ersten Mal seit dem 15. Jahrhundert mit einem nennenswerten Flottenverband in Übersee operiert und damit einen historischen Strategiewechsel der Volksrepublik vollzieht. Aber wie Russland kann und will sich China derzeit nicht auf eine direkte Konfrontation mit den technisch weiterhin überlegenen USA einlassen. Daher verkauft auch Peking stattdessen Waffen an die Gegner der amerikanischen und europäischen Alliierten.

So gelang es dem Hizbullah im Sommer 2006, eine israelische Korvette vor der libanesischen Küste mit einer Anti-Schiff-Rakete schwer zu beschädigen, wobei vier israelische Seeleute ums Leben kamen. Der Marschflugkörper des iranischen Typs C-802 war eine ursprünglich chinesische Entwicklung namens Ying-Ji-802. Aus Peking soll Teheran rund 75 dieser Raketen erhalten haben, die mit einer geschätzten Treffsicherheit von bis zu 98 Prozent zu den gefährlichsten Anti-Schiff-Waffen der Welt zählen. Entlang der libanesischen Küste soll der Hizbullah allmählich rund tausend C-802-Marschflugkörper stationiert haben.

Auch das geheime Nuklearwaffenprogramm Irans unterstützt China seit Anfang der neunziger Jahre. Peking lieferte 1991 mit fast zwei Tonnen Uran den Grundstock für die iranische Atombombe. Die Anleitung zum Bau von Zentrifugen für die Anreicherung waffenfähigen Urans ergänzte der pakistanische Atomschmuggler Khan. Jüngste Prognosen gehen davon aus, dass Teheran ab Mitte 2009 einen Atomtest durchführen könnte. Pläne eines nuklearen Sprengkopfs für die iranische Shahab III wurden bereits 2004 in der Schweiz sichergestellt.

Indien, Pakistan, Afrika

Chinas militärischer Aussenhandel gerät mehr und mehr ins Visier der Vereinigten Staaten. Während Peking scharf gegen Washingtons jüngste Waffengeschäfte mit Taiwan protestiert, profiliert sich die Volksrepublik als Atom- und Raketenhändler auf dem globalen Markt. Unter den Kunden befinden sich neben Iran und Nordkorea auch die nuklearen Wettrüster Indien und Pakistan. Bereits 2003 sind in Libyen chinesische Baupläne für Kernwaffen aufgetaucht. Daher lehnte die amerikanische Regierung wiederholt die Forderung der Volksrepublik ab, Sanktionen gegen Chinas Staatsunternehmen aufzuheben, denen von Washington vorgeworfen wird, das Waffenembargo der USA gegen Iran zu unterlaufen.

In Afrika beliefert Peking ebenfalls die Gegner des Westens: Wiederholt sind Kampfflugzeuge vom Typ A5 Fantan, Lastwagen und Flugabwehrsysteme chinesischer Produktion auf Seiten der sudanesischen Regierungstruppen in Süddarfur gesichtet worden; auch Piloten werden von China ausgebildet. Weitere Waffenlieferungen gehen nach Berichten von Menschenrechtsgruppen an die regierungsnahen Janjawid-Milizen, die für schwere Menschenrechtsverstösse verantwortlich gemacht werden. Mitte November 2008 bestätigte die sudanesische Regierung zudem den Kauf von 12 MiG-29-Kampfflugzeugen in Russland. Damit verletzen Moskau und Peking nicht nur das Waffenembargo der Vereinten Nationen gegen den Sudan, sondern untergraben auch die Bemühungen des Westens im Uno-Sicherheitsrat, dem Massenmord in Darfur ein Ende zu setzen.

In dem erfolgreichen Einsatz ihrer Waffen sehen Russland und China die beste Werbung für die Qualität ihrer Systeme und hoffen auf neue Absatzmärkte in naher Zukunft. Mit ihrer weltweiten Parteinahme für die Gegner der Amerikaner und der Europäer positionieren sich Moskau und Peking als Konkurrenten um Einflusszonen. Als Vetomacht im Uno-Sicherheitsrat sperrt sich Russland nicht allein gegen weitreichende Sanktionen wegen Irans Nuklearprogramm. Moskau und Teheran haben auch eine strategische Partnerschaft geschlossen, um den USA und der EU den Zugang zum Kaspischen Meer zu versperren. Die Energieressourcen der Region wollen sich Russland und Iran alleine aufteilen. Im Kreml gilt die Islamische Republik als Schlüsselmacht, um den Einfluss der Amerikaner und der Europäer in Zentralasien und im Mittleren Osten einzudämmen.

* Der Autor ist Referent in der Staatskanzlei des Landes Nordrhein-Westfalen und Lehrbeauftragter am Institut für politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.