Sonntag, Februar 01, 2009

NZZ: Krieg in Gaza Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine

31. Januar 2009, NZZ Online
Krieg in Gaza
Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine
Empörung über Israels Vorgehen und über die Zurückhaltung der Hamas-Kämpfer

Viele in Gaza beschreiben die jüngste Kampagne Israels als Krieg gegen das ganze Volk und nicht gegen die Hamas. Erschütterte und dezimierte Familien nehmen die Trümmer ihrer Häuser wieder in Besitz. Die Hamas wird kritisiert wegen zu schwachen Widerstands, aber nicht ernstlich angefochten.

Von Viktor Kocher, Gaza, 29. Januar



31. Januar 2009, NZZ Online
Krieg in Gaza
Opfer und Zeugen einer Gewaltmaschine
Empörung über Israels Vorgehen und über die Zurückhaltung der Hamas-Kämpfer

Viele in Gaza beschreiben die jüngste Kampagne Israels als Krieg gegen das ganze Volk und nicht gegen die Hamas. Erschütterte und dezimierte Familien nehmen die Trümmer ihrer Häuser wieder in Besitz. Die Hamas wird kritisiert wegen zu schwachen Widerstands, aber nicht ernstlich angefochten.

Von Viktor Kocher, Gaza, 29. Januar

Unter einer dicken Schicht von Löschsand schwelt es immer noch in den Trümmerhaufen an einer Ecke des total verkohlten Lagerhauses des Uno-Hilfswerks für Palästinaflüchtlinge (UNRWA) in Gaza. «Wenn das mehr als zehn Tage nach dem Bombardement noch immer brennt, kann das nur Phosphor sein», versichert der Sprecher des Hilfswerks.

Verbittert weist er auf zehn zerstörte Busse, eine Reihe anderer havarierter Dienstfahrzeuge und die Vorräte für Hunderttausende von Hilfsrationen hin, die alle dem Beschuss am letzten Tag des israelischen Kriegs gegen die Hamas zum Opfer gefallen sind. «Gleich nach dem Einschlag des ersten Geschosses nahm der UNRWA-Chef direkt Kontakt zum israelischen Verteidigungsministerium auf», sagt der Sprecher, «doch allen Versicherungen der Generäle zum Trotz schlugen eine Stunde später nochmals drei Phosphorgranaten ins Lagerhaus ein und setzten alles in Brand.»

Verwüstete Viertel und Äcker

Die unmittelbar daneben gelagerten grossen Benzinvorräte der Uno-Agentur blieben wie durch ein Wunder unversehrt. Doch in der Vernichtung der Hilfsgütervorräte in einem seit Jahrzehnten bekannten und bestens markierten Lagerhaus sieht der Uno-Sprecher keinen Unfall, sondern zynische Berechnung der Israeli. «Sie wollten uns endgültig zermürben und uns auch den letzten Glauben an ein humanes Weltgewissen rauben.»

Der Gazastreifen bietet gut eine Woche nach der Einstellung des Feuers ein widersprüchliches Bild: Die Stadt Gaza erwacht rund um die verstreuten Trümmerhaufen von den öffentlichen Gebäuden zögernd zu einem Alltagsleben, seit die Schulen am 24. Januar den Betrieb wieder aufgenommen haben. In Rafah am Südende herrscht sogar lebhafter Marktbetrieb, denn die Schmuggel-Pipeline durch die Tunnels nach Ägypten ist weiterhin aktiv. Auf Erkundungsfahrten durch die aussen liegenden Ortschaften, vor allem im Nordteil des Streifens und an der Peripherie der Stadt Gaza, stösst man immer wieder auf die Spuren einer riesigen, gefrässigen Zerstörungsmaschinerie, als welche die israelische Armee auf ihrem Weg ganze Häuserzeilen in Trümmer gelegt, die Wohnblöcke links und rechts mit Panzergranaten und Maschinengewehrfeuer durchsiebt, Fabriken und Lagerhäuser vernichtet und Dutzende von Hektaren Ackerland und Baumgärten verwüstet hat.

Eine Zahl von vielen zehntausend Obdachlosen errechnet sich aus dem Total von 2400 gänzlich und über 16 000 teilweise zerstörten Wohnhäusern. Die Zahl der Toten beträgt nach dem unabhängigen Palästinensischen Menschenrechtszentrum (PHRC) insgesamt 1285; von ihnen sind 82,6 Prozent zivile Opfer, insbesondere 280 Kinder, 111 Frauen und 167 Polizisten im zivilen Dienst. Nach der gleichen Quelle wurden überdies 4336 Personen verletzt, von ihnen 1133 Kinder und 735 Frauen. Die Erhebungen des PHRC ergaben überdies, dass 28 öffentliche Gebäude wie Ministerien und das Parlament, 60 Polizeiposten, 30 Moscheen und 10 Sozialzentren, 121 Werkstätten, 21 Gaststätten und Geschäfte sowie 5 Zementfabriken zerstört wurden.

Die Zivilbevölkerung als Zielscheibe

In den Katastrophenzonen nehmen die Menschen trotz der zweifelhaften Waffenruhe die Trümmerhaufen, die von ihrem einstigen Heim geblieben sind, wieder in Besitz, sie wühlen nach den letzten Leichen und noch brauchbarem Hausrat, und viele haben sich unter einem stehengebliebenen Stück Dach oder auch nur einer Zeltblache notdürftig aufs Bleiben eingerichtet. «Was nützen mit jetzt die Notrationen von Zucker und Mehl», klagt ein Student und Familienvater in Izbet Abedrabboh, «ich brauche dringlich ein Dach über dem Kopf, damit ich mit den Nahrungsmitteln überhaupt irgendwo etwas anfangen kann.» Mannschaften der Lokalverwaltung legen mit Schläuchen behelfsmässige Wasserleitungen und reparieren notdürftig zerbrochene Kanalisationen und Stromleitungen.

Die Leute von Gaza lesen aus dem Muster der Zerstörungen eine erschreckende Botschaft heraus: «Die Israeli hatten es weniger auf die Hamas als auf die ganze Bevölkerung von Gaza abgesehen», urteilt der Leiter des Menschenrechtszentrums von Gaza, Jaber Weshah. «Sie wollten uns alle vom Widerstand abschrecken, uns klarmachen, dass es im Krieg gegen die Palästinenserkämpfer nirgends einen sicheren Ort mehr geben kann und dass es uns überaus blutig zu stehen kommt.» Eine Journalistin der unabhängigen Agentur Ramattan meint: «Noch nie haben sie den Kampf gegen die Palästinenser derart brutal geführt. Sie achteten weder Frauen noch Kinder, weder Schulen noch Spitäler, weder die Sanitäter des Roten Halbmonds noch die Kameraleute und Journalisten.» Wie zur Bestätigung findet sich eine Reihe von Moscheen, bei denen lediglich die Spitze des Minaretts mutwillig mit einer Panzergranate abgeschossen ist.

Mit einzelnen Episoden aus dem 22-tägigen Krieg illustrieren die Leute dieses Urteil. So machten die Truppen ganze Wohnviertel dem Erdboden gleich, einfach weil sie von einem Hügelzug aus die nahe Grenze zum Streifen dominierten, etwa in Izbet Abedrabboh bei Beit Lahia. Etwas weiter südlich, in Shijaiya, beschossen sie das Wafa-Spital, nur weil es eine offene Front gegen Osten auf die Grenze zu aufweist. Eine Panzergranate schlug wie von ungefähr mitten im Wort «Hospital» ein, welches das Krankenhaus als solches gross kennzeichnet. Die Präsenz bewaffneter Kämpfer, die die Armee jeweils zur Rechtfertigung anführte, bestreitet die Spitalverwaltung kategorisch.

Exekutionen von Zivilisten?

Der Direktor des Spitals des Roten Halbmondes in Gaza erzählt von einem ganzen Konvoi mit Schwerverletzten in ihren Krankenbetten und Neugeborenen in ihren Brutkästen, die mitten in der Nacht unter Feuer auf offener Strasse hatten evakuiert werden müssen, nachdem die Israeli die beiden obersten Stockwerke des Spitals in Brand geschossen hatten. Mit grossen Fliegerbomben zerstörte die Luftwaffe ausgelesene Wohnhäuser im Weichbild der Stadt, etwa dasjenige des Hamas-Innenministers Said Siyam. Auch das Haus eines notorischen Fatah-Aktivisten und Feindes der Hamas aus dem Helles-Klan wurde vernichtet, während dasjenige des Hamas-Scharfmachers Mahmud Zahhar oder das des Kassam-Kommandanten Ahmed Jaabari intakt blieben.

Der Chef des Ambulanzdienstes des Roten Halbmonds beschuldigt die israelischen Truppen, in vielen Fällen den Rettungsmannschaften den Zugang zu Verwundeten verweigert zu haben, oftmals auch nach einer ausdrücklichen Zusage des Verbindungsbüros der Armee über die Vermittlung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Ambulanzen hätten nicht nur Bombensplitter abgekriegt, sondern seien mehrmals direkt mit israelischem Gewehrfeuer belegt worden. Der Arzt betont, es habe sich kaum um Missverständnisse gehandelt, weil die israelischen Feldkommandanten meist über Mobiltelefon direkt mit den Ambulanzfahrern Kontakt hatten. Wegen der langen Verzögerungen hätten die Sanitäter mitunter Leichen geborgen, welche von den Hunden angefressen waren. Bürgerrechtsaktivisten haben Zeugenaussagen von Überlebenden aufgenommen, wonach die Soldaten Dutzende von wehrlosen Zivilpersonen exekutiert hätten. Der Leiter der chirurgischen Abteilung des Shifa-Spitals in Gaza weist auf einen sechsjährigen Knaben hin, der nach einem Kopfschuss, also einer vermutlich absichtlichen Verletzung aus einem israelischen Gewehr, um sein Leben ringt.

Widerstandskämpfer im Versteck

«Wir haben gesiegt, wahrlich, wir haben gesiegt», so geht der bittere Scherz über die triumphale Propaganda der Hamas, «und wenn wir noch zwei, drei Male weiter so siegen, dann ist ganz Gaza verwüstet.» Mancher Familienvater rauft sich die Haare in der Erinnerung an die langen schlaflosen Nächte unter den schweren Bombardementen, als seine Kinder bei ihm, dem ebenfalls Hilflosen, Schutz suchten. Als Schlimmstes nennt man die heimtückischen Phosphorgranaten, die mitten in zivilen Wohngebieten unlöschbare Brände entfachten und schreckliche Wunden schlugen. Wer nicht selbst ein Hamas-Aktivist ist, legt den Finger auf die zweifelhafte Wirkung des meist versteckt gebliebenen Widerstands. «Der Sieg gehört dem Volk, nicht den Widerstandskämpfern. Wir haben durchgehalten, wir standen tagelang Schlange für ein paar Fladen Brot oder etwas Trinkwasser.» Trotzdem glaubt keiner an die Entmachtung der Hamas – allein schon weil es keine Alternative gibt.

Und in einem verkörpert die Hamas recht deutlich den Willen der Leute. Jetzt wollen sie erst recht der israelischen Besetzung die Stirn bieten, was immer auch kommen mag, mit oder ohne Hamas. Von Präsident Abbas und einer gemässigten Politik der Verhandlungen will in Gaza kaum mehr einer etwas hören. «Die Israeli haben uns rundum eingeschlossen und ihre Armee auf uns losgelassen, ohne irgendeinen Ausweg offen zu lassen», meint der Bürgerrechtsaktivist Jaber Weshah, «aber das war der Wendepunkt. Wir werden uns zur Wehr setzen und schliesslich die israelischen Kriegsverbrecher genauso jagen, wie man Jagd auf die Nazis gemacht hat.»

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