Januar 2009
Magazin Cicero
„Unruhe im Kristallpalast“
von Peter Sloterdijk
Wie konnte es zu der Finanzmarktkrise kommen? Während die einen überrascht wurden, prophezeiten die anderen den Zusammenbruch schon seit langem. Der Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch über Spekulation, Größenwahn, Gier und das Ende unseres High-Speed-Zeitalters
Die Finanzkrise hat die Gesellschaft in allen Bereichen erreicht. Haben Sie denn irgendetwas kommen sehen oder geahnt? Gab es irgendwann einen Punkt, wo Sie als Philosoph gesagt haben: Das kann nicht gut gehen.
Seit zwei Jahrzehnten schreibe ich Bücher, in denen der Kartenhaus-Charakter unserer Weltkonstruktion dargestellt wird, die durchwegs auf Krediten bei der Zukunft beruht. Hierfür habe ich verschiedene Metaphern bemüht. Ich habe von dem Kristallpalast gesprochen, der unsere Lebensentwürfe in eine zerbrechliche Hülle einfasst. Ich habe von Schneeballsystemen gesprochen, die dem Selbstbetrug von Zinsenjägern zugrunde liegen, ich habe in meinem vorletzten Buch „Zorn und Zeit“ über „Kollapsverzögerung in gierdynamischen Systemen“ gehandelt. Es war nicht schwer zu prognostizieren, was früher oder später geschehen musste. Ich bin einer unter tausend Autoren, die im Augenblick überhaupt nicht überrascht sind. Wenn Sie die zeitgenössische Literatur überblicken und in den Zeitungen der vergangenen zehn Jahre blättern, sehen Sie: Es gibt sehr viele, die den Inflationsschwindel bemerkt hatten und jetzt, übrigens bemerkenswert untriumphal, feststellen, sie hätten seit Jahren vorhergesagt, was aktuell geschieht.
Magazin Cicero
„Unruhe im Kristallpalast“
von Peter Sloterdijk
Wie konnte es zu der Finanzmarktkrise kommen? Während die einen überrascht wurden, prophezeiten die anderen den Zusammenbruch schon seit langem. Der Philosoph Peter Sloterdijk im Gespräch über Spekulation, Größenwahn, Gier und das Ende unseres High-Speed-Zeitalters
Die Finanzkrise hat die Gesellschaft in allen Bereichen erreicht. Haben Sie denn irgendetwas kommen sehen oder geahnt? Gab es irgendwann einen Punkt, wo Sie als Philosoph gesagt haben: Das kann nicht gut gehen.
Seit zwei Jahrzehnten schreibe ich Bücher, in denen der Kartenhaus-Charakter unserer Weltkonstruktion dargestellt wird, die durchwegs auf Krediten bei der Zukunft beruht. Hierfür habe ich verschiedene Metaphern bemüht. Ich habe von dem Kristallpalast gesprochen, der unsere Lebensentwürfe in eine zerbrechliche Hülle einfasst. Ich habe von Schneeballsystemen gesprochen, die dem Selbstbetrug von Zinsenjägern zugrunde liegen, ich habe in meinem vorletzten Buch „Zorn und Zeit“ über „Kollapsverzögerung in gierdynamischen Systemen“ gehandelt. Es war nicht schwer zu prognostizieren, was früher oder später geschehen musste. Ich bin einer unter tausend Autoren, die im Augenblick überhaupt nicht überrascht sind. Wenn Sie die zeitgenössische Literatur überblicken und in den Zeitungen der vergangenen zehn Jahre blättern, sehen Sie: Es gibt sehr viele, die den Inflationsschwindel bemerkt hatten und jetzt, übrigens bemerkenswert untriumphal, feststellen, sie hätten seit Jahren vorhergesagt, was aktuell geschieht.
Aber dann stellt sich doch die Frage: Warum hat niemand reagiert? Wirtschaftsjournalisten waren es kaum, die sich kritisch zeigten. Herr Sloterdijk, Sie sagen, es gab viele andere. Warum hat man Sie nicht gehört? Nicht erhört?
Auf diese Frage gibt es zwei Antworten. Die erste heißt: Die Wirtschaftskommentatoren sind großteils „eingebettete Journalisten“ – sie schreiben dem Tagesbefehl gemäß und ziehen mit ihrer Truppe ins Feld. Für sie wären Argumente gegen den Mainstream beruflicher Selbstmord. Die zweite Antwort lautet: Die Handelnden auf dem Gebiet der Finanzmarktspekulation leben völlig außerhalb der Hörweite der analytischen Intelligenz. Sie sind von ihren Spielen berauscht und haben keine freien Kapazitäten für alternative Gedanken. Soviel ich weiß, nahmen sich auch die Konquistadoren keine Zeit für Ethikseminare.
Die klassischen Konquistadoren machten ihre Eroberungen noch in einem begrenzten realen Raum. Im Internet dagegen ist der Raum aufgehoben und die Finanzströme floaten frei in einem Netzwerk, das nicht mehr überblickbar ist. Sie jagen mit Lichtgeschwindigkeit rund um die Uhr rund um den Erdball.
Wir erleben Vorgänge, die in ihrem ganzen Ausmaß erst durch unsere Nachkommen gewürdigt werden können. Summarisch gesprochen: Wir sind in ein Zeitalter der unmenschlichen Geschwindigkeiten eingetreten – und dieser Übergang läuft mitten durch unsere Lebensgeschichten. Wir nehmen an einer maßlosen Beschleunigung teil und besitzen nur ein konfuses Vorgefühl von dem, was wirklich mit uns geschieht. In zwei oder drei Generationen wird man deutlicher sehen. Die bis gestern geltenden Spielregeln der Menschheitsgeschichte, die Maßstäbe, unter denen sogar die Bildung von Großreichen standen, ließen nur eine Welt der menschlichen Geschwindigkeiten zu, allenfalls von Pferdegeschwindigkeiten. Als im 15. Jahrhundert die Hochseeschifffahrt aufkam, reiste man in einem Tempo, das noch nicht unmenschlich war, selbst im Sturm wurden die Schiffe nicht übermäßig schnell. Kurzum, die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte war eine Ära der geringen und mittleren Geschwindigkeiten. Innerhalb kürzester Zeit, mit der Elektronisierung des Weltverkehrs in den vergangenen 30 Jahren, sind wir in einen Modus von Welterzeugung hineinkatapultiert worden, auf den niemand vorbereitet sein konnte. Durch die überschnellen Medien entstand die Synchronisierung des Weltsystems, und auf ein Leben in Gleichzeitigkeit mit allem Übrigen sind wir logisch und biologisch nicht vorbereitet. Synchronwelt heißt zunächst zweiter Dschungel, zweiter Wildwuchs, zweite Externalität. Zeitweilig hegte man den Irrglauben, man hätte bereits alles Äußere ins Treibhaus der Zivilisation integriert, doch die elektronischen Geschwindigkeiten sind der Zivilisierung enteilt. Die Externität ist noch nicht besiegt.
Könnte man sagen, dass der Spielrausch, mit dem jetzt Billionen verzockt wurden, etwas Wahnhaftes hat?
Und wir akzeptieren das: wir reden von „Spielern“ und nicht von „Übergeschnappten“.
In einer Inflationskultur können die Menschen nicht so verrückt sein wie das System. Der Wahnsinn ist offenbar aus den Personen ausgelagert worden, als hätte man ein Verfahren gefunden, Verrücktheit zu externalisieren. Das mag einer der Gründe sein, warum ich vom Verlauf der Krise so enttäuscht bin. Man fühlt sich inmitten der planetarischen Turbulenz um das wirkliche Drama betrogen. Da ist nicht eine einzige Figur aufgetreten, die die Krise personifiziert, kein farbiger Schurke, kein Shylock, neben Alan Greenspan ist Onkel Dagobert ein Charaktertitan. Noch nie habe ich eine solche Horde von bleichen Unpersonen beisammen gesehen. Was heute Krise heißt, ist die Weltverschwörung der Spießer. Diese vorgeblich heftigste Wirtschaftskrise der jüngeren Geschichte: sie ist die spießigste und muffigste Angelegenheit, die sich seit Menschengedenken zugetragen hat. Die Art und Weise, wie regierende Hausmeister im Dunkeln Megamilliarden hin- und herschieben, ist eine Beleidigung für jede Intelligenz. Demgegenüber waren der Schwarze Freitag und die Weltwirtschaftskrise nach 1929 ein Shakespeare-Drama. Heute sehen wir nur noch Aktenkofferträger in viel zu hohen Positionen, die hinterm Schalter große Politik machen. Obendrein redet man immerzu von der Gier, als ob sie die Vorgänge auch nur von fern erklärte. Die Wahrheit ist, der viel zitierte Bereicherungstrieb spielt in der Angelegenheit eine völlig untergeordnete Rolle. Es ist nicht die Gier, die das System antreibt, die Fehlsteuerung geht von den Zwängen des Billigkreditsystems aus: Wenn die Zentralbanken kostenloses Geld ausspucken, wäre es für echte Global Player ruinös, es nicht zu nehmen. Im Übrigen könnte man behaupten, in jedem Europäer steckt ein Inflationist: Seit dem Beginn der Neuzeit hat sich in den Menschen Europas und Amerikas das Märchenmotiv vom leistungslosen Einkommen mit archetypischer Gewalt festgesetzt. Von unserer psychischen und kulturellen Struktur her sind wir Schatzsucher, die den Schatz nicht mehr im Jenseits, sondern auf der Erde vermuten. Wenn es um Reichtum geht, neigen wir zum Wunderglauben – daneben sind mittelalterliche Menschen pure Rationalisten. Unzählige meinen allen Ernstes, das Leben sei ihnen einen Schatzfund schuldig.
Es gibt eine Wunderformel, die alles, was wir bislang unter Moral und ethischen Regeln verstanden, überflüssig macht, nämlich den Satz: „Wenn jeder nur an sich denkt, ist an alle gedacht.“ Nach diesem Grundsatz funktioniert das System, wie Sie es beschreiben - das Spiesser-System, das sich autodidaktisch vervollkommnet. Die Moral ergibt sich durch das System. Man braucht keine Gebote und Verbote mehr.
Immerhin, die Auslagerung der Moral in die Selbstregulierung des Marktsystems war ein Versuch der modernen Menschheit, sich von der religiösen Ethik zu emanzipieren. Die kybernetische Moral, die Ethik der unsichtbaren Hand – sie hat die bürgerliche „Gesellschaft“ von der lästig gewordenen göttlichen Nabelschnur abgeschnitten, die uns an ein von oben gegebenes Gesetz gebunden hatte…
Die Zehn Gebote!
…die Zehn Gebote oder die Goldene Regel oder was auch immer. Das frühe 20.Jahrhundert hat sich vor allem dadurch ausgezeichnet, dass es das 5.Gebot kaltblütig außer Kraft setzte: Du sollst nicht töten. Faschismus und Kommunismus haben gemeinsam, dass sie im Namen einer besseren Zukunft für Rassen- oder Klassenkollektive Großtötungs-Lizenzen in Anspruch nahmen. Die aktuellen Versuche, sich von den Zehn Geboten zu emanzipieren, beziehen sich auf die Eifersuchtsverbote, die in den Zehn Geboten fünf Mal wiederholt werden: Du sollst dich nicht lassen gelüsten nach dem, was dein Nachbar hat, nach seiner Frau, seinem Besitz, seinem Ochsen und Esel und so weiter. Heute heißt die Regel umgekehrt: Du sollst begehren, was andere schon haben, und falls legale Wege nicht zum Ziel führen, dann sollst du stehlen beziehungsweise umverteilen. Der amoralische Äther unserer Kultur verlangt die Umkehrung der Diskretionsgebote. Darum sollst du, wenn möglich, die Ehe brechen, das lockert die Stimmung und stimuliert den Konsum. Seit dem späten 19.Jahrhundert ist die Erotisierung unserer Kultur mit der wirtschaftlichen Liberalisierung verknüpft. Die eine Lizenz zieht die andere nach sich.
Ist durch diese Umkehrung der Vorzeichen vor den Geboten nicht etwas passiert, das noch tief greifender ist als die Unmoral der totalitären Ideologien?
Faschismus und Kommunismus waren Unmoral im totalitären Stil. Das Unmoralische daran war unmittelbar zu erkennen. Was wir jetzt erleben, ist nicht mehr direkt als Unmoral erkennbar. Es gibt keine Grenzen mehr, die man überschreiten muss, wenn man unmoralisch handelt. Man handelt jenseits der Moral – amoralisch.
Den Unterschied zwischen Unmoral und Amoral sollte man näher erklären. Alle hochkulturelle Moral hängt letztlich an der Tiefe der Verinnerlichung des Tötungsverbots. Es muss mit allen Mitteln einverleibt werden – christlich gesprochen mit Furcht und Zittern, polynesisch gesprochen durch das Tabu. Wer sich über dieses Verbot hinwegsetzt, behält ein Unrechtsbewusstsein – und wo dieses fehlt, ist die Kultur zerfallen. Man darf aber nicht übersehen, dass es neben dem Tötungsverbot überall auch ein zweites Urverbot gibt, nämlich das Verbot der aktiven und der passiven Eifersucht: Du sollst weder begehren, was andere Menschen haben, noch andere Menschen eifersüchtig machen auf das, was du hast und was dich auszeichnet. Dieses Gebot stellt die wichtigste psychosoziale Hygieneregel in allen Zivilisationen dar, es wurde in einer jahrtausendelangen moralischen Evolution erarbeitet – es ist die Regel, durch die das Aufflammen der Gewalt verhindert wird. René Girard hat diese Zusammenhänge in seinen Studien über den Zweikampf und die mimetische Rivalität in den Weltkulturen durchleuchtet. Wenn man hingegen, wie wir es tun, die Eifersuchtskonflikte systematisch aufheizt, um das Betriebsklima einer „Konsumgesellschaft“ herzustellen, sind früher oder später moralische Desorientierung und psychische Inflation die Folge. Folglich müssen wir versuchen, entweder den Reichtum zu teilen, oder, wenn er schon ungleich verteilt sein soll, ihn diskret zu machen und wenn möglich durch Mehrleistung zu rechtfertigen. Heute hingegen hat sich ein Fortuna-Kult durchgesetzt, mit dem die Göttin des Zufalls gefeiert wird. Was aber ist ungerechter als der Zufall? Im Grunde genommen leben wir seit dem 19. Jahrhundert in einer neofatalistischen Religion, in der man eine launenhafte Göttin, die Freundin der Sieger, anbetet. Sie ist die Göttin der Stadien, die Göttin der Börsen und die Göttin der erotischen Duelle, sie ist immer zur Stelle, wo es Sieger und Verlierer gibt. Ihre auffälligste Eigenschaft ist, dass sie nie sagt, warum sie den einen bevorzugt und den anderen ignoriert. Begründungen sind nicht ihre Stärke.
Diese neue Ideologie folgt dem Wahlspruch: Ich brauche die Gesellschaft nicht mehr. Wer dagegen zu denen gehört, die die Gesellschaft noch nötig haben, ist sich bewusst: Den neu gepflasterten Gehsteig bezahle ich mit meinen Steuern. Wir begegnen jeden Tag den gesellschaftlichen Leistungen, für die wir Steuern bezahlen: öffentliche Gebäude, Schulen, Parkanlagen, Strassen und vieles mehr. In den vergangenen 25 Jahren hat sich eine verwöhnte Schicht herangebildet, die soviel besitzt, dass sie sich sagt: Ich lebe in meiner eigenen Gesellschaft, ich habe für meine Kinder meine eigene Schule, ich geniesse meinen eigenen Park, mein eigenes Schwimmbad – warum soll ich für den Staat bezahlen?
Die Auswanderung der Wohlhabenden ist ein globaler Trend. Wenn der Sozialismus beziehungsweise das Gemeinwohldenken gescheitert ist, wie man frivolerweise behauptet, bleibt der Asozialismus. Den diskutieren wir zumeist unter dem etwas höflicheren Begriff Individualismus, und zu dem bekennen wir uns meistens gerne.
Aber was sind konsequente Individualisten?
Es sind Menschen, die ein Experiment darüber veranstalten, wie weit man beim Überflüssigmachen sozialer Beziehungen gehen kann – und sie gelangen dabei zu erstaunlichen Fortschritten. Deswegen beginnt im Augenblick auf der Erde ein soziologisches Experiment, das in eine neue Art Menschheit münden könnte. Die Reichen sind zurzeit noch eine Klasse und keine Spezies, aber sie könnten es werden, wenn man nicht aufpasst. Es dürfte zurzeit auf der Erde rund zehn Millionen Menschen in der Millionärs- und Multimillionärskategorie geben, dazu schon über tausend Milliardäre. Aus diesen Vermögens-eliten bildet sich ein neues abstraktes Übervolk, das dieselben Eigenschaften aufweist, die man vom alten europäischen Adel kannte: Sie denken kosmopolitisch, sie reisen viel, sie leben mehrsprachig, sie sind gut informiert und beschäftigen die besten Berater, sie reden ständig über Beziehungen, Sport, Kunst und Essen. Beim Volksthema Sex bleiben sie diskret.
Sie beschreiben die neue Feudalklasse, eine Klasse, die über neue Machtmittel verfügt: Früher geboten die Feudalherren über Ländereien, samt Dörfern und Menschen. Heute gebieten sie über Unternehmen samt den Menschen.
Der amerikanische Autor Jeremy Rifkin hat vor ein paar Jahren ein Buch vorgelegt unter dem Titel „Access“, das indirekt die Entstehung des neofeudalen Systems behandelt: Wir ersetzen, so seine These, heute Grundbesitz durch Zugang zu privilegierten Gütern, zu wertvollen Informationen, zu Luxusobjekten, zu elitären Adressen, zu exquisiten Kanälen und machtnahen Korridoren. Zugangskompetenz ist heute das Schlüsselgut, nicht Grundeigentum. Wir beobachten eine rasante Refeudalisierung auf überterritorialem Niveau. Und naturgemäß lebt niemand feudaler als jemand, der innerhalb des neuen Metavolks, des Zehn-Millionen-Volkes der Reichen, von gleich zu gleich kommuniziert.
Das Gespräch führte Frank A. Meyer (Cicero)
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