Donnerstag, Februar 19, 2009

NZZ: Mein Tun ist nicht von dieser Welt Papst Benedikt XVI. ist Joseph Ratzinger treu geblieben

Neue Zürcher Zeitung
14. Februar 2009,

Mein Tun ist nicht von dieser Welt
Papst Benedikt XVI. ist Joseph Ratzinger treu geblieben

Wer glaubt, der Papst habe nicht gewusst, was er mit der Aufhebung der Exkommunikation der schismatischen Bischöfe tat, kann sich durch die Lektüre der Schriften Joseph Ratzingers eines Besseren belehren lassen. Antiliberalismus und eine unpolitische Auffassung von Kirchenpolitik prägen die Vorstellungswelt des einstigen Dogmatikprofessors seit je.

Von Friedrich Wilhelm Graf


Neue Zürcher Zeitung
14. Februar 2009,

Mein Tun ist nicht von dieser Welt
Papst Benedikt XVI. ist Joseph Ratzinger treu geblieben

Wer glaubt, der Papst habe nicht gewusst, was er mit der Aufhebung der Exkommunikation der schismatischen Bischöfe tat, kann sich durch die Lektüre der Schriften Joseph Ratzingers eines Besseren belehren lassen. Antiliberalismus und eine unpolitische Auffassung von Kirchenpolitik prägen die Vorstellungswelt des einstigen Dogmatikprofessors seit je.

Von Friedrich Wilhelm Graf

Gern wird das Zweite Vatikanische Konzil (1962 bis 1965) als Öffnung Roms gegenüber dem Geist der westlichen Moderne gedeutet. Die römisch-katholische Weltkirche habe hier Glaubens- und Gewissensfreiheit zu akzeptieren gelernt, eine neue Sicht des Judentums entwickelt, ökumenische Verständigung mit den anderen christlichen Kirchen angebahnt und den radikalen Antimodernismus verabschiedet, der Ultramontanismus und katholische Ghettomentalität geprägt hatte. Vielen katholischen Reformern gilt das Konzil als innerkirchliche Aufklärung, mit der die Freiheitsideen des 17. und 18. Jahrhunderts in einen neuen christlichen Humanismus transformiert wurden.

Der Dogmatikprofessor Joseph Ratzinger trat früh schon für eine ganz andere, für eine institutionentheoretische Deutung des Konzils ein. Als Berater deutscher Kardinäle an der Konzilsarbeit beteiligt, berichtete er ab 1963 in vier kleinen Büchern über «Ergebnisse und Probleme» des Konzils. Es habe primär einer entschiedenen Neubestimmung römischer Identität in pluralistischen Umwelten gedient, deren normative Grundlagen zutiefst unchristlich seien. Zwar greift Ratzinger moderne Leitbegriffe wie Personwürde, Menschenrechte, Freiheit und Pluralismus auf. Aber er gibt ihnen immer einen dezidiert antiliberalen Gehalt.

Der bloss «formalen», inhaltsleeren Freiheit des «liberalistischen Individualismus» stellt er «wahre» Freiheit, die ethisch fundierte Bindung des Menschen an sittliche Institutionen wie Familie und Staat, entgegen. Das Konzil habe Menschenrechte strikt als Schöpfungsrechte gedacht, in denen die sündhafte Autonomie des Einzelnen durch freudige Hingabe an die Gemeinschaft überwunden sei. Liberalismus, moralischen Pluralismus und die offene Gesellschaft lehnt Ratzinger, mit einer angriffigen Formel, als «Diktatur des Relativismus» ab. Häufig polemisiert er gegen das Mehrheitsprinzip der parlamentarischen Demokratie, dem die Kirche eine sittliche Wahrheit vorordnen müsse. In Europas Rechtsstaaten sieht er ernsthaft Christen und Kirche von aggressiven Feinden verfolgt. Mehrfach klagt er darüber, dass die Beleidigung von Juden und Muslimen strafrechtlich verfolgt werde, aber «die Kirche» schutzlos diffamierender Verachtung preisgegeben sei.

Für die Einheit der Kirche

1980 veröffentlichte Ratzinger einen Essay zum Begriff «Kirchenpolitik», einem Neologismus des frühen 19. Jahrhunderts. Kirchenpolitik dürfe sich nicht an Pragmatismus und Machtinteresse, sondern allein an theologischer Einsicht orientieren. In der Tat kann seine Entscheidung, die Exkommunikation von vier Bischöfen der antikonziliaren Pius-Bruderschaft aufzuheben, Kenner seiner Theologie nicht überraschen. Sie war theologisch lange vorbereitet, und ihr gingen Gespräche mit den Betroffenen voraus. Auch war im Zentrum des Vatikans durchaus bekannt, dass die sogenannten Traditionalisten einen radikalen Antijudaismus vertreten, den «Ökumenismus» in Richtung Protestanten ablehnen, statt freiheitlichen Rechtsstaat einen katholischen Sittenstaat fordern, Vichy bei Messen für Marschall Pétain als das wahrhaft katholische Frankreich preisen und europaweit eng mit Organisationen der neuen völkischen Rechten vernetzt sind.

Der Gelehrte auf Petri Stuhl hat die schismatischen Bischöfe aus ekklesiologischen Gründen dennoch in «die Kirche» zurückgeholt – ohne jede Vorbedingung. Wenn nun manche Kardinäle und einzelne deutsche Bischöfe erklären, Benedikt habe die Tragweite seiner Entscheidung nicht erkannt oder sei dem zuständigen Kurienkardinal Hoyos «ins Messer gelaufen», ist ihnen Ratzinger-Lektüre zu empfehlen. Dem Papst war «die Einheit der Kirche» wichtiger als alles bloss Politische – und dies entspricht ganz seiner Theologie.

Schon der junge Ratzinger hat einen eigenen organologischen Denkstil entwickelt. In seiner individuellen geistigen Ordnung steht immer «die Kirche», empirisch gesehen: die römisch-katholische Weltkirche, im Zentrum. Theologie soll die institutionelle Identität «der Kirche» gegenüber «der Welt» stärken. So konzentriert sich der Dogmatiker auf die Ekklesiologie, die Lehre von der Kirche und ihrer Heilsbedeutung, speziell die Ämterlehre, und die Sakramente. Kein anderer Theologe seiner Generation hat vergleichbar intensiv über die exklusive Autorität des Papstamtes veröffentlicht: Nur der «Primat des Papstes» garantiere «die Einheit des Gottesvolkes». Offenbarungsgehorsam, strikte Bindung an die Lehre der Väter, Papsttreue, Sakramentalität und heiliger Ritus gelten ihm als entscheidende Kriterien wahrer Kirchlichkeit.

Platonisierender Spiritualismus

In dieser radikalen Ekklesiozentrik kann Ratzinger die sozialen Umwelten «der Kirche», etwa staatliche Institutionenordnungen, ideenpolitische Diskurse und gesellschaftliche Akteure, nur sehr unscharf wahrnehmen. Walter Kasper, damals Professor in Münster und nun Kurienkardinal sowie Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen, hat in einer ebenso subtilen wie vernichtenden Besprechung von Ratzingers «Einführung in das Christentum» dem Tübinger Kollegen 1969 einen platonisierenden Spiritualismus attestiert, der weder konfliktreicher Geschichte noch dem «Bereich des Politischen» gerecht werden könne. Ratzinger spricht fortwährend «vom Primat des Unsichtbaren als des eigentlich Wirklichen» oder von der «Logoshaftigkeit der Wirklichkeit», die sich allein in der Christus-Offenbarung erschliesse. Die reformatorische «Freiheit eines Christenmenschen» und die kantische «Revolution der Denkungsart» verwirft er als «haltlosen Subjektivismus», und der moderne Historismus ist ihm völlig fremd geblieben. Fortwährend will er synthetisch und ganzheitlich denken – und dies heisst: Er denkt unhistorisch. Auch hat er niemals moderne Sozialtheorien rezipiert oder religionssoziologische Klassiker. In seiner Theologie gibt es für eine Aussenperspektive auf «die Kirche» als gesellschaftlichen Akteur keinen systematischen Ort.

Natürlich verwirft der Papst den Rassenantisemitismus der Nationalsozialisten. Aber Ratzinger schweigt zur alten Judenfeindschaft der Kirchen. In Texten zur Stellung des Christentums unter den Weltreligionen und zum Verhältnis von Juden und Christen lässt er keinen Zweifel daran, dass interreligiöser Dialog dem Lehramt primär zur Missionierung der Andersgläubigen dienen soll, um ihnen die Fülle der Christus-Wahrheit zu erschliessen. Auch die Juden haben danach noch ein Heilsdefizit. Ratzinger betont zwar die Kontinuität zwischen «Israel» und «der Kirche» und relativiert in der Formel vom «einen Bund» die scharfe paulinische Antithese von Altem und Neuem Bund. Doch sei der Sinai-Bund, im Unterschied zum Abrahams-Bund, nur temporär, allein für das Volk Israel gültig; und erst im Christus-Bund werde «sein Vorläufiges abgestreift». Das Christentum sei die «Erfüllungsreligion». Mit der Lehrüberlieferung «der Kirche» hält er daran fest, dass das empirische Israel, die frommen Juden, Heil nur im Bekenntnis zu Christus, dem «grösseren Moses» und einzigen Messias, erlange. Mit der Wiederzulassung des alten Messritus und mit der von ihm selbst neu verfassten Karfreitagsbitte zur Bekehrung der Juden hat Benedikt der theologischen Erkenntnis des Dogmatikers Ratzinger entsprochen.
Annäherung an die Orthodoxen

Und nun hat er nur Ernst damit gemacht, dass «nicht politische Meinung», sondern allein das Weihesakrament das Priesteramt definiert. Der fromme Platoniker meint offenbar, dass sich Kirchenpolitik allein im Ideenhimmel römisch korrekter Sakramentenlehre vollzieht. Aber Kirchenpolitik hat lebendige Akteure, und die sind allemal fehlbar – jedenfalls für Protestanten.

Erneut hat der Papst den «aus der Reformation hervorgegangenen Gemeinschaften» signalisiert, dass ihm die orthodoxen Kirchen mit ihren autoritären Amtstheologien sehr viel näher stehen. Die meisten orthodoxen Kirchen sind zwar nur Ethno-Religionen, in denen die je eigene Nation, das «heilige Russland» etwa, sakralisiert wird. Aber dies stört den Papst weniger als jener Geist der Aufklärung, dem sich viele protestantische Kirchen Europas in harten Lernprozessen geöffnet haben.


Der Verfasser lehrt systematische Theologie und Ethik an der evangelisch-theologischen Fakultät der Universität München. Sein neues Buch – «Missbrauchte Götter. Zum Menschenbilderstreit in der Moderne» – ist bei C. H. Beck erschienen.

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