Neue Zürcher Zeitung
28. Januar 2009,
Wie gehorsam sind die Menschen von heute?
Eine Neuauflage des Milgram-Experiments – mit ähnlichen Ergebnissen wie vor 45 Jahren
In einer Variante des Milgram-Experiments drückte der strafende Lehrer die Hand des Schülers auf eine Platte, die vorgeblich unter Strom stand
Zu Beginn der sechziger Jahre fanden sich in einem aufsehenerregenden Experiment rund zwei Drittel der Teilnehmer bereit, auf Geheiss einer Autoritätsperson einen Menschen mit starken Elektroschocks zu bestrafen. Eine Neuauflage des Versuchs hat nun ergeben, dass die Gehorsamsbereitschaft seither kaum abgenommen hat.
Ralph Erich Schmidt
Neue Zürcher Zeitung
28. Januar 2009,
Wie gehorsam sind die Menschen von heute?
Eine Neuauflage des Milgram-Experiments – mit ähnlichen Ergebnissen wie vor 45 Jahren
In einer Variante des Milgram-Experiments drückte der strafende Lehrer die Hand des Schülers auf eine Platte, die vorgeblich unter Strom stand
Zu Beginn der sechziger Jahre fanden sich in einem aufsehenerregenden Experiment rund zwei Drittel der Teilnehmer bereit, auf Geheiss einer Autoritätsperson einen Menschen mit starken Elektroschocks zu bestrafen. Eine Neuauflage des Versuchs hat nun ergeben, dass die Gehorsamsbereitschaft seither kaum abgenommen hat.
Ralph Erich Schmidt
1963 prägte Hannah Arendt in ihrem Bericht über den Prozess gegen den NS-Schreibtischtäter Adolf Eichmann die berühmte Formel von der «Banalität des Bösen». Im selben Jahr veröffentlichte Stanley Milgram, ein junger Assistenzprofessor an der Yale University, die Ergebnisse eines Experiments, die in seinen Augen die zentrale These von Arendt belegten: Ganz «banale» Menschen können anderen erhebliches Leid zufügen, es bedarf dazu keiner sadistischen Persönlichkeitszüge. Auf Anweisung einer Autoritätsperson bestraften in seinem Experiment rund zwei Drittel der Teilnehmer einen Probanden für falsche Antworten in einer Lernaufgabe mit starken Stromschlägen – ohne zu wissen, dass die Apparatur nicht unter Strom stand. Aus ethischen Gründen wurde das Experiment während langer Zeit nicht mehr durchgeführt. Manche Fachleute mutmassten aber, die Menschen seien heute – etwa im Gefolge der antiautoritären 68er Bewegung – hellhöriger für die Gefahren blinden Gehorsams und würden sich daher eher widersetzen. Doch eine ethisch vertretbare Neuauflage des Experiments hat diese Vermutung nun widerlegt.
Kleine Schritte in die Unmenschlichkeit
An der von Jerry Burger von der Santa Clara University in Kalifornien durchgeführten Studie nahmen wie bei Milgram Angehörige verschiedenster Berufsgruppen teil, insgesamt 29 Männer und 41 Frauen. Jeweils zwei Personen wurden vom Versuchsleiter, einem Mittdreissiger in einem weissen Laborkittel, gleichzeitig empfangen. Er erklärte, die Studie bezwecke, den Einfluss von Strafen auf das Lernvermögen zu erkunden. Dazu müsse ein Teilnehmer einen Lehrer spielen, der andere einen Schüler. Bei der vermeintlich zufälligen Rollenverteilung wurde der Part des Schülers immer einem fünfzigjährigen Komplizen des Versuchsleiters zugelost. Die tatsächliche Testperson sah nun mit an, wie der Versuchsleiter die Arme des auf einem Stuhl sitzenden Schülers an den Lehnen festband und eine Elektrode an seinem linken Handgelenk anbrachte. Dann wurde ihm mitgeteilt, dass er gleich eine Liste von 25 Wortpaaren, zum Beispiel «stark - Arm», vorgelesen bekomme, die er sich einprägen solle. Für Fehler beim anschliessenden Abfragen werde er mit Stromschlägen zunehmender Stärke bestraft.
An dieser Stelle wies der Schüler darauf hin, dass bei ihm vor einigen Jahren ein leichtes Herzleiden diagnostiziert worden sei. Der Versuchsleiter beschwichtigte, die Schocks seien zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Daraufhin begab er sich mit dem Lehrer in einen Nebenraum und bat ihn, vor einem grossen Gerät, dem «Schockgenerator», Platz zu nehmen. An der Frontseite prangte eine Reihe von 30 Schaltern, die in 15-Volt-Schritten das Spannungsspektrum von 15 bis 450 Volt umfassten. Der Lehrer wurde instruiert, wie er den Schüler zu prüfen habe. Falsche Antworten seien mit einem Stromstoss zu bestrafen, die erste mit 15 Volt und jede weitere mit der nächsthöheren Spannungsstufe. Schliesslich gab der Versuchsleiter dem Lehrer mit dessen Einverständnis einen Probeschock von 15 Volt, um ihm einen Eindruck zu vermitteln, wie sich die Strafe anfühlte.
«Machen Sie bitte weiter!»
Im Verlaufe der Unterweisung wurde der Lehrer dreimal darauf aufmerksam gemacht, dass er seine Teilnahme am Experiment jederzeit aufkündigen und das bereits ausbezahlte Entgelt von 50 Dollar dennoch behalten könne – ihm war also bewusst, dass er die Rolle des strafenden Lehrers jederzeit aufgeben konnte. Ungemütlich wurde seine Lage spätestens nach Betätigung des 75-Volt-Schalters, denn da drang erstmals ein Stöhnen des Schülers durch die Wand, das bei den nachfolgenden Stromschlägen immer lauter wurde. Zeigte sich der Lehrer zögerlich oder wandte er sich fragend an den Versuchsleiter, so bekam er eine der folgenden Standardantworten zu hören: «Machen Sie bitte weiter!», «Das Experiment erfordert, dass Sie weitermachen!» oder «Sie haben keine andere Wahl, Sie müssen weitermachen!». Erkundigte sich der Lehrer, ob er es zu verantworten habe, falls der Schüler einen gesundheitlichen Schaden davontragen sollte, erwiderte ihm der Versuchsleiter beruhigend: «Ich bin verantwortlich!»
Beim Drücken des 150-Volt-Schalters eskalierte die Situation – der Schüler schrie: «Es reicht, lassen Sie mich hier raus! Ich habe doch gesagt, dass ich an Herzbeschwerden leide. Ich weigere mich weiterzumachen!» Fand sich der Lehrer ungeachtet dieses Protests bereit, die Prozedur fortzusetzen, so wurde das Experiment an diesem Punkt aus ethischen Gründen abgebrochen und der Proband darüber aufgeklärt, dass dem Schüler in Wirklichkeit keine Schocks verabreicht worden waren. Bei Milgram hatten die Teilnehmer ihren Gehorsam bis zur Betätigung des 450-Volt-Schalters beweisen können, wobei ab 330 Volt kein Laut vom Schüler mehr zu vernehmen war. An der Frage, ob die Belastung der Versuchspersonen in Milgrams Experiment nicht die Grenzen des Zumutbaren überschritten habe, entzündete sich seinerzeit eine erbitterte Kontroverse, die letztlich zur Einführung von ethischen Richtlinien für die Forschung beitrug – und ab Ende der siebziger Jahre eine Wiederholung von Milgrams Experiment in den USA verunmöglichte. Vergeblich hatte er immer wieder hervorgehoben, dass in einer Nachbefragung viele Probanden die Teilnahme an seinem Experiment als persönliche Bereicherung beschrieben und lediglich weniger als zwei Prozent sie bereut hätten.
Kulturelle Unterschiede
In den sechziger Jahren vermochte er aber mit verschiedenen Varianten seines Experiments zu zeigen, in welchem Ausmass das Umfeld menschliches Verhalten beeinflusst. Wurde den Teilnehmern ein «Lehrerkollege» an die Seite gestellt und das Umlegen des Stromschalters an diesen delegiert, fanden sich über 90 Prozent zu maximalem Gehorsam bereit. Hatten sie dagegen die Hand des Schülers selber auf eine Stromplatte zu drücken, fiel die Gehorsamsrate auf etwa 30 Prozent. Wichtiger noch als die Nähe des Schülers aber war die Anwesenheit der Autoritätsperson: Erteilte diese ihre Anweisungen telefonisch, zog nur noch jeder Fünfte die Strafprozedur bis ans Ende durch. Auch kulturelle Unterschiede scheinen die Gehorsamsbereitschaft beeinflussen zu können: In Australien beispielsweise ergab sich 1974 bei einer Wiederholung des Milgram-Experiments eine Gehorsamsrate von 28 Prozent, während sie sich in Deutschland zur gleichen Zeit auf 85 Prozent belief. Im Durchschnitt jedoch waren in neun Versuchswiederholungen in Europa, Afrika und Asien wie bei Milgram rund 65 Prozent der Teilnehmer bereit, den letzten Schalter zu drücken.
In der nun durchgeführten Neuauflage des Experiments zeigten sich 70 Prozent der Teilnehmer gewillt, über das Strafmass von 150 Volt hinauszugehen. Da bei Milgram 79 Prozent derjenigen, die bei 150 Volt weitermachten, schliesslich auch den 450-Volt-Schalter gedrückt hatten, lässt sich hochrechnen, dass die Gehorsamsrate für den letzten Schalter heute nur unwesentlich unter derjenigen der sechziger Jahre liegen dürfte. Im Übrigen hing die Gehorsamsbereitschaft wie bei Milgram weder mit dem Alter noch dem Geschlecht oder Bildungsniveau der Teilnehmer zusammen. Indes ergab sich ein bedeutsamer Zusammenhang mit dem Empathievermögen, das mittels eines Fragebogens eingeschätzt wurde: Besonders einfühlsame Menschen verweigerten zwar nicht häufiger den Gehorsam, wandten sich aber früher als andere mit kritischen Rückfragen an den Versuchsleiter. Dieser Befund deckt sich mit den Ergebnissen einer kürzlich erschienenen Nachauswertung von acht Milgram-Studien, die für einmal anstelle des Gehorsams den Ungehorsam in den Mittelpunkt rückte.
Rechtsbewusstsein wichtiger als Mitleid
Dabei untersuchte Dominic Packer von der Ohio State University, wie sich die Weigerung der Teilnehmer, einen weiteren Stromschlag zu verabreichen, in Milgrams Studien auf die 30 Schalter verteilt hatte. Die Auswertung ergab zum einen, dass die Ausstiegsrate nicht mit den Schmerzbekundungen des Schülers zusammenhing, die ab 75 Volt einsetzten und mit jedem weiteren Stromschlag an Intensität zunahmen. Mitgefühl allein scheint demnach nicht zu höheren «Befehlsverweigerungsraten» zu führen – selbst bei besonders einfühlsamen Menschen nicht, wie es auch Burgers Studie bestätigte. Zum anderen stellte sich heraus, dass die höchste Ungehorsamsrate nach dem Drücken des 150-Volt-Schalters auftrat: Mehr als ein Drittel der «Dienstverweigerer» stieg hier aus. Wie bereits erwähnt, verlangten die Schüler in Burgers und Milgrams Experimenten an diesem Punkt erstmals ausdrücklich, aus dem Experiment entlassen zu werden. Aussteiger, so die Deutung von Packer, entschieden den nun offen ausgebrochenen Konflikt augenscheinlich in dem Sinne, dass sie den Rechten des anderen Teilnehmers den Vorrang vor den Anweisungen des Versuchsleiters einräumten.
Diese Erkenntnis könnte für das Verständnis verschiedener Probleme des «wirklichen Lebens» von Bedeutung sein, zu deren Erklärung Milgrams Experiment immer wieder herangezogen wird, etwa das der Misshandlung von Gefangenen. Packer erinnert in diesem Zusammenhang daran, dass die amerikanische Regierung unter Präsident Bush im Kampf gegen den Terrorismus verschiedene Rechte, die Kriegsgefangenen aufgrund der Genfer Konventionen zustehen, ausser Kraft gesetzt und durch die Zusicherung ersetzt hat, den Gefangenen werde bei den Verhören «kein übermässiger Schmerz» zugefügt. Die Ergebnisse seiner Studie legten nun allerdings nahe, so Packer, dass Schmerzeinfühlung kaum Schutz vor Misshandlung zu bieten vermöge, wenn die Rechte der Betroffenen eingeschränkt oder unklar seien. Trete in einer solchen Situation eine Autoritätsperson auf, die eine Technik wie etwa das «Waterboarding» (das Begiessen des Kopfes eines auf ein Brett gefesselten Menschen mit Wasser, wodurch Erstickungsängste ausgelöst werden) als notwendig und ungefährlich darstelle, dann bestehe die Gefahr, dass blinder Gehorsam von ganz gewöhnlichem Vollzugspersonal in Unmenschlichkeit münde.
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