Mittwoch, Januar 14, 2009

NZZ: Die Bevölkerung Gazas im Fadenkreuz

NZZ Online
14. Januar 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Bevölkerung Gazas im Fadenkreuz
Der völkerrechtliche Schutz muss durchgesetzt werden

Der Autor leitet eine Menschenrechtsorganisation, welche die Folgen des palästinensisch-israelischen Konflikts und der innerpalästinensischen Auseinandersetzungen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen dokumentiert. Er reiste vor dem Beginn des jetzigen Krieges dank diplomatischen Bemühungen Frankreichs aus dem Gazastreifen aus und hält sich in Europa auf.

Von Raji Surani*

Ich bin Palästinenser, 55 Jahre alt, und 41 Jahre davon lebte ich unter israelischer Besetzung; seit 31 Jahren bin ich Anwalt und Menschenrechtsaktivist.


NZZ Online
14. Januar 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Bevölkerung Gazas im Fadenkreuz
Der völkerrechtliche Schutz muss durchgesetzt werden

Der Autor leitet eine Menschenrechtsorganisation, welche die Folgen des palästinensisch-israelischen Konflikts und der innerpalästinensischen Auseinandersetzungen für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen dokumentiert. Er reiste vor dem Beginn des jetzigen Krieges dank diplomatischen Bemühungen Frankreichs aus dem Gazastreifen aus und hält sich in Europa auf.

Von Raji Surani*


Ich bin Palästinenser, 55 Jahre alt, und 41 Jahre davon lebte ich unter israelischer Besetzung; seit 31 Jahren bin ich Anwalt und Menschenrechtsaktivist. Die letzten Wochen im Gazastreifen sind die blutigsten Tage unserer bisherigen Geschichte. Am ersten Tag des Angriffs wurden innert weniger Stunden 192 Menschen getötet und Hunderte von Menschen verletzt und viele Häuser beschädigt oder zerstört. Bis heute wurden über 900 Menschenleben ausgelöscht, und unter den mehreren tausend Verletzten gibt es viele Schwerverletzte, Menschen, die dem Tod geweiht sind, wenn sie nicht schnell die richtige Pflege erhalten. Die Zivilbevölkerung ist schwer traumatisiert, und im ganzen Gazastreifen gibt es keinen sicheren Zufluchtsort für die Zivilpersonen.

Zuerst Belagerung, dann Angriff

Die wahre Zahl der Toten und Verwundeten kennen wir noch gar nicht, weil nach den Schlägen auf die Zivilverteidigungs- und Sanitätsposten viele Leute nicht evakuiert werden konnten. Menschen sind unter den Trümmern gefangen und wurden bisher nicht gefunden. In Zeitun, einem Viertel von Gaza, hat man am letzten Donnerstag 47 Tote gefunden, fünf Tage nachdem sie bei einem Granatenangriff auf ihre Häuser ihr Leben verloren hatten. In den Grenzgebieten sind wahrscheinlich viele getötet worden, ohne dass wir es erfahren haben. Zwischen 90 und 95 Prozent der Getöteten und Verletzten sind Zivilisten, denn die Ziele der Israeli sind hauptsächlich zivile Einrichtungen: Wohnhäuser, Moscheen, Universitäten, Brücken. Es ist ein obszöner Krieg.

Doch die 1,7 Millionen Einwohner des Gazastreifens waren schon vor diesem Krieg einer kriminellen Belagerung unterworfen. In den letzten zwei Jahren hat Israel das wirtschaftliche und soziale Leben im Gazastreifen mit seiner Blockade erstickt. Menschen oder Güter konnten kaum mehr in den Streifen hinein oder aus ihm heraus gelangen. Krebspatienten, die Chemotherapie brauchten, Studenten, die ihre Schulen und Universitäten erreichen sollten, Händler, die ihren Geschäften nachgehen wollten, alle waren blockiert. Wir hatten keine Elektrizität, keinen Treibstoff, keine Medikamente. Allmählich mussten fast alle der rund 900 industriellen Betriebe im Gazastreifen schliessen, die Schulen und die Gesundheitsversorgung waren dem Zusammenbruch nahe. Die Leute waren nur noch von der Idee besessen, Mehl und andere Nahrung aufzutreiben. Es handelte sich um einen wirtschaftlichen und sozialen Würgegriff, wie wir ihn noch nie erlebt hatten. Daneben gab es immer wieder Angriffe, Bombardements, Einfälle von Soldaten.

Als die Hamas-Führung vor sechs Monaten einer Waffenruhe zustimmte, ging es ihr hauptsächlich darum, die Lebensbedingungen der Bevölkerung zu verbessern, welche ja die Hauptlast der Blockade trug. Die Hamas selbst war von der Belagerung beinahe nicht betroffen, denn sie kontrollierte die Lage gut, wurde dank der Belagerung immer stärker und gewann Sympathien in der Bevölkerung. Zum Krieg ist es gekommen, weil Israel die Belagerung des Gazastreifens trotz der vereinbarten Waffenruhe nicht aufgehoben hat. Nichts hat sich verändert, weder bei der Reisefreiheit der Personen noch bei der Einfuhr oder Ausfuhr von Gütern hat es eine Verbesserung gegeben.
Inakzeptable Rechtfertigung Israels

Als Menschenrechtsorganisation ist es nicht unsere Aufgabe, die politischen Organisationen zu rechtfertigen. Wir sind keine Organisation zur Verteidigung der Hamas. Sie sind Kämpfer, diese ziehen in den Krieg und bezahlen dafür den Preis. Wenn Israel die Hamas-Kämpfer erwischen und ihre Organisation zerschlagen will, kann es dies versuchen. Aber das ist kein Grund, Zivilisten zu Zielscheiben zu machen. Unsere Aufgabe ist es, die palästinensische Zivilbevölkerung zu verteidigen und ihren Schutz zu verlangen. Und im gegenwärtigen Zermürbungskrieg ist die Zivilbevölkerung das eigentliche Ziel der Angriffe.

Nach meiner Einschätzung hat Israel in den ersten 72 extrem blutigen und zerstörerischen Stunden dieses Krieges versucht, die Organisation und die politische Führung der Hamas zu zerstören. Die israelische Führung glaubte, dies werde den Raketenbeschuss anhalten und eine Revolte der Bevölkerung gegen die Hamas auslösen. Die Hamas wurde aber dadurch kaum ernsthaft geschwächt. Es sind praktisch keine Bewaffneten auf der Strasse zu sehen, und trotzdem haben sie die innere Sicherheit immer noch voll unter Kontrolle. Die Führung der Hamas ist weder paranoid noch verwirrt, sondern handelt ruhig und überlegt. Sie hat vor allem die Sympathie und die Unterstützung der Bevölkerung, weil die Leute wissen, dass dieser Angriff ungerecht ist.

Die vierte Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung wurde nicht für die Palästinenser gemacht. Sie wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust geschaffen, weil so viele Zivilpersonen diesen Krieg mit ihrem Leben bezahlt haben. Das Völkerrecht muss jederzeit angewendet werden. Auch wenn sich Kämpfer unter der Zivilbevölkerung befinden, darf die Zivilbevölkerung nicht dafür bestraft werden. Israels Argument, es treffe Zivilisten, weil sich die Kämpfer darunter gemischt hätten, ist keine Begründung, sondern eine billige Entschuldigung.

Denn es geht Israel nicht um die Hamas, sondern um das palästinensische Volk als Ganzes. Wie lässt sich sonst das Verhalten der Israeli im Westjordanland erklären, während sie doch mit Präsident Abbas Verhandlungen führen? Wie sind die ethnische Säuberung und Judaisierung Jerusalems, die Erweiterung und die Neugründung von Siedlungen, der Bau der Sperranlage und die über 600 Strassensperren im Westjordanland zu erklären? Mit diesen Massnahmen wird auch in Cisjordanien das wirtschaftliche und soziale Leben blockiert und werden Zehntausende von Palästinensern ein zweites Mal von ihren Wohnstätten vertrieben. Täglich überfallen Soldaten Dörfer und Städte, zerstören Häuser, töten Menschen oder nehmen sie gefangen. Israel hat 12 000 palästinensische Gefangene, unter ihnen 38 Mitglieder des Parlaments. Was wir nach 15 Jahren des sogenannten Friedensprozesses haben, ist ein faktisches Apartheidregime im Westjordanland und im Gazastreifen, das den Palästinensern nur Armut, Tod, Zerstörung bringt.

In Palästina herrscht heute das Gesetz des Dschungels, das mit dem Völkerrecht nichts zu tun hat. Gibt es heiliges, geschütztes Blut und unheiliges Blut, das ungestraft vergossen werden darf? In Palästina werden Verbrechen begangen, und sie werden täglich am Fernsehen gezeigt. Niemand kann sagen, er habe es nicht gewusst, und trotzdem bleiben sie ohne Strafe. Europa schweigt und unternimmt nichts; im Gegenteil, hat doch die EU erst kürzlich ihre Beziehungen zu Israel noch aufgewertet. Wir erwarten, dass die internationale Gemeinschaft nun einen unverzüglichen Waffenstillstand, ein Ende der Belagerung, einen internationalen Schutz der Zivilbevölkerung und eine Untersuchung der begangenen Verbrechen durchsetzt. Dies ist eine Verpflichtung aller Signatarstaaten der Genfer Konventionen und vor allem dr Schweiz als Depositärstaat.

* Der Autor ist Anwalt, Direktor des Palästinensischen Menschenrechtszentrums (PCHR) in Gaza, Vizepräsident des Büros der Internationalen Föderation der Menschenrechte (FIDH) in Paris und Mitglied des Exekutivkomitees der Internationalen Juristenkommission in Genf.

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