Donnerstag, Januar 08, 2009

NZZ: Sendungsbewusstsein mit Scheuklappen

Neue Zürcher Zeitung
Sendungsbewusstsein mit Scheuklappen
Jüdische Siedler in Hebron, von wo sie die Armee evakuieren will
22. Dezember 2008,
Die Mehrheit der jüdischen Siedler in Cisjordanien versteht nicht, wieso sie ihren biblischen Anspruch auf das Land der Verheissung aufgeben sollten. Mit biblisch verbrämten Argumenten klammern sie politische und völkerrechtliche Realitäten aus.

Von unserem Israel-Korrespondenten George Szpiro



22. Dezember 2008, Neue Zürcher Zeitung
Sendungsbewusstsein mit Scheuklappen
Jüdische Siedler in Hebron, von wo sie die Armee evakuieren will

Die Mehrheit der jüdischen Siedler in Cisjordanien versteht nicht, wieso sie ihren biblischen Anspruch auf das Land der Verheissung aufgeben sollten. Mit biblisch verbrämten Argumenten klammern sie politische und völkerrechtliche Realitäten aus.

Von unserem Israel-Korrespondenten George Szpiro


Kokhav Yaakov, im November

In Cisjordanien, dem seit dem Sechstagekrieg von Israel besetzten Gebiet, leben neben zwei Millionen Palästinensern mittlerweile über eine Viertelmillion jüdische Siedler. In den Augen grosser Teile der Weltöffentlichkeit und vieler Israeli stellen sie das grösste Hindernis für die Bestrebungen nach einem Frieden dar. In ihrem eigenen Selbstverständnis nehmen die Siedler hingegen nur ihr angeblich gottgegebenes Recht – ja ihre Verpflichtung – wahr, in allen Teilen des biblischen Israel zu leben. Wüstes Treiben jugendlicher Hooligans (wie unlängst im Zusammenhang mit der gerichtlich angeordneten Räumung eines von fanatischen Siedlern besetzen Hauses in Hebron) hat den in Cisjordanien lebenden Israeli einen besonders schlechten Ruf eingebracht. Aber auch gemässigte Siedler haben sich, scheinbar abgelöst von der Realität, einem religiösen Fanatismus verschrieben.

Die Politiker sind an allem schuld

Judith Tayyar, eine aus Amerika stammende religiöse, aber modern gebildete Frau, ist eine Sprecherin der Siedlerbewegung. In der Armee hatte sie als Patrouillenführerin gedient, und in ihrer Siedlung koordiniert sie nun die Sicherheitsvorkehrungen. Zwar ist sie kritische Fragen zweifelnder Journalisten gewohnt, doch ihre Ansichten klammern alles, was nicht in ihr Weltbild passt, aus. Wie viele ihrer Kollegen ist sie überzeugt, dass gewöhnliche Leute, auf israelischer wie auch auf palästinensischer Seite, heute in Frieden nebeneinander leben würden, wenn sich bloss Politiker nicht in die Beziehungen eingemischt hätten.

Andere Vertreter der Siedlerszene meinen, dass sich «muslimische Horden» nie mit der Präsenz Andersgläubiger abfinden würden und einzig die Vertreibung der Juden aus allen Teilen des Heiligen Landes im Sinne hätten. Ausserdem seien es nicht die israelischen Siedlungsaktivitäten, die ein Hindernis für den Frieden darstellten, denn arabischen Terror habe es auch zu einer Zeit gegeben, als noch keine Israeli auf besetztem Gebiet lebten.

Viele Siedler lehnen eine Zweistaatenlösung – Israel mit einer jüdischen Mehrheit, Palästinenser in einem in Cisjordanien und dem Gazastreifen zu gründenden Staat – ab. Sie hoffen auf einen jüdischen Staat sowohl im heutigen Israel als auch in den besetzten Gebieten, in dem Palästinenser, die bereit seien, die israelische Herrschaft anzuerkennen, geduldet würden. Fragen nach den demokratischen Rechten dieser Menschen, die bald zu einer Mehrheit würden, wird ausgewichen. Es ist kein Wunder, dass der innerisraelische Dialog ein Disput unter Gehörlosen ist. Während die Linke den Siedlern vorwirft, dass sie Scheuklappen trügen, behaupten die Siedler, dass naive Linke die allgegenwärtigen Bedrohungen einfach nicht wahrnehmen wollten.

In Kokhav Yaakov, einer 1984 gegründeten Ortschaft nördlich von Jerusalem, leben etwa 5000 Einwohner. Eine Sehenswürdigkeit der Siedlung ist die Talmud-Lehranstalt Hekhal Eliyahu, die 1923 in Montreux gegründet worden war und vor einigen Jahrzehnten mitsamt Rabbinern und Schülern von der Schweiz zuerst nach Jerusalem und dann hierher übersiedelte. Heute dient diese Yeshiva (Talmud-Schule) der Ausbildung religiöser Soldaten, die einen Teil ihres Militärdienstes mit dem Studium jüdischer Texte zubringen.

Eine lebhafte, humorvolle Frau namens Tamar Yona, die von ihrem Haus im Westjordanland aus eine bei jüdischen und christlichen Zionisten in Amerika populäre Radiosendung leitet, erwartet die Besucher beim Eingang zur Ortschaft. Ihre Kleidung – Kopftuch, langer Rock, zugeknöpfte, bis an die Handgelenke reichende Bluse – weist sie als streng religiöse Jüdin aus. Enthusiastisch, von Sendungsbewusstsein erfüllt, sprudeln ihr die Argumente für die jüdische Präsenz im Westjordanland nur so über die Lippen. Der Anspruch auf das Land wird jeweils durch biblische Zitate untermauert. Hinweise auf nationale Ansprüche der Palästinenser werden kurzerhand vom Tisch gewischt.

Vor Beginn des politischen Prozesses, der in die Verträge von Oslo mündete, hätten Juden und Araber gutnachbarliche Beziehungen gepflegt, sagt Tamar Yona. Die Palästinenser hätten Arbeit in den Siedlungen, Bewegungsfreiheit und Frieden gehabt. Probleme seien erst entstanden, als naive Gutmenschen eine irregeleitete Politik begonnen hätten. Und seitdem sich Unterrichts- und Bildungswesen in den Händen von Arafat und seinen Nachfolgern befänden, würden palästinensische Kinder und Jugendliche einzig zum Terror erzogen.

Patrioten statt Rowdys?

David Feld, ein hochgewachsener Rabbiner, diente vor seiner Einwanderung nach Israel im Range eines Obersten als Geistlicher bei den amerikanischen Streitkräften. Seine laute, alles übertönende Stimme zeigt, dass er es gewohnt war, auch unter Feldbedingungen Predigten zu halten. Ähnlich den biblischen Propheten duldet er keine Widerrede. Argumente werden apodiktisch vorgebracht, Gegenargumente einfach überhört. Das Argument, dass Palästinenser das nur etwa zehn Kilometer entfernte Jerusalem mit Raketen beschiessen würden, wenn er und seine Kollegen nicht hier lebten, entbehrt zwar nicht einer gewissen Logik. Aber Palästinenser, die gegen eine Enteignung ihres Bodens an israelische Gerichte appellieren, der Gewalt zu bezichtigen und im Gegenzug handfesten Widerstand, mit dem Siedler für den Fall ihrer Entfernung aus umstrittenen Niederlassungen drohen, als legitime Verteidigung zu bezeichnen, ist abstrus.

Yona und Feld behaupten, dass sich jüdische Nationalisten höchstens zivilen Ungehorsam zuschulden kommen lassen würden. Zu den vielfach dokumentierten, auf Fotos und Filmen festgehaltenen Missetaten von Rowdys aus der Siedlerszene befragt, erklären sie mit tiefer Überzeugung, dass dies patriotische junge Leute seien, die höchstens ihr Eigentum verteidigten. Von angezündeten Feldern, Vandalenakten an Gebäuden, Schmierereien an muslimischen Einrichtungen wüssten sie nichts. Überhaupt würden viele der notorischen Zusammenstösse bei Olivenernten von Palästinensern selber provoziert. Und dass die israelischen Behörden jedes Mal, wenn junge Leute auf einem Hügel ein Klubhaus erstellen, dieses als illegalen Aussenposten bezeichneten, beweise bloss, wie sehr die Regierung die jüdische Bevölkerung in Cisjordanien dämonisieren wolle. Dies tue sie, um das Land auf etwaige Siedlungsräumungen vorzubereiten.

«Wir haben schon immer hier gelebt»

Die Siedlung Eli existiert ebenfalls seit einem Vierteljahrhundert. 650 religiöse und säkulare Familien wohnen auf dem pittoresken Hügel, von dessen Gipfel die Aussicht in alle Richtungen des biblischen Landes reicht. Hier, auf halbem Weg zwischen Ramallah und Nablus, herrscht gute Luft, und ein komfortables Einfamilienhaus mit Umschwung kostet so viel wie ein einziges Zimmer in Tel Aviv oder Jerusalem. Ganz zuoberst auf dem Hügel lebt Eliana Passentin, die 35-jährige stellvertretende Direktorin der Mittelschule des Ortes. Von ihrem Garten weist sie zu den umliegenden Tälern und Anhöhen und erläutert biblische Begebenheiten, die sich dort zutrugen, als ob sie gestern geschehen seien. Jedes Mal, wenn sie sich der religiösen Bedeutung des Erzählten bewusst wird, scheint sie zu erschauern. «Wir haben schon immer hier gelebt», sagt sie und meint damit ihre jüdischen Vorfahren seit Jahrtausenden.

Auf die Frage, ob sie denn keine Angst habe, in unmittelbarer Nähe von Menschen zu wohnen, die sie selber für unverbesserliche Terroristen hält, stellt sie die Gegenfrage: «Wo soll ich denn sonst hingehen? Die schlimmsten Terrorattentate fanden in Jerusalem und Tel Aviv statt, nicht in Eli.

Keine Kommentare: