Freitag, Januar 23, 2009

NZZ: Zurück zu den grundlegenden Prinzipien einer soliden Wirtschaft

21. Januar 2009, Neue Zürcher Zeitung
Themen und Thesen der Wissenschaft

Zurück zu den grundlegenden Prinzipien einer soliden Wirtschaft
Nüchterne Gegenvorschläge zur verbreiteten Sehnsucht nach der ewig weiterlaufenden Geldmaschine

Vor dem Hintergrund der Finanzkrise ist die Suche nach wirksamen und sinnvollen Gegenmassnahmen voll im Gang. Der Autor des folgenden Beitrags legt unter anderem dar, von welchen Untugenden man sich im Finanzsektor abwenden sollte, um zu einer stabileren Wirtschaft, mehr Innovation und höherer Produktivität zu gelangen. (Red.)

Von Didier Sornette


21. Januar 2009, Neue Zürcher Zeitung
Themen und Thesen der Wissenschaft
Zurück zu den grundlegenden Prinzipien einer soliden Wirtschaft
Nüchterne Gegenvorschläge zur verbreiteten Sehnsucht nach der ewig weiterlaufenden Geldmaschine

Vor dem Hintergrund der Finanzkrise ist die Suche nach wirksamen und sinnvollen Gegenmassnahmen voll im Gang. Der Autor des folgenden Beitrags legt unter anderem dar, von welchen Untugenden man sich im Finanzsektor abwenden sollte, um zu einer stabileren Wirtschaft, mehr Innovation und höherer Produktivität zu gelangen. (Red.)

Die Finanzkrise des Jahres 2008, die seinerzeit von einem klar lokalisierbaren Epizentrum im Markt für verbriefte Hypotheken am amerikanischen Immobilienmarkt ausgegangen ist, wächst sich zu einer weltweiten Rezession aus, die immer verheerender wird und angesichts der Ungewissheit über ihre Dauer riesige Verluste und grosse Schäden für Milliarden von Menschen bringt. In vielen Ländern haben Notenbanken massive Interventionen durchgezogen, zahlreiche Regierungen haben gewaltige Ausgabenprogramme lanciert, wobei die staatlichen Massnahmen in Amerika und Europa besonders umfangreich waren. All dies erweckt den Eindruck, als setze nun eine Art Gegenbewegung zu der während Jahrzehnten erlebten Expansion von Marktwirtschaft, Freihandel und kapitalistischen Spielregeln ein.

Ursprung und Natur der Krise

Die heutige Krise hat eine ziemlich lange Vorgeschichte. Im vorliegenden Artikel wird zunächst dargelegt, dass ihr Ursprung etwa ein Jahrzehnt zurückreicht und dass sie sich dann über mehrere aufeinanderfolgende Vermögensblasen aufbaute. Im zweiten Teil sollen einige Empfehlungen und Lösungsansätze dargelegt werden, die sich aus der Analyse ableiten lassen. Einer der wichtigsten Schauplätze ist der Markt für verbriefte Hypotheken. Ein mit Hypotheken besichertes Wertpapier (mortgage-backed security, MBS) entspricht im Prinzip einem Bündel von Eigenheim-Hypotheken, dessen Eigentümer bzw. Käufer daraus typischerweise periodisch wiederkehrende Zahlungsströme zugut hat. Diese Zahlungen stammen letztlich von den Zinszahlungen der Schuldner, die ihre Kredite zu bedienen haben.

Es ist klar, dass die unmittelbare Ursache für die Finanzkrise darin zu suchen ist, dass die Immobilienpreis-Blasen in den USA, in England und einigen andern Ländern platzten, dass dadurch Schuldner in Not gerieten, Kredite ausfielen und die damit besicherten MBS an Wert verloren. Der Zusammenbruch ist derart dramatisch, weil sowohl die Immobilienblase in den USA, die ihren Höhepunkt Mitte 2006 erreicht hatte, als auch die damit verbundene MBS-Blase riesig waren. Von einer MBS-Blase zu sprechen, ist durchaus gerechtfertigt, wenn man bedenkt, dass das Marktvolumen der emittierten Titel zwischen 2002 und 2007 explosionsartig wuchs. Aufgebläht wurde die Blase einerseits durch den Renditehunger der Investoren, anderseits eröffnete eine ganze Welle von Finanzinnovationen neue Möglichkeiten, die mit der Zeit die Illusion nährten, Gläubiger, vor allem Banken, könnten die mit den von ihnen gewährten Krediten verbundenen Ausfallrisiken einfach wegdiversifizieren.

Weitverbreiteter Irrtum

Im Grunde waren diese Erwartungen der Spiegel einer weitverbreiteten Fehleinschätzung der Wirklichkeit. Es wurde dabei nämlich ausser acht gelassen, dass in vernetzten Systemen, also bei relativ engen Beziehungen zwischen Unternehmen, mit vielfältigen Interdependenzen und Wechselwirkungen zu rechnen ist. Neuere Forschungen über selbstorganisierende Netzwerke zeigen eindeutig, dass die Verringerung von Vielfalt, mangelnde Redundanz, das Aufheben von trennenden Grenzen und engere Verknüpfungen genau die Rezepte sind, mit denen man Systeme ins Verderben laufen lassen kann.

Diese Gefahren treffen im Finanzsektor umso ausgeprägter zu, als da die mittelgrossen Risiken verringert worden sind. Dadurch wurde ein trügerisches Gefühl von Sicherheit erweckt, und das begünstigte das Aufkommen eines sehr gefährlichen kollektiven Glaubens, die Risiken seien verschwunden. Die «grosse Glättung» der Konjunkturschwankungen in den entwickelten Volkswirtschaften und die absurd niedrigen Risikoprämien an den Finanzmärkten im zurückliegenden Jahrzehnt passen in dieses Bild.

Dass der Abschwung in der laufenden Krise nun derart scharf ist, erklärt sich auch aus der schieren Grösse des Nominalwertes der MBS, die in den Portefeuilles von Banken, Versicherern und vielen andern Unternehmen liegen. Als die Immobilienblase an Luft zu verlieren begann, schoss die Zahl der Kreditausfälle in die Höhe, und die Halter von MBS begannen schwere Verluste zu spüren. In der Folge sahen sich viele Finanzinstitute plötzlich ungenügend mit Eigenkapital und Kapital ausgestattet, was zu Konkursen oder staatlichen Rettungsaktionen führte.

Im globalisierten und komplexen Netz interdependenter Banken, die typischerweise auf gegenseitiges Ausleihen von Geld ausgerichtet waren, sah plötzlich jeder mit Schrecken, dass die Branchenkollegen in der gleichen Lage waren. Alle suchten sich in Sicherheit zu flüchten, die Verluste auf den MBS-Portefeuilles wuchsen, und schliesslich kamen die Interbankenausleihungen praktisch zum Erliegen, da jede Bank fürchtete, die Gegenpartei könnte ausfallen. Gleichzeitig haben die Banken sodann ihre vormals lasche Praxis der Kreditvergabe durch ein lächerlich strenges Gebaren gegenüber kreditsuchenden Firmen und Haushalten ersetzt und damit der Wirtschaft fast den Sauerstoff bzw. die Liquiditätsversorgung entzogen.

Zentralbanken und Regierungen haben rasch interveniert, um etwas gegen dieses Umkippen in eine fast schon pathologische Risikoaversion bei den Banken zu unternehmen – vertrauend auf die «Theorie», dass die Krise zu meistern sei, wenn die Verluste auf MBS-Titeln gestoppt würden und dadurch das Vertrauen wiederhergestellt werde. Ein ganzes Arsenal von Massnahmen wurde herangezogen, um die Entwertung dieser heiklen Papiere in den Portefeuilles der Finanzinstitute aufzuhalten.
Werte, die eigentlich nie da waren

Ich bin der Meinung, dass diese Sichtweise auf einem grundlegenden Irrtum beruht, weil sie die zentrale Ursache für diese «Verluste» verkennt. Die Verluste widerspiegeln nämlich nicht einfach die Abschwungphase eines Konjunkturzyklus, nein, sie bringen eine simple Wahrheit zum Ausdruck, die für viele zu schmerzhaft ist, als dass sie sie ertragen könnten: Die früheren Gewinne waren gar nicht real, sondern stellten künstlich aufgeblasene Werte im Finanzsektor dar, ohne dass sie in der realen Wirtschaft irgendwie verankert oder durch Leistungen gerechtfertigt gewesen wären.

Mehr als ein Jahrzehnt lang haben sich Banken, Versicherer, Wall Street und Main Street dem Glauben hingegeben, sie seien reicher. Aber dieser Reichtum war nur das Resultat einer ganzen Serie von sich selbst erfüllenden Blasen: Noch in frischer Erinnerung ist etwa die Internetblase in den USA und in Europa (2002–2006), daneben gab es die Immobilienblase (2002–2006), die MBS-Blase (2002–2007), eine regelrechte Aktienblase (2003–2007) und eine Rohstoffblase (2004–2008). Jede Blase linderte einige Probleme aus der vorangegangenen Übertreibung oder bildete den Ausgangspunkt für die nächste Blase.




Ausbruch aus alten Bahnen und Verhaltensmustern und die Suche nach Stabilität NZZ Online 21.01.2009
Didier Sornett

Die unbequemen Konsequenzen der obigen einfachen, aber brutalen Wahrheit bestehen darin, dass alle Versuche, die Bewertungen aus der «Blasenperiode» irgendwie «oben» zu erhalten, auf den Versuch hinauslaufen, eine Art Geldmaschine ewig in Schwung zu halten. Ja es ist noch schlimmer: Man missbraucht so die knappen Mittel der Steuerzahler, bürdet ihnen langfristige Schulden und Verpflichtungen auf, und zwar in einem Ausmass, das in vielen Ländern bereits gefährlich hoch geworden ist.

Gewiss, Wunderwaffen gibt es keine, aber im Folgenden sollen doch einige Konzepte dargelegt werden, die als Grundlage für ein pragmatisches Vorgehen gegen die Krise dienen können.

1. Suche nach Liquidität.
Ein Problem, das unmittelbar anzugehen ist, besteht in der Blockade der Liquidität. Hauptschuldige sind die Banken, die bei der Kreditvergabe an Firmen und Haushalte neuerdings übertrieben rigide Regeln anwenden. Dieses Liquiditätsproblem birgt die Gefahr, dass es zu einer Rezessionsspirale katastrophalen Ausmasses führen könnte, zu einer Entwicklung, für die es fundamental keinen Grund gibt – ausser eben, dass sie sich ungewollt aus prozyklischen Wechselwirkungen zwischen Finanzsektor und Realwirtschaft ergibt, wo doch eigentlich nur im Finanzsektor Korrekturen fällig wären. In dieser Hinsicht sollten Zentralbanken und Regierungen Kreativität beweisen und sicherstellen, dass kleinere und mittlere Unternehmen jeden Monat Zugang zu genügend Liquidität haben, um ihre Produktion fortzuführen und die Belegschaften zu halten oder auszubauen.

Die Tragweite dieses Problems wurde bisher stark unterschätzt und ruft nach einer raschen und energischen Lösung. Neben den Kreditspielräumen für Banken, die ihrer Multiplikator-Rolle in der Wirtschaft gerecht werden, könnte man für eine beschränkte Zeitdauer auch zusätzlich spezielle staatliche Einrichtungen vorsehen, die den Auftrag haben, die Realwirtschaft mit Liquidität zu versorgen – und zwar direkt, unter Umgehung der knausrig-widerspenstigen Banken. Zu beachten ist, dass dieses Verfahren nicht zur Rettung schlecht geführter Unternehmen mit offensichtlichem Restrukturierungsbedarf herangezogen werden sollte. Krisen sind oft Gelegenheiten für Restrukturierungen, die zwar zunächst etwas kosten, in der Zukunft aber umso höhere Erträge bringen.

2. Rückkehr zu den Grundlagen von Wachstum und Innovation.
Notwendig sind des Weiteren langfristig angelegte Programme in grossem Massstab zur Stimulierung der Wirtschaft – möglicherweise im Umfang von einigen Prozenten des Bruttoinlandprodukts –, die je nach Entwicklung der Krise pragmatisch neu justiert werden müssen. Die Massnahmen sollten auf die grundlegenden Wachstumskräfte ausgerichtet werden, auf Infrastruktur, Bildung und Unternehmertum. Ziel muss es sein, das Produktivitätswachstum und die Schaffung realen Wohlstands zu fördern. Studien zeigen zum Beispiel, dass Investitionen in Maschinenausrüstungen ziemlich direkt einen anregenden Einfluss auf das Wirtschaftswachstum haben.

Ein wichtiger Ansatzpunkt ist auch die Bildung, und viele Erhebungen deuten darauf hin, dass Bildung und Ausbildung in den USA in den vergangenen Jahrzehnten schlechter geworden sind, in geringerem Ausmass gilt dies auch für Europa. Die heutige Krise bietet die Chance, sich darauf zurückzubesinnen, wie langfristig Wohlstand geschaffen werden kann.Diese Stimulierungsprogramme bieten auch die Chance, die Infrastruktur energieeffizienter und umweltschonender zu gestalten. Dadurch kämen neue Industriezweige wie Windenergie, Stromspeicherung, Atommüll-Aufarbeitung und -Verarbeitung und andere zu neuen Impulsen. Zieht man in Betracht, dass die Menschheit vor der Herausforderung steht, auf der begrenzten Erde ihre Existenz zu sichern, dann bietet die heutige Krise eine Gelegenheit, grundlegende Entscheide zu treffen, um die Entwicklung in Richtung Umweltverträglichkeit zu lenken.

3. Deflation in der Finanzsphäre.
Es ist unumgänglich, im Finanzsektor eine rapide Deflation durchzuführen bzw. Luft aus der Finanzsphäre abzulassen. Und mit Blick auf die fernere Zukunft wären Mechanismen zu entwerfen, die ein überschiessendes Wachstum des Finanzsektors verhindern und so Gewähr für eine höhere Stabilität bieten. Wenn der Finanzsektor gut funktioniert, erbringt er viele produktive Dienstleistungen wie etwa die effiziente Finanzierung von Firmen, Staaten und privaten Haushalten. Darüber hinaus fungiert der Finanzsektor als Aufbewahrungsort für Werte, die sich in der «realen Wirtschaft» spiegeln sollten. Das in jüngerer Zeit erlebte aussergewöhnliche Wachstum jener Vermögensteile dagegen, die primär mit der Finanzwelt zusammenhängen, war künstlich, ein Produkt aus Multiplikatoren, das einer virtuellen, fragilen Ausweitung von Vermögen entsprach. Typisch war etwa, dass die Marktbewertungen von Fonds in Blasenperioden viel höher waren als die Summe der Industrie-Anteile in ihren Portefeuilles.

Man kann durchaus objektive Messzahlen und Indikatoren entwickeln, um das Verhältnis zwischen dem allein aus der Finanzwelt heraus erzeugten Vermögen und dem Gesamtvermögen einer Wirtschaft zu ermitteln. Beobachtet man zum Beispiel, dass im Durchschnitt 40% der Einnahmen der grossen amerikanischen Firmen aus Finanzanlagen kommen, dann ist dies ein klarer Hinweis darauf, dass in der Wirtschaft Luftschlösser gebaut worden sind.Auch das Konzept der Inflation muss überdacht werden. Wenn beispielsweise die Häuserpreise steigen, dann bedeutet das nicht nur, dass die Hauseigentümer reicher sind als vorher. Es bedeutet auch, dass im privaten Haushalt mehr Geld nötig ist, um eine Einheit «Wohnen» zu kaufen, verglichen etwa mit den Preisen für Nahrungsmittel, Ferien oder Schulgeld. Aus dieser Sicht sind Immobilienpreise durchaus Teil der Inflation. Meiner Ansicht nach sollten deshalb Immobilien- und Aktienindizes in die Inflationsmessung einbezogen werden – natürlich unter angemessener Berücksichtigung des ganzen Nutzens, den man aus einer Liegenschaft ziehen kann. Auf diese Weise würde eine auf Inflationsziele ausgerichtete Geldpolitik fast auf natürliche Art und Weise eine gewisse Kontrolle über einige jener Typen von Vermögensblasen erlauben, die am Anfang der heutigen Krise standen. Man könnte in Richtlinien festlegen, welche Warnsignale Notenbanken und Regierungen zu beachten hätten, etwa nach folgendem Muster: Sollte das Verhältnis von finanziellem Vermögen zum Wert der Realwirtschaft eine bestimmte, vorher festgelegte Marke überschreiten, könnten Massnahmen eingeleitet werden, um die Relationen wieder zurechtzurücken.

Ein letzter Punkt zum Thema Grösse der Finanzsphäre: Ich bin ein glücklicher Professor, der an einer international renommierten technischen Hochschule ein laufend wachsendes Studentenpublikum auf dem Gebiet Financial Economics unterrichtet. Aber ich bin beunruhigt darüber, dass immer mehr Ingenieure aus Elektro- und Maschinentechnik, Bauwesen und andern Gebieten in die Finanzbranche wechseln, um da zu arbeiten. Ist da möglicherweise eine neue Bubble am Entstehen? Finance wird die vielen oben erwähnten Probleme nicht lösen. Es ist vielmehr so, dass Kreativität und Unternehmertum in der realen Wirtschaft und der realen Welt besser honoriert werden müssen.

4. Faire Spielregeln bei Interventionen.
Es ist durchaus angebracht, dass Zentralbanken und Regierungen auf den Plan treten, um Finanzinstitute zu stützen, dabei müssen aber faire Bedingungen eingehalten werden. Aktionäre und nachrangige Gläubiger sollen die Folgen der Verluste mittragen, es darf nicht sein, dass Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert werden. Fachleute des Finanzsektors haben diverse Mechanismen in dieser Richtung vorgeschlagen, die die Interessen der Steuerzahler auf lange Frist schützen.

5. Suche nach robusten Strukturen und international abgestimmten Regulierungen.
Die gegenwärtige Krise führt vor Augen, dass die Gesellschaft immer fragiler wird und dass sich dies noch beschleunigt. Ich glaube, wir erleben zurzeit so etwas wie einen Vorgeschmack auf viel gewaltigere und ernsthaftere Schocks, die in nicht allzu ferner Zukunft, vielleicht in ein, zwei Jahrzehnten, auf uns zukommen könnten. Umso mehr sollte heute die Gelegenheit genutzt werden, die Welt widerstandsfähiger, robuster zu machen. Die Rezepte sind bekannt: Vielfalt, Redundanz, gewisse klare Grenzen, Robustheit von Netzen bei destabilisierenden Effekten.

Dieser «Robustheits-orientierte» Ansatz lässt sich etwa am Beispiel von Warren Buffetts Investitionsphilosophie veranschaulichen, die auf «Erzielen annehmbarer langfristiger Resultate unter ausserordentlich widrigen Umständen» abzielt. Dies steht in starkem Kontrast zu den Praktiken im Finanzsektor, die auf Schätzungen von Wahrscheinlichkeiten zur Erfüllung von Verpflichtungen und kurzfristigen Gewinnen beruhen.

Dies erfordert grundsätzlich neue Ausrichtungen von Strukturen und Regulierungen. Die Aufgabe ist komplex, aber wenn man sie erkennt und formulieren kann, ist schon ein grosser Schritt getan, dem dann freilich ein energisches Vorgehen auf internationaler Ebene folgen sollte, ein umfangreiches Programm für multidisziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppen, die über genug Mittel und Befugnisse verfügen sollten. In einem ersten Schritt sollten führende Länder allerdings bei sich zu Hause beginnen und den Prozess dann auf die internationale Ebene heben.

6. Besseres Verständnis und Ausbildung im Zusammenhang mit Risiken.
Schliesslich sollte man, jenseits aller unmittelbaren Probleme, das grosse Bild nicht aus dem Blick verlieren. Es muss wiederholt werden, dass sich dieses Mal eine einmalige Gelegenheit für grundlegende Veränderungen und Verbesserungen bietet. Die heutige Krise sollte genutzt werden, um eine echte Risikokultur zu entwickeln, entsprechende Trainings sollten für Verantwortliche in Regierungen, Regulierungsinstanzen und Finanzinstitutionen eigentlich obligatorisch werden.

Tatsächlich lag ein bisher kaum diskutierter Grund für die Finanzkrise darin, dass etliche Top-Manager in Sachen Risiko und damit verbundenen Implikationen nicht gut genug ausgebildet waren. Es ist nun Zeit, dass eine Kultur zum Umgang mit Risiken für die breitere Öffentlichkeit zum Thema wird. Im 21. Jahrhundert sollte das «lineare Denken» allmählich einem grösseren Verständnis für Wechselwirkungen, Rückkoppelungen in komplexen Systemen weichen, denn mit solchen Systemen haben wir es zu tun, diese erzeugen Schocks, aber auch Chancen.

Der Autor
Gy. Didier Sornette ist seit 2006 ordentlicher Professor für Entrepreneurial Risks an der ETH Zürich. In dem in den letzten Jahren stark gewachsenen Departement Management, Technologie und Ökonomie ist er als Spezialist für Grossrisiken und extreme Gefahren tätig. Seine Forschungsinteressen gelten unter anderem der Analyse komplexer Systeme, dies mit Blick auf den Finanzsektor, Betriebswirtschaft, das Versicherungswesen oder auch im Zusammenhang mit medizinischen Gefahren, Erdbeben oder Erdrutschen. Sornette ist 1957 in Paris geboren, er hat an der Ecole Normale Supérieure Physik studiert, an der Universität Nizza doktoriert, am CNRS in leitender Funktion gearbeitet und nach einem anfänglichen Teilpensum an der UCLA 1999 eine Professur angetreten, die er 2006 in Richtung Zürich verliess.

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