Dienstag, Januar 27, 2009

NZZ: Herdentrieb und Panik statt Angebot und Nachfrage

NZZ Online
3. Dezember 2008, Neue Zürcher Zeitung
Herdentrieb und Panik statt Angebot und Nachfrage
Ökonophysiker modellieren die Finanzmärkte mit den Werkzeugen der statistischen Mechanik

Laut der klassischen Finanzmarkttheorie werden Börsenkurse durch Angebot und Nachfrage rationaler Investoren bestimmt. Ökonophysiker setzen auf einen anderen Ansatz zum Studium der Finanzmärkte. Sie betrachten die Marktteilnehmer als eine Gemeinschaft autonomer Agenten, die wie die Teilchen eines Gases miteinander agieren.

George Szpiro

NZZ Online
3. Dezember 2008, Neue Zürcher Zeitung
Herdentrieb und Panik statt Angebot und Nachfrage
Ökonophysiker modellieren die Finanzmärkte mit den Werkzeugen der statistischen Mechanik

Laut der klassischen Finanzmarkttheorie werden Börsenkurse durch Angebot und Nachfrage rationaler Investoren bestimmt. Ökonophysiker setzen auf einen anderen Ansatz zum Studium der Finanzmärkte. Sie betrachten die Marktteilnehmer als eine Gemeinschaft autonomer Agenten, die wie die Teilchen eines Gases miteinander agieren.

George Szpiro

Die Häufung der weltweiten Krisen in den Finanzmärkten gibt Wirtschaftswissenschaftern und Finanzmarkttheoretikern Rätsel auf. Denn laut ihren Modellen sollten ausserordentliche Ereignisse wie der Absturz der Börse 1987, das Platzen der Dotcom-Blase von 2000, der scharfe Anstieg des Ölpreises im vergangenen Sommer oder der jetzige Crash viel seltener auftreten, als es tatsächlich der Fall ist. Das Versagen der traditionellen Erklärungsansätze hat Wissenschafter aus anderen Fachgebieten dazu ermutigt, sich den Wirtschaftswissenschaften zuzuwenden. Dabei haben sich in den letzten Jahren vor allem Physiker hervorgetan. Unter dem Banner «Ökonophysik» versuchen sie, das Verhalten von Märkten – also ein sozialwissenschaftliches Phänomen – mit Methoden zu beschreiben, die der statistischen Mechanik entliehen sind.

Gasmoleküle und Investoren

Die ersten fachfremden Wissenschafter, die der Ökonomie unter die Arme griffen, waren Psychologen und Verhaltensforscher. Durch Befragungen und Laborexperimente eruierten sie, wie Menschen finanzielle Entscheidungen treffen. 2002 mündeten ihre Bemühungen in den Nobelpreis für Daniel Kahneman und Vernon Smith. Die neuesten Akteure auf der Bildfläche sind Neurowissenschafter, die mittels Magnetresonanztomographen untersuchen, welche Gehirnregionen und welche Emotionen bei Kauf und Verkauf eine Rolle spielen. Im Gegensatz dazu analysieren Physiker nicht die einzelnen Akteure und ihre Aktivitäten. Sie betrachten die Marktteilnehmer vielmehr als «Agenten», die wie die Teilchen eines Gases interagieren und so ein bestimmtes Marktverhalten hervorbringen. Die Analyse geschieht mit den Methoden der statistischen Mechanik, die ursprünglich entwickelt worden war, um makroskopische Eigenschaften von Gasen wie Druck oder Temperatur auf das mikroskopische Verhalten der Atome und Moleküle zurückzuführen.

Laut der herkömmlichen Finanzmarkttheorie sind Börsenkurse durch Angebot und Nachfrage der Investoren bestimmt. Diese tasten sich an die «richtigen» Preise der Wertpapiere heran, indem sie aufgrund wirtschaftlicher Fundamentalwerte rationale Entscheidungen zur Maximierung ihres Vermögens treffen. Zur mathematischen Lösung ihrer Probleme verwenden «rationale» Investoren die klassischen Methoden der Differenzialrechnung. Diese Anschauungsweise müsse jedoch überholt werden, meint Jean-Philippe Bouchaud, der an der Ecole Polytechnique Physik lehrt und gleichzeitig Forschungsdirektor der Investmentfirma Capital Fund Management in Paris ist. Die Theorie baue nämlich auf Konzepten wie der unsichtbaren Hand, dem rationalen Investor oder dem effizienten Markt auf. Von solchen zu Axiomen geronnenen Konzepten würden sich Ökonomen nur ungern trennen, auch wenn die empirische Erfahrung schon längst gegen sie spreche. Bouchaud meint zum Beispiel, dass die Vergötterung des freien Marktes zu einem Mangel an Regulierungen geführt und damit zur jüngsten Krise beigetragen habe.

Als weiteres Beispiel für obsolete ökonomische Ansätze weist der Volkswirtschafter Thomas Lux von der Christian-Albrechts-Universität in Kiel auf Verteilungsprobleme hin. In der klassischen ökonomischen Theorie dominiere der Begriff des repräsentativen Agenten, der sein Vermögen optimiere. Wenn aber alle Marktteilnehmer repräsentative Agenten seien, könnten keine Vermögens- oder Einkommensunterschiede entstehen. Andere Fachleute bringen vor, dass der perfekte Markt, laut dem der Preis eines Wertpapiers alle sachdienlichen Informationen widerspiegelt, nur in der Theorie existiere. Trotzdem halten Ökonomen an den überlieferten Konzepten fest. Dies sei es, wo die altehrwürdige Physik der relativ jungen Ökonomie viel beibringen könne, sagt der Physiker Bouchaud. In ihrer jahrhundertealten Geschichte seien Fehlschläge gang und gäbe gewesen. Im Gegensatz zu Wirtschaftswissenschaftern hätten Physiker daher gelernt, unbrauchbare Theorien zu verwerfen.

Eine Verteilung mit dicken Enden

Begonnen hatte die Symbiose zwischen Physik und Finanztheorie im Jahre 1900, als der französische Mathematiker Louis Bachelier in Paris eine Doktorarbeit präsentierte, in der er Börsenbewegungen mit eigens dafür entwickelten mathematischen Mitteln untersuchte – notabene fünf Jahre bevor Albert Einstein unabhängig von ihm dieselben Mittel neu erfand, um eine erratische Bewegung von winzigen Schwebeteilchen in einer ruhenden Flüssigkeit, die sogenannte Brownsche Bewegung, vorherzusagen.

Doch ein grosses Problem sollte die Beobachter von Finanzmärkten fortan plagen. Eine der Grundannahmen, die Bachelier und seine Nachfolger machten – dass Änderungen der Aktienkurse einer sogenannten Normalverteilung folgen –, ist nämlich in einem zentralen Punkt falsch. Laut dieser Annahme sollten sich die Kursänderungen gemäss einer Gaussschen Glockenkurve um einen Mittelwert scharen. Doch während kleine und mittelgrosse Preisfluktuationen im Allgemeinen dieser Normalverteilung folgen, treten extreme Ereignisse wie Börsencrashs oder plötzliche Preisanstiege viel häufiger auf, als es aufgrund der Glockenkurve zu erwarten wäre. Statistiker sagen daher, dass die tatsächliche Verteilung der Preisschwankungen im Vergleich zur Gaussschen Glockenkurve «dickere Enden» hat.

Physiker, angeführt von H. Eugene Stanley von der University of Boston, suchten daraufhin andere Verteilungen, die besser zur Beschreibung von Börsendaten geeignet sind. Dabei stiessen sie auf Skalengesetze und Potenzverteilungen, die Benoît Mandelbrot, der Begründer der Chaostheorie, verwendet hatte, um die Länge von Küstenlinien, die Oberfläche von Blumenkohl und eben auch Preisänderungen an Rohstoffmärkten zu beschreiben. Ökonophysiker wiesen darauf hin, dass viele Naturerscheinungen diesen Verteilungen folgen. Zum Beispiel fand Didier Sornette, der heute an der ETH Zürich forscht, heraus, dass die Statistik von plötzlichen Ausschlägen an den Finanzmärkten Ähnlichkeiten mit jener von Erdbeben und epileptischen Anfällen aufweist. Und der Däne Per Bak stellte Zusammenhänge zwischen Börsencrashs, dem Abgang von Sandlawinen und dem Auftreten von Verkehrsstaus her.

Nachdem festgestellt worden war, dass Potenzverteilungen die Börsenbewegungen gut beschreiben, musste ihre Verwendung theoretisch gerechtfertigt werden. Denn wie Stanley zugibt, machen statistische Beobachtungen bloss Angaben über die relative Häufigkeit extremer Erscheinungen, sagen aber nichts über die Gründe für deren Auftreten aus. Um also zu verstehen, wieso Börsenbewegungen und verschiedene Naturerscheinungen ähnliche Charakteristiken aufweisen, muss man herausfinden, was der Grund für das weitverbreitete Auftreten von Potenzverteilungen ist.

Laut Lux haben die physikalischen Phänomene und die Vorgänge an der Börse vor allem eines gemeinsam: Unzählige Elemente seien in Netzwerken miteinander verkoppelt. Und Phänomene mit vielfachen Interaktionen liessen sich fast immer gut mit Potenzverteilungen beschreiben. Dies könnten in der Seismik etwa kleine Risse sein, in denen sich Energie aufbaut und sich in Kaskaden bis zum Ausbruch eines Erdbebens fortpflanzt, meint Sornette, der früher in Kalifornien in der Erdbebenforschung aktiv war. Bei Epilepsie sei es das Zusammenspiel von miteinander über Synapsen verbundenen Neuronen.

Ökonophysiker übertrugen das auf die Finanzmärkte und folgerten, dass die korrekte Verteilung von Kursschwankungen nur erklärt werden könne, wenn man die Interaktionen zwischen vielen Investoren und die daraus resultierenden Verhaltensweisen berücksichtige. Sornette nennt Nachahmungs- und Herdentrieb, positive Rückkoppelung, Panikreaktionen und spontane Selbstorganisation. Nicht jedermann ist allerdings mit solchen Analogien einverstanden. Der Finanztheoretiker Bruce Mizrach von der Rutgers University in New Jersey meint, die Tatsache, dass verschiedene Phänomene ähnlichen Potenzverteilungen folgten, bedeute keineswegs, dass sie den gleichen Gesetzen gehorchten.

Durch solche Kritik lassen sich die Ökonophysiker allerdings nicht beirren. Mit Computermodellen versuchen sie herauszufinden, ob einfache Verhaltensregeln zwischen den Investoren (wie etwa «Kaufe die Aktie, wenn ihr Preis um fünf Prozent gefallen ist und der Kollege sie auch kauft») tatsächlich zum Platzen von Blasen und zu Börsencrashs führen können. Obwohl dies noch keinen Beweis darstellen würde, dass die Regeln tatsächlich gelten, wäre es zumindest ein Hinweis auf ihre Brauchbarkeit zur Erklärung des Marktverhaltens.

Zu den Forschern, die Finanzmärkte mit den Mitteln der statistischen Physik simulieren, gehört Blake LeBaron von der Brandeis University in Massachusetts. In seinen Computerprogrammen interagieren viele Agenten nach wenigen, möglichst einfachen Regeln. Manchmal treten dann kollektive Phänomene wie Panikreaktionen auf, die es in der «rationalen» Welt der klassischen Finanzmarkttheorie gar nicht geben sollte. So stellte sich bei den Simulationen heraus, dass Anlagestrategien, die in gewöhnlichen Zeiten nicht korreliert sind, in Krisenzeiten durch das «irrationale» Verhalten der interagierenden Investoren stark zu korrelieren beginnen. Der ursprüngliche Wunsch, das Klumpenrisiko zu vermindern, wird also in sein Gegenteil verkehrt: Mit zunehmender Volatilität werden Wertpapierbestände, die gut diversifiziert schienen, plötzlich Risiko-anfällig. Dies könnte einer der Gründe dafür sein, dass Crashs öfters auftreten, als man es aufgrund der Normalverteilung erwarten würde.

Ein Frühwarnsystem für Börsencrashs

Manche Ökonophysiker geben sich allerdings nicht damit zufrieden, mit ihren Modellen lediglich das statistische Verhalten der Märkte zu simulieren. Sie wollen einzelne Extremereignisse vorhersagen. Da physikalische Phänomene Gesetzmässigkeiten folgen, hofft Sornette, an dem von ihm gegründeten Financial Crisis Observatory der ETH Werkzeuge zum rechtzeitigen Erkennen zukünftiger Börsencrashs zu entwickeln. Dabei orientiert er sich zum Beispiel an dem sogenannten Omori-Gesetz aus der Geophysik, laut dem sich um ein Erdbeben typischerweise Vor- und Nachbeben entsprechend einer Potenzverteilung häufen. Solche charakteristischen Verhaltensmuster, die Sornette auch in den Finanzmärkten zu erkennen glaubt, sollen genutzt werden, um rechtzeitig vor drohenden Ereignissen zu warnen. Sornette ist vom Erfolg seiner Methoden so überzeugt, dass er demnächst eine nicht unbedeutende Summe seines eigenen Geldes in die Börse investieren will.

Keine Kommentare: