Freitag, Oktober 30, 2009

Mittwoch, Oktober 28, 2009

Blues and more: Harry Manx

http://en.wikipedia.org/wiki/Harry_Manx

Bring that thing


Sitting on top of the world


I'm on fire (original by Bruce Springsteen)

Montag, Oktober 26, 2009

Jugendgewalt: Eine Debatte verleumdet die Jugend

WOZ Die Wochenzeitung
WOZ vom 22.10.2009 - Ressort Schweiz

Jugendgewalt
Eine Debatte verleumdet die Jugend
Von Andreas Fagetti

Jede Schlägerei eine Schlagzeile. Aber wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend wirklich? Verbissen kämpfen PolitikerInnen, ExpertInnen und die Polizei um die Lufthoheit in dieser Frage. Ein Streifzug durch die Diskussion.

Als sich Schweizer Jugendliche Ende der sechziger Jahre in einem Ostschweizer Dorf an einer Schülerin vergingen, war das ein Fall für die Polizei und die Jus­tiz. In den Medien fand sich keine Zeile, kein O-Ton und schon gar kein Bild. Hinter vorgehaltener Hand mochte die Geschichte die Runde machen. Den stumpenrauchenden Honoratioren auf den Lokalredaktionen kam es aber kaum zu Ohren, ihre Neugier fokussierte sich auf das örtliche Establishment, zu dem sie selbst gehörten. Und sollte die Geschichte dennoch bis zu ihnen vorgedrungen sein, hielten sie sie womöglich nicht für berichtenswert. Ihr Nachrichtengeschäft galt der Gemeinde- und Parteipolitik, der Kirche, dem Vereinswesen und den Naturkatastrophen. Selbst eine Schiesserei im lokalen Bandenmilieu hinterliess keine medialen Schmauchspuren. Ganz zu schweigen von den biergetriebenen Wochenendschlägereien, die oft genug blutig und manchmal mit üblen Verletzungen endeten. Man rechnete sie anscheinend zu den Risiken, denen junge Männer ausgesetzt waren, und machte davon kein Aufheben.

Früher blieb nicht nur die Kirche im Dorf, sondern auch die verschwiegene Gewalt. Heute füttert die Polizei ein verästeltes Mediensystem noch mit dem belanglosesten Autounfall und erst recht mit jeder....


WOZ Die Wochenzeitung
WOZ vom 22.10.2009 - Ressort Schweiz

Jugendgewalt
Eine Debatte verleumdet die Jugend
Von Andreas Fagetti

Jede Schlägerei eine Schlagzeile. Aber wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend wirklich? Verbissen kämpfen PolitikerInnen, ExpertInnen und die Polizei um die Lufthoheit in dieser Frage. Ein Streifzug durch die Diskussion.

Als sich Schweizer Jugendliche Ende der sechziger Jahre in einem Ostschweizer Dorf an einer Schülerin vergingen, war das ein Fall für die Polizei und die Jus­tiz. In den Medien fand sich keine Zeile, kein O-Ton und schon gar kein Bild. Hinter vorgehaltener Hand mochte die Geschichte die Runde machen. Den stumpenrauchenden Honoratioren auf den Lokalredaktionen kam es aber kaum zu Ohren, ihre Neugier fokussierte sich auf das örtliche Establishment, zu dem sie selbst gehörten. Und sollte die Geschichte dennoch bis zu ihnen vorgedrungen sein, hielten sie sie womöglich nicht für berichtenswert. Ihr Nachrichtengeschäft galt der Gemeinde- und Parteipolitik, der Kirche, dem Vereinswesen und den Naturkatastrophen. Selbst eine Schiesserei im lokalen Bandenmilieu hinterliess keine medialen Schmauchspuren. Ganz zu schweigen von den biergetriebenen Wochenendschlägereien, die oft genug blutig und manchmal mit üblen Verletzungen endeten. Man rechnete sie anscheinend zu den Risiken, denen junge Männer ausgesetzt waren, und machte davon kein Aufheben.

Früher blieb nicht nur die Kirche im Dorf, sondern auch die verschwiegene Gewalt. Heute füttert die Polizei ein verästeltes Mediensystem noch mit dem belanglosesten Autounfall und erst recht mit jeder Schlägerei. Niemand vermag das Resultat der medialen Verwurstung vorauszusehen. Aber man kann Gift dar­auf nehmen, dass sich Geschichten über Jugendgewalt mit politischen Vorstössen und babylonisch anmutenden Talk­runden zu einer explosiven Mischung verbinden. Alle reden dann, aber kaum einer weiss genau, wovon er redet. Das ist gesichert. Alles andere ist unklar. Selbst unter ExpertInnen. Manche SoziologInnen behaupten, die sogenannte Jugendgewalt nehme zu, andere bestreiten es.

Kühlen Kopf bewahren in diesem Klima ausgerechnet die Polizeikorps der Schweiz. Im Bericht des Bundesamts für Polizei «Jugendliche Intensivtäter»  – einem Folgebericht der vom damaligen Bundesrat Christoph Blocher in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Jugendgewalt – kontrastieren die Einschätzung der Polizisten die «politisch-medialen Aufbauschungen». Etwa die Hälfte der PraktikerInnen glaubt, dass weder die Zahl der Banden noch jene der Intensivtäter deutlich zugenommen hat.

Allerdings glauben sie, dass Strassenjungs heutzutage brutaler und häufiger zuschlagen. Den Grund dafür sehen sie in Eltern, die ihren Kindern kaum Grenzen setzen, in fehlendem Respekt gegenüber Menschen und Sachen, in Drogenmissbrauch und in der «Machokultur» vor allem bei Jugendlichen aus der Balkanregion. Bloss eine Minderheit der Befragten glaubt, dass sich heute mehr jugendliche Gewalttäter auf den Strassen herumtreiben.

Die Jugend benimmt sich ordentlich

Wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend? Noch ist das offensichtlich eine Glaubensfrage, zumindest was die «Intensivtäter» angeht. Mindestens 500 machen die Schweizer Strassen unsicher. Sie begehen fünfzig Prozent aller Straftaten. «Intensivtäter» ist allerdings ein unscharfer Begriff, denn eine einheitliche Definition fehlt. Für eine halbwegs zutreffende Gesamteinschätzung mangelt es an brauchbarem statistischem Mate­rial. Die Forschungslücken sind erheblich.

Das monieren auch die Schweizer Polizeikorps. Sie wünschen sich vermehrt Hell- und Dunkelfeldforschungen. In der Kriminologie bezeichnet das Dunkelfeld die Differenz zwischen den registrierten Straftaten – dem sogenannten Hellfeld  – und den vermutlich begangenen Taten. Ausserdem vermissen die Ordnungshüter eine systematische Untersuchung über jugendliche Intensivtäter und Jugendbanden. Schliesslich lassen sich Verrohung, Brutalisierung, Gewalt um der Gewalt willen und Respektlosigkeit nicht quantifizieren. Wo es übrigens gelingt, Intensivtäter von der Strasse zu holen, beruhigt sich die Lage meist schlagartig. Jugendgewalt ist – so viel immerhin ist klar – mehr ein sozial und weniger ein kulturell bedingtes Phänomen: Gefährdet ist, wer in einer armen, bildungsfernen Familie und womöglich noch in einem sozialen Brennpunkt aufwächst.

Wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend? Für einmal bringt es eine Pauschalisierung auf den Punkt: Die Jugend benimmt sich ordentlich, selbst wenn die Dunkelziffer hoch sein mag. In der Schweiz leben etwa eine Million Kinder und Jugendliche zwischen sieben und siebzehn Jahren. Gerade mal 9556 wurden im Jahr 2006 verurteilt, davon 2370 wegen eines Gewaltdelikts. Achtzig Prozent delinquieren nach drei Jahren nicht mehr.

Gäbe es Forschungen und Statistiken, die einen Langzeitvergleich zuliessen, käme dabei womöglich heraus, dass die Jugend des Jahres 2009 angepasster ist und unter erheblich höherem Druck steht als jene Generationen, die ihr jetzt bedeuten, sie sei nicht ganz richtig. Noch kann man sich – je nach Verfasstheit – die Antworten also zurechtlegen. Angeln PolitikerInnen, ExpertInnen und Polizei nach richtigen Einschätzungen, fischen sie nach wie vor in trüben Gewässern. Das lässt politischen Einheizern viel Spielraum. Ein Politiker raunt mit Blick auf die Konkurrenz von rechtsaussen, natürlich «off the record»: Es würde ihn nicht wundern, wenn demnächst aus den Lautsprechern der Fremdenfeinde der Ruf nach der Todesstrafe erschallte.

«Im Knast hast du einen eigenen Fernseher»


Selbst wenn es sich mit der Jugendgewalt verhält wie mit dem Scheinriesen in «Jim Knopf und die Wilde 13», der in Wahrheit ja ein trauriger kleiner Mensch ist: Wer die Gewalttaten wegrechnen, wegerklären oder wegentschuldigen woll­te, wäre nicht ganz bei Trost. München, Locarno oder Winnenden schocken nicht bloss ängstliche ZeitgenossInnen. Auch weniger spektakuläre Vorfälle verunsichern – vermutlich jene am meisten, die weit weg von den sozialen Brennpunkten leben und nach acht Uhr abends das Haus nicht mehr verlassen.

Im Januar gingen 22 Jugendliche im sankt-gallischen Buchs und in Chur auf Beutezug. An zwei Wochenenden verübten sie fünfzig Straftaten. Sie agierten in unterschiedlichen Besetzungen, fast alle stammen sie aus Zuwandererfamilien vom Balkan, aber nicht alle sind das, was man als sozial benachteiligt zu bezeichnen pflegt. Sie verhielten sich wie die Bande, die im März wahllos Leute im Zentrum der Rheintaler Kleinstadt Altstätten niederschlug und ausraubte, spätabends und nachts. Auch sie mehrheitlich junge Leute aus Migrantenfamilien. Im Tal, in dem die SVP nahezu vierzig Prozent der WählerInnen hinter sich schart, war der Teufel los. Sechs Raubüberfälle oder womöglich noch mehr an zwei Wochenenden. Die Überfälle folgten demselben Muster: Die jungen Männer suchten sich ihre Opfer wahllos aus, auch deutlich ältere Personen als sie selbst, schlugen wortlos zu, dann erst holten sie sich Handy, Brieftasche oder was auch immer. Geld war eine schöne Nebensache. Einem Opfer sprang ein junger Mann von hinten mit Wucht in den Rücken. Die Opfer, von denen nicht alle Anzeige erstatteten, hatten Glück im Unglück, bleibende Schäden trug keines davon. Monate später informierte die Polizei: Sie habe elf junge Männer im Alter von sechzehn bis neunzehn dingfest gemacht.

Sie hatten die unbewaffneten Raub­überfälle in unterschiedlicher Besetzung begangen. Manche haben eine Strafakte, dick wie Arnies Oberschenkel, andere sind Mitläufer aus intaktem Elternhaus. Die Motive der jungen Männer bezeichnet der zuständige Jugendanwalt Reto Walther als «undurchsichtig». Die Überfälle gingen ihnen leicht von der Hand, und so machten sich die jungen Männer wohl einen Sport daraus.

Jugendgewalt bezeichnet Walther als «politisch hochgekochtes» Thema. Dass seine Klientel Migrantenfamilien entstammt, ist für ihn nicht wirklich von Belang: «Ich achte nicht auf den Pass, sondern auf das, was sinnvollerweise anliegt.» Das Jugendstrafrecht fokussiert nämlich die Entwicklung und Potenziale des Jugendlichen – manchmal reicht eine Familienbegleitung, manchmal ist eine Heimplatzierung unumgänglich. Die Palette der Massnahmen ist breit. Solange sich der jugendliche Straftäter gut entwickelt, ist seine Strafe ausgesetzt.

Könnten sie wählen, würden manche jungen Männer einen Gefängnisaufenthalt einer Massnahme vorziehen. Einer bestätigt es: «Ich wollte meine Ruhe, im Knast hast du einen eigenen Fernseher.» Er ist ein ehemaliger Gewalttäter, den keine Schule mehr wollte. Im Jugendheim Platanenhof im sankt-gallischen Oberuzwil haben ihn die Erzieher auf einen guten Weg gebracht. Inzwischen lebt er in der offenen Wohngruppe und absolviert eine Anlehre. Jetzt ist nicht nur der Oberkörper des Jünglings gestählt, jetzt schmiedet er Zukunftspläne.

Im Gefängnis hätte er die Strafe unbehelligt von lästigen Forderungen absitzen können. Im Heim konfrontierten ihn die Erzieher mit seinen Taten. Unabhängig vom Strafmass oder den Wünschen der Eltern kann die Jugendanwaltschaft über einen Straftäter bis zu seinem 22. Ge­burtstag bestimmen. Im alten Jugendstrafrecht lag diese Limite höher, bei 25.

Reto Walther kritisiert die Herabsetzung der Alterslimite. Gerade wer nach mehr Härte schreit und sich über die angebliche «Kuscheljustiz» enerviert, sollte nicht längere Gefängnisaufenthalte fordern, die in der Regel kürzer ausfallen als die Maximalmassnahme. Denn wer seine Strafe abgesessen hat, wird in der Regel ohne Auflagen in die Freiheit entlassen. Jugendanwaltschaften aber können unabhängig von der Höhe der Strafe die Massnahmen bis zur Alterslimite ausreizen, sollte ein junger Straftäter nicht kooperieren. Das erzeugt Druck und wirkt erst noch besser auf die jungen Menschen. Am Schluss entlässt man nicht gut ausgebildete Kriminelle in die Freiheit, sondern Berufsleute mit Perspektive. Womöglich wird die Alterslimite schon bald wieder heraufgesetzt: Die Zürcher Nationalrätin Chantal Galladé (SP) verlangt es in einer Motion.

Bei Migranten ist die Verurteilungsrate fünfmal höher

Mit der scheinbar dramatisch ansteigenden Jugendgewalt korrespondiert der Ruf nach mehr Repression. Einig sind sich fast alle darin, dass die Täter heutzutage brutaler vorgehen. Ob die Delikte und die Zahl der Gewalttäter insgesamt zugenommen haben, ist umstritten.

Der an der Universität Zürich lehrende Kriminologe und Soziologe Martin Killias spricht von einer Zunahme. Sein Institut hat in mehreren Kantonen Jugendliche über ihre Gewalterfahrungen befragt, zuletzt im Kanton St. Gallen. 5200 OberstufenschülerInnen der neunten Klasse beantworteten online einen Fragenkatalog. Selbst berichtete Delinquenz nennt sich das. Beispiel: «Hast Du schon einmal jemanden geschlagen oder verprügelt (mit den Fäusten, mit einer Waffe, mit Fusstritten etc.), sodass er/sie ernsthaft verletzt wurde (blutende Wunde, blaues Auge etc.)?» Kreuzt ein Schüler diese Frage mit Ja an, weiss niemand, was genau er getan hat und wie schlimm der Vorfall tatsächlich war. Das öffnet einen grossen Interpretationsspielraum.

Ein Viertel der befragten Schüler­Innen berichtet über Gewalterfahrungen. Und die Studie bestätigt, was bereits andere Studien herausgefunden haben und was sich auch aus den Kriminalitätsstatis­tiken ableiten lässt: Jugendliche aus Migrantenfamilien sind häufiger gewalttätig. Ein Befund der St. Galler Studie liess aber besonders aufhorchen: Migrantenkinder der zweiten Generation sind demnach genauso oft in Gewalttaten verstrickt wie die der ersten Generation.

Nachdem die Studie im August der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, kritisierten Fachleute die ihr zugrunde liegende Methode beziehungsweise die Schlüsse, die man aus den Daten zog. Einer der KritikerInnen äusserte sich in einem Interview mit der Hauszeitung der Universität St. Gallen. Der HSG-Soziologieprofessor Franz Schultheis kritisierte, die Art der Befragung lasse bei der Interpretation der «seriös erhobenen Daten» einen grossen Spielraum, sofern man nicht die genauen Hintergründe ausleuchte. «Wenn solche Daten auf eine sensibilisierte Öffentlichkeit treffen, werden Aussagen produziert, die nicht kontrollierbar sind.» Der Soziologe knöpfte sich auch die Medien vor. Sie inszenierten spektakuläre Einzelfälle und zeichneten so ein Zerrbild. Das Phänomen der Jugendgewalt sei teilweise ein Konstrukt, an dem Medien, die Statis­tiken, die Polizei und die Wissenschaft mitbauten.

Schultheis’ Interpretation des hohen Migrantenanteils in den Kriminalitäts- und Urteilsstatistiken läuft dem politischen Mainstream zuwider: Migrantenkinder werden bei gleichen Straftaten durchgehend häufiger verurteilt als einheimische, bei Gewaltdelikten ist die Verurteilungsrate bei den MigrantInnen über fünfmal höher.

Schultheis stützt sich dabei auf die Untersuchung «Kindheit und Jugend in der Schweiz». Die hohen Verurteilungsquoten sind demnach auf Faktoren zurückzuführen, die Schweizer genauso gewalttätig werden lassen  – die ethnische Herkunft als Faktor gilt hier als «eigentlich irrelevant». Ins Gewicht fallen vielmehr Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau oder das soziale Umfeld.

Mit diesen Befunden stehen die Schweizer ForscherInnen nicht allein da. So bestätigen etwa die Arbeiten des Soziologen Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut diese Befunde. Insgesamt habe die Gewalt sogar abgenommen. Gewaltvorfälle mit tödlichem Ausgang wie in München seien Einzelfälle, auch wenn die Menschen es wegen des starken medialen Rauschens anders wahrnehmen.

Schultheis’ unbeabsichtigter Stich ins politische Wespennest schmerzte allerdings erst richtig, als das «St. Galler Tagblatt» das HSG-interne Interview nachdruckte. Die St. Galler Regierungsrätin und Justizchefin Karin Keller-Sutter (FDP) – zusammen mit Erziehungschef Stefan Kölliker (SVP) Aufraggeberin der Killias-Studie – konterte in Windeseile in der nächsten Ausgabe. Die Magistratin warf dem Soziologen ideologische Verblendung vor und verteidigte die Killias-Studie und ihre Sicht auf die Jugendgewalt. Die Freisinnige aus einem CVP-Elternhaus, die als Nachfolgerin von Bundesrat Hans-Rudolf Merz gehandelt wird, gab ihrer Interpretation der Wirklichkeit den Anstrich der Objektivität: Die Schweiz sei kein Ausnahmefall mehr, die Jugendgewalt habe statistisch belegbar zugenommen und sich dem Niveau des europäischen Umfelds angepasst – was nicht nur Schultheis ganz anders einschätzt. Und man könne nun mal nicht die Augen davor verschliessen, dass Migrantenkinder, statistisch gesehen, überdurchschnittlich gewalttätig würden. Das allein mit Schichtzugehörigkeit zu begründen, greife zu kurz. Die Bekämpfung der Jugendgewalt müsse sich analog zum Drogenmissbrauch auf mehrere Säulen stützen. Und die Magis­tratin führte eines ihrer Lieblingsargumente an: die 24-Stunden-Gesellschaft und die enorme Mobilität. Man kann das beklagen. Dass ihre Partei aber an vorderster Front für möglichst schrankenlose Öffnungszeiten erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, lässt sie jeweils unerwähnt.

Gibt man heute den Suchbegriff «Franz Schultheis» im Online-Archiv des freisinnig navigierten «St. Galler Tagblatts» ein, erscheint zwar die Stellungnahme der Regierungsrätin und der sie stützende Kommentar des Chefredaktors, nicht aber das Schultheis-Interview.

Das mag Zufall sein oder auch nicht: Symbolisch jedenfalls steht dieses digitale Verschwinden für den verbissenen Kampf um die politisch-thematische Lufthoheit. Der Scheuklappenvorwurf lässt sich übrigens leicht gegen die bürgerliche Fraktion wenden: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

«Wir müssen über Missstände und Wertmassstäbe reden»

Manche leben ständig in Bodennähe in und mit den sozialen Realitäten, über die andere bloss gescheit reden. Stefan Ambühl, 52, ist kein einflussreicher Politiker und auch kein hoher Funktionär. Aber sein handfester Einsatz für die Jugend macht ihn zu einem glaubwürdigen Gesprächspartner. Früher war Ambühl Verkaufsleiter bei der Swisscom. Heute leitet er das Asylzentrum in Appenzell. Der Sozialdemokrat und alte Gewerkschafter ist mit einer Algerierin verheiratet. Vor dreissig Jahren gründete er das Jugendforum im ausserrhodischen Dörfchen Stein, wo er aufgewachsen ist. Und später, als der Jugendtreff wiederbelebt werden musste, liess er sich vom Gemeinderat breitschlagen und hilft nun wieder mit. Ausserdem ist er Beistand von vier jungen Männern. Allerdings will, kann und darf er nicht offen über seine Schützlinge reden und muss sich ins Allgemeine flüchten. Aus seinen Erfahrungen und Beobachtungen destilliert er Einsichten, die sich zum Teil mit den Befunden von Soziologen wie Franz Schultheis, aber auch mit jenen von PolitikerInnen wie Karin Keller-Sutter decken. Stefan Ambühl kennt die Lebenswelten von sozial unauffälligen Jugendlichen, von AusländerInnen und von schwierigen Jugendlichen aus nächster Nähe.

Ambühl sieht hinter die Fassaden von Familien, in denen die Mutter die Verkehrssprache Deutsch nicht beherrscht und daher in der für sie fremden Umwelt nicht nur mit den Kindern überfordert ist. Dann kippen innerfamiliäre Machtverhältnisse. Dank ihrer Sprachbeherrschung sind die Kinder der Mutter überlegen. Der Vater, müde von der schweren Arbeit, findet am Abend nicht die Kraft oder den Willen, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Diese Kinder landen auf der Verliererseite, ehe sie eingeschult werden. «Die spüren das, und es frustriert sie.»

Ambühl trifft auf prekäre Wohnverhältnisse. Alkohol, Gewalt und Scheidungen spielen oft mit. Aber nicht alles, was Ambühl sieht, animiert seinen Helfertrieb. Die schlechte Stellung der Frauen in manchen muslimischen Familien und die Verhätschelung ihrer Söh­­ne  – daran stösst er sich. Er will diese Dinge offen beim Namen nennen. «Über Missstände und die Wertmassstäbe unserer Gesellschaft müssen wir reden, wer hier leben will, soll sich an unsere Regeln halten. Wer keine Einsicht zeigt, den muss man ohne falsche Rücksichtnahme sanktionieren.»

Im Gespräch mit seinen Schützlingen fühlt sich Ambühl mitunter ohnmächtig. «Sie versprechen zwar, dass sie sich bessern, und entschuldigen sich für ihr Verhalten. Aber im Grunde wissen die Jugendlichen doch, dass ihnen keine wirklich harten Sanktionen drohen, wenn sie nicht spuren. Dabei geben wir ihnen echte Chancen.» Maulfaul seien manche und wirkten gleichgültig. Handkehrum klagt Stefan Ambühl die masslose Individualisierung an, geisselt die schlechten Vorbilder in Politik und Wirtschaft und deren Geldgetriebenheit, er fordert mehr Solidarität ein. Nicht weniger, sondern mehr Staat.

Mit Repressions-verherrlichung kommt man nicht weit


Dafür plädiert auch der Soziologe Martin Hafen. In einem aktuellen Aufsatz kritisiert der Dozent an der Hochschule Luzern den Ruf nach einfachen Lösungen. Mit «Grenzen setzen» und «hart bestrafen» komme man nicht weit. Die Polemik gegen «Kuscheljustiz» und «Kuschelpädagogik» führe zu nichts. Als «Repressionsverherrlichung» geisselt er das. Komplexe Probleme erforderten komplexe Lösungen. Zwar räumt Hafen der Erziehung eine bedeutende Rolle ein. Aber die Politik müsse sich um die Familien kümmern, in denen benachteiligte Jugendliche aufwachsen.

Einen Lösungsansatz sieht er in früh ansetzenden Förder- und Begleitprogrammen. Solche Programme zahlen sich aus. Das belegt eine Langzeituntersuchung in den USA, die eine Gruppe von geförderten Kindern mit einer Gruppe sich selbst überlassener Kinder vergleicht. Die öffentliche Hand hat hier mit jedem eingesetzten Dollar 16 Dollar gespart. Das Programm kos­tete pro Kind 15 000 Dollar, was einer Einsparung von 245 000 Dollar pro Kind entspricht. Ein Fazit Hafens: Prävention kann sich nicht auf Abschreckung, Sensibilisierung oder die kompromisslose Durchsetzung von Gesetzen und Regeln beschränken. Jugendgewalt ist demnach nicht primär ein Problem einer Jugend, die ihre Grenzen nicht kennt. Hafen sieht das Problem vielmehr bei der Politik, die Familien generell und besonders arme Familien weitgehend sich selber überlasse und den Kindern und Jugendlichen zu wenig Gestaltungsfreiheit im öffentlichen Raum zugestehe.

Jugendgewalt geht aber nicht bloss die Politik an: «Sie ist auch ein Problem der Gemeinschaft, die sich aus der Erziehung künftiger Generationen weitgehend zurückzieht und sich aufs Reklamieren beschränkt.»

Was die Statistik sagt

Die Anzeige- und Urteilsstatistiken erlauben aufgrund der bislang nicht abschätzbaren Dunkelziffer keinen genauen Aufschluss über das Ausmass der sogenannten Jugendgewalt. Umstritten ist auch, ob ein verändertes Anzeigeverhalten die Statistiken beeinflusst. Nimmt man diese zum Nennwert, legen sie allerdings nahe, dass die Gewaltbereitschaft Jugendlicher in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist: Gemäss Kriminalstatistik hat die Zahl minderjähriger GewalttäterInnen von 1999 bis 2006 markant zugenommen (Körperverletzung: Zunahme von 760 auf 1525; Drohung: Zunahme von 405 auf 869). Die Anzahl der Jugendstrafurteile wegen Gewaltdelikten hat sich im gleichen Zeitraum von 1241 auf 2268 Verurteilungen beinahe verdoppelt.

Sonntag, Oktober 25, 2009

Mountains - Berge

Samstag, Oktober 24, 2009

Rudolf Strahm - Tages Anzeiger : Warum wir die teuersten Pommes Frites in Europa haben

Tages Anzeiger Online
Warum wir die teuersten Pommes Frites in Europa haben
Von Rudolf Strahm.

Wer ist Fenaco? Das weiss fast niemand. Dabei handelt es sich bei dem Agro-Konzern um eine Macht, welche den Schweizer Landwirtschaftsmarkt fest im Griff hat. Ganz zum Schaden der Konsumenten.

Wenn man die Leute auf der Strasse fragt, was «Fenaco» heisse, weiss fast niemand etwas über diesen Namen. Da wird gerätselt von Damenbikini bis Papageienart. Dabei ist die Fenaco einer der dominierendsten und politisierendsten Konglomeratskonzerne der Schweiz. Sie hat die stets bedauerte Branche, nämlich die Landwirtschaft, voll im Griff. Im Hintergrund zieht sie die politischen Fäden, wenns....


Tages Anzeiger Online
Warum wir die teuersten Pommes Frites in Europa haben
Von Rudolf Strahm.

Wer ist Fenaco? Das weiss fast niemand. Dabei handelt es sich bei dem Agro-Konzern um eine Macht, welche den Schweizer Landwirtschaftsmarkt fest im Griff hat. Ganz zum Schaden der Konsumenten.

Wenn man die Leute auf der Strasse fragt, was «Fenaco» heisse, weiss fast niemand etwas über diesen Namen. Da wird gerätselt von Damenbikini bis Papageienart. Dabei ist die Fenaco einer der dominierendsten und politisierendsten Konglomeratskonzerne der Schweiz. Sie hat die stets bedauerte Branche, nämlich die Landwirtschaft, voll im Griff. Im Hintergrund zieht sie die politischen Fäden, wenns um Marktabschottung, Hochpreispolitik und Verhinderung der Marktöffnung geht. Darum drängt sich ein wenig Aufklärung über das Agrobusiness auf.

Beim Publikum am ehesten bekanntest sind die Fenaco-Töchter im Detailhandel: Landi, Volg, die Weinfirma Divino und die Agrola-Tankstellen. Es gehören noch weitere 27 Firmen zum mächtigen Mischkonzern, der letztes Jahr fast sechs Milliarden Franken Umsatz erzielt hat. Fenaco umfasst heute neun Agrarhandelsfirmen für Zulieferungen an die Landwirtschaft, unter anderem solche für Landtechnik, die grössten Futtermühlen des Landes und den Anlagebau, im Weiteren acht Firmen für den Grosshandel mit einzelnen Agrarprodukten, vier Detailhandelsfirmen, zwei Brenn- und Treibstofflieferanten und fünf weitere Firmen, darunter eine eigene Werbeagentur.

Das Firmenkonglomerat hat mit seinen Tentakeln nach und nach die der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Branchen in Besitz genommen und einverleibt. Der einzelne Landwirt hat in diesem geschlossenen Markt ohne grosse Einbussen keine Ausweichmöglichkeit. Er ist auf Gedeih und Verderb gefangener Kunde und Lieferant dieses Agro-Konzerns.

Dominante Abnehmerin der Bauern


Der Chef der Fenaco sagt zwar bescheiden, er hätte «vierzigtausend Chefs», und meint damit die Landwirte, die über die Landi-Genossenschaften indirekt in die Trägerschaft des Konglomeratskonzerns eingebunden sind. Wenn man allerdings die Marktanteile aufgrund einer Weko-Untersuchung anschaut, dann sieht man die wahre Marktbeherrschung: Bei den Zulieferungen an die Landwirtschaft beherrscht die Fenaco zum Beispiel 50 bis 60 Prozent der Saatkartoffellieferungen, 70 bis 80 Prozent des Düngergrosshandels, 50 bis 60 Prozent der Pflanzenschutzmittel.

Wenn Verkäufer von Agrochemikalien, etwa von Syngenta oder Bayer, im Winter zur Bestellungsaufnahme die Bauern besuchen, werden die Pflanzenschutzmittel nicht etwa direkt auf die günstigste Art an den Hof geliefert, sondern der Landwirt muss diese bei der örtlichen Landi abholen gehen. Auch das verhilft dem Konzern zur marktbeherrschenden Stellung.

Auch im nachgelagerten Bereich ist die Fenaco zur dominanten Abnehmerin der Bauern geworden: 50 Prozent Marktanteil bei Speisekartoffeln und beim Getreide, 65 Prozent bei den Ölsaaten, ein Drittel bei Obst und Gemüse und ein Viertel aller Schweine. Wer an den Fenaco-Konzern beziehungsweise die Landi liefern will, muss in der Regel die benötigten Zulieferungen und Hilfsmittel auch dort beziehen. Man spricht im landwirtschaftlichen Jargon von «Gegengeschäften». Die Bezugspflicht ist, weil Knebelverträge das Kartellrecht verletzen, nirgends schriftlich festgehalten, aber «man kennt sich im Dorf», «man erwartet diese Solidarität», wie es auch heute noch in bäuerlichen Kreisen hinter vorgehaltener Hand heisst. Wer bei einem Aussenseiter und Parallelimporteur Hilfsstoffe günstiger bezogen hat, weist bald den Makel eines Dorfaussenseiters auf.

Die Weko schaut einfach zu


Dieser Kaufhunger der Fenaco nach andern Firmen ist, das sei nebenbei bemerkt, von der durchsetzungsschwachen Weko nicht gebremst worden. In einem unverständlichen Verfahren hat sie der Fenaco sogar erlaubt, mit der Übernahme des grossen Kartoffelspezialisten Steffen-Ris ein in der Schweiz absolut dominierendes Kartoffelkönigreich mit Saat- und Speisekartoffeln, aber auch mit Pommes frites für die Gastwirtschaft zu werden.

Nicht verwunderlich, dass unsere Gastronomie und die Konsumenten die teuersten Kartoffeln und Pommes frites Europas beziehen, obschon der Schweizer Bauer für seine Kartoffelernte nur gerade 40 Rappen pro Kilo oder weniger erhält. Das Agrobusiness profitiert dank der heutigen Zollstruktur im Windschatten des bäuerlichen Schutzes. Obschon sich die Fenaco bauernfreundlich und protektionistisch gibt, ist sie in aller Stille eine der grössten Importeure von Wein, aber auch von Fleischwaren geworden. In den Landi-Läden kosten Shiraz-Weine, Cabernet, Chardonnay und Merlot weniger als fünf Franken die Flasche. Und woher stammen sie? Aus Argentinien, Chile, Australien und Südafrika!

Diese Doppelbödigkeit setzt sie auch im politischen Verhalten fort. Die Fenaco ist nämlich treibende und finanzierende Kraft gegen jede Marktöffnung im Agrarbereich, gegen jeden Agrarfreihandel mit den EU-Staaten oder im Rahmen der WTO. Wenn es dereinst zu einer Agrarmarktöffnung mit der EU kommt, würde nicht nur der Import von EU-Agrarerzeugnissen erleichtert, sondern auch jener von landwirtschaftlichen Zulieferprodukten. Die Fenaco hätte somit neue Konkurrenz von ausländischen Lieferanten in Kauf zu nehmen. Heute kann sie dank Protektionismus die Landwirte im Vergleich zum benachbarten Ausland viel teurer mit Hilfsstoffen, Dünger und Saatgut beliefern.

Einflussreicher Verwaltungsrat


Im Verwaltungsrat der Fenaco finden wir eine Reihe von aktiven SVP-Politikern: Nationalrat Caspar Baader, Präsident der SVP-Fraktion, oder Nationalrat Guy Parmelin von der SVP Waadt. Sie gebärden sich besonders aggressiv protektionistisch. Auch Ueli Maurer war als Nationalrat jahrelang im Fenaco-Leitungsgremium.

Wir haben es mit einer neuartigen politökonomischen Achse der Protektionisten zu tun. Sie reicht politisch von der SVP bis zu den Grünen, die sich zunehmend isolationistisch gebärden. Und im Hintergrund orchestriert der reiche Fenaco-Konzern mit seinen handfesten Interessen die Marktabschottungspolitik.

Noch diese Woche will diese unheilige Allianz der Protektionisten eine neue politische Kampagnen-Organisation ins Leben rufen, welche die Marktöffnung bekämpfen soll. Zum Schaden der Konsumenten, der Gastronomie und der innovativen Bauern.

Rudolf Strahm war vier Jahre lang Preisüberwacher. www.rudolfstrahm.ch (Tages-Anzeiger)

Freitag, Oktober 23, 2009

Stepen Fry and Hugh Laurie : My Dear Boy!

just talking on two planes....
:-)

Donnerstag, Oktober 22, 2009

TA: Heilung unerwünscht - Neurodermitis

Tages Anzeiger Online
Wirtschaft

Heilung unerwünscht

Studenten entdecken ein Medikament gegen Neurodermitis – doch die Pharmakonzerne haben kein Interesse daran, die günstige Tinktur zu produzieren. Die verstörende Geschichte aus dem Pharma-Business wühlt Deutschland auf.


Alleine in Deutschland leiden acht Millionen Menschen an den Hautkrankheiten Neurodermitis und Schuppenflechte, in der Schweiz wird die Anzahl Betroffener auf etwa 300'000 geschätzt. Zwar gibt es Medikamente, die den Juckreiz lindern, doch haben diese oft starke Nebenwirkungen – und zu einer Heilung führen sie schon gar nicht. Dabei gäbe es schon seit 20 Jahren ein günstiges Mittel, das die Schmerzen der Patienten sofort und nachhaltig lindern könnte: Der Dokumentarfilm «Heilung unerwünscht – Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern», der gestern auf ARD gezeigt wurde, erzählt die Leidensgeschichte der beiden deutschen Studenten Karsten Klingelhöller und Thomas Hein, die ein potentes Mittel gegen Neurodermitis und Schuppenflechte entdeckt haben.

Ende der 80er-Jahre proben Klingelhöller und Hein in ihrer Wuppertaler Wohnung an einem Mittel gegen diese Hautkrankheiten, um der Freundin...


Tages Anzeiger Online
Wirtschaft

Heilung unerwünscht

Studenten entdecken ein Medikament gegen Neurodermitis – doch die Pharmakonzerne haben kein Interesse daran, die günstige Tinktur zu produzieren. Die verstörende Geschichte aus dem Pharma-Business wühlt Deutschland auf.


Alleine in Deutschland leiden acht Millionen Menschen an den Hautkrankheiten Neurodermitis und Schuppenflechte, in der Schweiz wird die Anzahl Betroffener auf etwa 300'000 geschätzt. Zwar gibt es Medikamente, die den Juckreiz lindern, doch haben diese oft starke Nebenwirkungen – und zu einer Heilung führen sie schon gar nicht. Dabei gäbe es schon seit 20 Jahren ein günstiges Mittel, das die Schmerzen der Patienten sofort und nachhaltig lindern könnte: Der Dokumentarfilm «Heilung unerwünscht – Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern», der gestern auf ARD gezeigt wurde, erzählt die Leidensgeschichte der beiden deutschen Studenten Karsten Klingelhöller und Thomas Hein, die ein potentes Mittel gegen Neurodermitis und Schuppenflechte entdeckt haben.

Ende der 80er-Jahre proben Klingelhöller und Hein in ihrer Wuppertaler Wohnung an einem Mittel gegen diese Hautkrankheiten, um der Freundin Klingelhöllers, die an Schuppenflechte leidet, Linderung zu verschaffen. Sie mischen Vitamin B12 mit Avocadoöl, woraus eine rosafarbene Creme entsteht. Die Frau testet das Mittel, ihre Haut verheilt nach einigen Tagen – ohne Nebenwirkungen. Darauf prüft ein Dermatologie-Professor das Mittel erfolgreich in einer klinischen Studie. Klingelhöller lässt die Tinktur patentieren, kriegt die Zulassung dafür; ein Wirtschaftsprüfer schätzt den Wert der Rechte auf 936 Millionen Dollar.

Pharma will teurere Produkte verkaufen


Die Creme verspricht, ein Riesenerfolg zu werden. Insgesamt 16 Pharmafirmen stellen die beiden Jungforscher das Mittel vor. Doch überraschenderweise lehnen alle ab. «Regividerm», wie das günstige Produkt heissen sollte, passe nicht ins Konzept, sagen die Pharmamanager. Darauf verkauft Klingelhöller die Patentrechte an seinen Kollegen Rüdiger Weiss. Dieser versucht seitdem, das Produkt zu vermarkten. Sein Fazit: «Man möchte vermeiden, dass ein Medikament, das deutlich preiswerter ist und keine Nebenwirkungen hat, auf den Markt kommt». Die Pharmaindustrie wolle die eigenen, viel teureren Produkte damit nicht gefährden.

Dabei geistert Regividerm seit Jahren durch die Internetforen der betroffenen Patienten, selbst Apotheker sind auf der Suche danach. Klingelhöffer nahm der jahrelange Kampf gegen die Pharmaindustrie derart mit, dass er krank wurde. Er lebt in einer Klinik in der Schweiz. «Geld verdient man mit chronischem Leid», sagt er. (cha)

Mittwoch, Oktober 21, 2009

NZZ: Zoroastrier - Die Hüter des Feuers

19. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Hüter des Feuers
Eine der ältesten monotheistischen Religionen droht auszusterben – wie leben die Zoroastrier von heute?

Nicht allein durch Nietzsches «Also sprach Zarathustra», sondern auch durch ihre teilweise bizarr anmutenden Rituale hat die Religion der Zoroastrier eine magische Aura bewahrt. Ihre Anhänger freilich sind heute teilweise in der Ausübung ihres Glaubens eingeschränkt und die Gemeinden im Schwinden begriffen.

Maryam SchumacherMaryam Schumacher lebt als freie Journalistin in Berlin.

Tschak tschak, wie das leise Tropfen auf dem Marmorboden im Tempel, das unentwegt durch den Raum hallt. Tschak tschak, wie die Flammen, die endlos flackern, umgeben von den dunklen, kalten Wänden. Tschak Tschak: der Name des kleinen, legendären Ortes in der kargen, gebirgigen Provinz Yazd im Herzen Irans, wo der bedeutendste Wallfahrtsort und das Glaubenszentrum der Zoroastrier liegt.

Mittags öffnen sich die massiven bronzenen Torflügel. Der kleine Mann, der die....


19. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Hüter des Feuers
Eine der ältesten monotheistischen Religionen droht auszusterben – wie leben die Zoroastrier von heute?

Nicht allein durch Nietzsches «Also sprach Zarathustra», sondern auch durch ihre teilweise bizarr anmutenden Rituale hat die Religion der Zoroastrier eine magische Aura bewahrt. Ihre Anhänger freilich sind heute teilweise in der Ausübung ihres Glaubens eingeschränkt und die Gemeinden im Schwinden begriffen.

Maryam SchumacherMaryam Schumacher lebt als freie Journalistin in Berlin.

Tschak tschak, wie das leise Tropfen auf dem Marmorboden im Tempel, das unentwegt durch den Raum hallt. Tschak tschak, wie die Flammen, die endlos flackern, umgeben von den dunklen, kalten Wänden. Tschak Tschak: der Name des kleinen, legendären Ortes in der kargen, gebirgigen Provinz Yazd im Herzen Irans, wo der bedeutendste Wallfahrtsort und das Glaubenszentrum der Zoroastrier liegt.

Mittags öffnen sich die massiven bronzenen Torflügel. Der kleine Mann, der die Besuchergruppen in den Feuertempel einlässt, trägt eine weisse Kappe und sieht aus wie gemalt, mit feinen Gesichtszügen, grauweissen Haaren und leuchtend blauen Augen. Im Tempel beginnt er zu erklären: Der zoroastrische Glaube beruhe auf der Reinheit der Elemente Erde, Luft, Wasser und des heiligsten, des Feuers. Alle seien lebensnotwendig, aber nur durch die göttliche Kraft des Feuers könne man Weisheit erlangen.

Monotheistische Urreligion?


Kaum eine Religion ist bis heute so unbekannt und unterschätzt, gleichzeitig aber so geheimnisvoll wie der Zoroastrismus. Das zeigt sich auch in den vielen Namen, die seinen Anhängern gegeben wurden: «Feueranbeter» oder im Persischen «die Magier». Die Anhängerschaft der Zoroastrier ist mittlerweile klein, weltweit gibt es noch rund 130 000 von ihnen. Dabei gehört die zoroastrische Religion zu den ältesten monotheistischen Religionen: Ihre Ursprünge reichen bis ins altpersische Reich 1800 Jahre vor Christus zurück. Das Judentum, das Christentum und der Islam sollen viele ihrer Prinzipien aus den Lehren des Propheten Zarathustra hergeleitet haben.

Der Schöpfergott der Zoroastrier ist Ahura Mazda, der in sieben Tagen die geistige und die materielle Welt, bestehend aus Sonne, Himmel, Erde, Gewässern, Tieren, Pflanzen und Menschen, geschaffen hat. So sagt es die Avesta, die heilige Schrift der Zoroastrier. Ihr Weltbild ist von einer Dichotomie zwischen Gut und Böse geprägt: Die gesamte Menschheit lebt in einem Kampf, den Ahura Mazda und sein Widersacher Ahriman austragen. Das Böse kann nur dauerhaft besiegt werden, wenn alle Menschen immer gut sind; in dieser Dichotomie ist damit auch das ethische Wertesystem enthalten, welches Pflichten und Verbote für die Zoroastrier definiert. Der Primat von Werten wie Loyalität, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft ist dabei nicht zuletzt auch eine Garantie für das Fortbestehen der eigenen Gemeinde, die in erster Linie von den Wohlfahrtseinrichtungen und den Beziehungsnetzen ihrer Mitglieder profitieren soll.

«Natürlich habe ich im Laufe meines Lebens auch viele Zweifel gehabt», erzählt Shernaaz Engineer. Die brünette, junge Frau mit den langen Haaren und den zierlichen Händen wirkt nachdenklich. «Es ist eine sehr alte Religion, die sich parallel zu den ältesten Zivilisationen entwickelt hat.» Diesen Aspekt findet Shernaaz nicht nur schön, sondern er gibt ihr auch Sicherheit.

Mit dem Fortschreiten der Islamisierung in Iran wurden die Zoroastrier, wie andere religiöse Minderheiten auch, zusehends vertrieben. In mehreren Wellen emigrierten sie im 9. Jahrhundert aus dem Nordwesten Irans nach Indien und liessen sich dort an der westlichen Küste in Gujarat und Mumbai nieder. Parsis heisst diese Gruppe der Zoroastrier, während sich diejenigen, die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert auf der Flucht vor dem repressiven Qadjaren-Regime in einer zweiten Migrationswelle nach Indien gelangten, Iranis nennen.

Kleine Gemeinde mit hohem Ansehen

Im südlichen Zipfel von Mumbai befinden sich rund 25 Feuertempel. Anders als in Iran haben Nicht-Parsis hier keinen Zutritt. Für Aussenseiter wirkt die Gemeinde auf den ersten Blick in sich gekehrt und verschlossen, die Religion mit ihren absonderlichen Riten manchmal fast schockierend. Mehrere Parsi-Enklaven wurden in Mumbai als gated communities, als mit Mauern und Wächtern geschützte Wohnsiedlungen, gebaut. In einer von ihnen lebt die 32-jährige Shernaaz. «Für mich ist diese Form des Zusammenlebens optimal», erklärt die junge Publizistin und schränkt gleichzeitig ein: «Der Austausch in der Gemeinde hat sich allerdings sehr verändert, weil das Leben so mechanisch geworden ist und die Menschen permanent beschäftigt sind.» Der Zusammenhalt in der Gemeinde jedoch sei weiterhin sehr stark.

Die Parsis geniessen in Indien hohes Ansehen, nicht zuletzt weil sie viel zur städtischen und industriellen Entwicklung der Stadt Mumbai beigetragen haben. Eine ganze Anzahl von Sozialeinrichtungen, Krankenhäusern, Schulen und Kunstgalerien gehen auf Parsis zurück; auch die Eigentümerfamilie des global tätigen Mischkonzerns Tata ist parsischer Abkunft. Nicht zuletzt funktioniert die kleine Gemeinde auch als soziales Netzwerk, das etwa ärmeren Familien Zugang zu günstigem Wohnraum verschafft.

Oben an der Eingangspforte der Feuertempel ist Faravahar abgebildet, ein menschenähnliches Wesen mit Flügeln, das für die Zoroastrier den Geist symbolisiert. Heute wird vermutet, dass möglicherweise die Engelsymbolik auf den zoroastrischen Glauben zurückgeht. Gleichzeitig steht Faravahar für den ethischen Leitspruch eines jeden Zoroastriers: Pendar-e Nik, Goftar-e Nik, Kerdar-e Nik – gute Gedanken, gute Worte, gute Taten. «Zoroastrier sein bedeutet aufrichtig sein, ehrlich sein und Zivilcourage zeigen», vervollständigt Shernaaz die ethischen Grundsätze. Sie ist sich des jahrtausendealten Vermächtnisses ihres Glaubens mit seinen Ritualen und Traditionen äusserst bewusst. Sie ist eine überzeugte Gläubige, und trotzdem stellt sie berechtigte Fragen: «Dass dieser Glaube so lange existiert, ist unglaublich, aber gleichzeitig auch schwierig. Wie sollen seine Inhalte und Grundsätze an die zukünftigen Generationen weitergegeben werden?»

Angst um die eigene Identität

Aufrechterhalten der Traditionen und Anpassung an die Moderne sind für die zoroastrische Religionsgemeinschaft eine immense Herausforderung, denn die Gemeinde schrumpft immer mehr. Der Theologe Khojeste Mistry, der auch zu den Vorsitzenden des Parsi Panchayat (Parsi-Gemeinderat) zählt, steht diesen Problemen vorläufig weitgehend ratlos gegenüber. «Jede Gemeinde begründet ihre Identität auf Ritualen. Wenn diese nicht an künftige Generationen weitergegeben werden können, dann wird es bald keine Parsi-Identität mehr geben.» Mistry setzt sich seit Jahren intensiv mit den religiösen Belangen der Gemeinde auseinander. In seinem kleinen Büro stapeln sich überall Bücher, Berge von Papieren und Akten. Er gibt zu, ohne dass es nach Resignation klingt: «Für dieses Problem haben wir noch keine schnelle Lösung gefunden.»

Denn der Zoroastrismus ist patriarchal, sprich: Nur die männlichen Mitglieder gewährleisten das Fortbestehen der Gemeinde. Ähnlich wie im Judentum ist die Heirat innerhalb der Gemeinde ein Muss, sonst droht der Ausschluss. Dieser Patriarchalismus jedoch ist problematisch für die Gemeinde und diskriminierend, denn während die Kinder aus einer Ehe zwischen einem zoroastrischen Vater und einer nichtzoroastrischen Mutter als Teil der Gemeinde gesehen werden, «sind die anderen Kinder für die Gemeinde verloren», sagt Mistry etwas zugespitzt, aber treffend.

«Wenn unsere Zeit vorbei ist, ist sie vorbei», meint dagegen der Journalist Sarosh Bana. Ihm seien die Traditionen der Gemeinde sehr wichtig, aber daran um jeden Preis festzuhalten, ginge zu weit. Auch für den Vater von Shernaaz, Adi Engineer, ist die Zukunft der Gemeinde ein Thema; und er betrachtet sogar die Aufnahme von Kindern mit nichtzoroastrischer Mutter nicht ohne Skepsis. Irgendwann habe ein Parsi-Gericht entschieden, dass die Kinder von Parsi-Männern aus einer gemischten Ehe weiterhin der Gemeinde angehören dürften. «Das hat zu einer Anomalie geführt», beteuert Adi Engineer. Natürlich ist er sich der Problematik und des sozialen Drucks in der Gemeinde durchaus bewusst. Er fügt dann aber hinzu, als versuche er seinen Purismus zu entschuldigen: «Viele wollen eben, wie ich, dass unsere Kinder die parsische Identität bewahren.»

Skeptische Frauen


Eigentlich würde die zoroastrische Religion schon die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau predigen, meint Mehernaaz Sam Wadia und nippt nachdenklich an ihrem Drink. Dann sagt sie: «Frauen werden aber doch ausgeschlossen.» Wie im Islam verbietet der zoroastrische Glaube, dass Frauen etwa während ihrer Menstruation Heiligtümer betreten, um an bestimmten spirituellen Festlichkeiten teilzunehmen. Mehernaaz ist durchaus kritisch. «Diese Form einer patriarchalischen Gesellschaft finde ich nicht gut.» Die junge Frau arbeitet als Richterin in Mumbai und schreibt regelmässig im Blog «Parsi Khabar» (Parsi-Nachrichten) über aktuelle Ereignisse und Debatten innerhalb der Gemeinde. Gläubig ist Mehernaaz dennoch sehr. «Ich kann mir gar nicht vorstellen, einen anderen Glauben anzunehmen, auch nicht um der Liebe willen», erklärt sie und spricht damit ein heikles Thema an.

Mehernaaz will selbstverständlich ihren Beruf ausüben. Für dieses Phänomen der Emanzipation und Selbstverwirklichung hat Khojeste Mistry eine Erklärung. Der hohe Bildungsgrad innerhalb der Gemeinde sei ein Indiz dafür, dass spät geheiratet werde. «Heute wollen die jungen Menschen zuerst studieren, einen hohen Lebensstandard erreichen, um sich ihre Träume zu erfüllen. Mit der globalen Vernetzung steigt aber gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass die jüngere Generation der Parsis nicht mehr in der Gemeinde bleibt.» Shernaaz und Mehernaaz wollen zwar beide in der Gemeinde bleiben, wissen aber um die Schwierigkeiten und die möglicherweise nötigen Kompromisse und Opfer, die diese Entscheidung mit sich bringt. In Indien werden noch immer Hochzeiten arrangiert, und auch unter Parsis ist dieser Brauch üblich, besonders weil man sicherstellen will, dass nicht ausserhalb der Gemeinde geheiratet wird. Mehernaaz betont aber, dass es ihr freier Wille war, einen Partner zu suchen, der Parsi ist. Sie hat Glück gehabt – in wenigen Monaten findet die Hochzeit statt.

Türme des Schweigens

In Iran wird mit dem Glauben der Zoroastrier noch immer das alte, glorreiche Perserreich assoziiert; zudem respektiert man ihn als eine Religion, die spätere Glaubensrichtungen geprägt hat. Anderseits aber werden mit dem Zoroastrismus auch Riten in Verbindung gebracht, die absonderlich und abschreckend erscheinen, wie etwa die Bestattungszeremonien. Man unterzog die Toten zunächst einer langen Prozedur, bei der die Körper mit dem Urin von Stieren und danach mit kaltem Wasser gewaschen wurden; dann folgte die Einbalsamierung mit ätherischen Ölen und Parfum, und schliesslich trug man die Leichname auf sogenannte Türme des Schweigens (auf Persisch Dakhmah genannt), wo man sie der Sonne und der Natur aussetzte. Speziell abgerichtete Raubvögel verzehrten die Leichen, wobei aus dieser Prozedur auch Auspizien für das Seelenheil des Verstorbenen gelesen wurden.

Seit dem Bestehen der Islamischen Republik sind in Iran diese Bestattungszeremonien jedoch untersagt. Nur in Indien sind sie noch erlaubt, fünf Türme des Schweigens stehen in Mumbai, und obwohl sie einzig von Priestern besucht werden dürfen, wirken sie wie ein Mahnmal für diese aussterbende Religion. In Iran können nahe der Stadt Yazd zwei besonders eindrucksvolle Türme des Schweigens mit den dazugehörigen kultischen Bauten für die Herrichtung der Toten besichtigt werden, in einem Museum werden Archivbilder der verdorrten, geschwärzten Leichname gezeigt. Die Türme von Yazd und vor allem der Feuertempel von Tschak Tschak sind noch heute Pilgerorte für Zoroastrier aus der ganzen Welt, die sich jeweils zum persischen Neujahrsfest Nouruz hier einfinden. Der Weg zum Tempel führt durch die steinige, dürre Wüstensteppe und über massive, kahle Berge. Am Eingang des Feuertempels ragt ein sagenumwobener Baum direkt aus der Bergwand: An dieser Stelle soll einst die Prinzessin Nikbanou gestanden und um Schutz gefleht haben, als sie vor dem Einmarsch der Araber floh. Sie flehte zu Ahura Mazda, der Berg öffnete sich einen Spalt breit, und die Prinzessin schlüpfte hinein. So zumindest will es die Legende.

Dienstag, Oktober 20, 2009

Spiegel: Neue Wirtschaftsordnung Was guter Kapitalismus leisten muss

Der Spiegel
19. Oktober 2009, 11:22 Uhr
Neue Wirtschaftsordnung
Was guter Kapitalismus leisten muss

Von Sebastian Dullien, Hansjörg Herr und Christian Kellermann

Wie sieht die Weltwirtschaft nach dem Bankencrash aus? Ein Umdenken ist zwingend, Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte müssen korrigiert werden. Dabei darf aber nicht der Kapitalismus als Ganzes in Frage gestellt werden.

Berlin - Die jüngste Finanzkrise hat die Schwächen des Wirtschaftssystems schonungslos aufgezeigt: Ein ökonomisch relativ überschaubares Ereignis - das Platzen einer Immobilienblase in den USA - hat die globale Wirtschaft an den Rand einer neuen Depression gebracht. Auch wenn es inzwischen Indizien gibt, die auf eine Stabilisierung der Konjunktur hindeuten, ist doch mit weiteren Rückschlägen zu rechnen.

Dabei ist der Weltwirtschaft gerade das zum Verhängnis geworden, was zuvor als Wachstumstreiber gehandelt wurde: die immer stärkere Verknüpfung der internationalen Kapitalmärkte und des internationalen Handels, befördert....


Der Spiegel
19. Oktober 2009, 11:22 Uhr
Neue Wirtschaftsordnung
Was guter Kapitalismus leisten muss

Von Sebastian Dullien, Hansjörg Herr und Christian Kellermann

Wie sieht die Weltwirtschaft nach dem Bankencrash aus? Ein Umdenken ist zwingend, Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte müssen korrigiert werden. Dabei darf aber nicht der Kapitalismus als Ganzes in Frage gestellt werden.

Berlin - Die jüngste Finanzkrise hat die Schwächen des Wirtschaftssystems schonungslos aufgezeigt: Ein ökonomisch relativ überschaubares Ereignis - das Platzen einer Immobilienblase in den USA - hat die globale Wirtschaft an den Rand einer neuen Depression gebracht. Auch wenn es inzwischen Indizien gibt, die auf eine Stabilisierung der Konjunktur hindeuten, ist doch mit weiteren Rückschlägen zu rechnen.

Dabei ist der Weltwirtschaft gerade das zum Verhängnis geworden, was zuvor als Wachstumstreiber gehandelt wurde: die immer stärkere Verknüpfung der internationalen Kapitalmärkte und des internationalen Handels, befördert durch immer komplexere Finanzinstrumente, die immer größere Gewinne einfuhren. In der Krise hat sich herausgestellt, dass das globale Finanzsystem mitnichten die negativen Folgen des Platzens der Blase am US-Immobilienmarkt eingrenzen konnte, sondern vielmehr selbst als globaler Verstärker des wirtschaftlichen Einbruchs gewirkt hat.

Nun wird weltweit nicht nur darüber diskutiert, wie man die Regulierung der Finanzmärkte so vorantreiben kann, dass diese künftig weniger Schaden anrichten können. Eine andere zentrale Frage ist, wo künftig Wirtschaftswachstum herkommen soll. Denn nach der Kreditkrise dürften die USA als globaler Wachstumsmotor ausfallen.

Grundlegendes Umdenken ist notwendig

Diese Frage ist besonders für Deutschland wichtig: Obwohl es bei uns keine Immobilienblase und keinen Bauboom gab, ist das Land dramatischer von der Krise betroffen als andere westeuropäische Länder. Der deutschen Wirtschaft ist dabei ausgerechnet die vermeintliche Stärke der vergangenen Jahre zum Verhängnis geworden: Als langjähriger Exportweltmeister hat das Land den Einbruch des Welthandels viel stärker zu spüren bekommen als andere Staaten. So wird auch hierzulande zunehmend die Frage diskutiert, ob die extrem hohe Exportabhängigkeit vielleicht ein Irrweg war und wir nicht ein neues Wachstumsmodell brauchen.

Diese Überlegung ist richtig. Entgegen der vorherrschenden Meinung hat die jüngste Krise mehr Ursachen als nur die einer laxen Regulierung der Finanzmärkte. Die Entfesselung der Finanzmärkte kam zeitgleich mit grundlegenden Umwälzungen auf den Arbeitsmärkten, mit enormen Ungleichgewichten bei internationalen Kapitalströmen und im globalen Handel sowie in der Wirtschaftsstruktur einzelner Länder. Letztlich war es nur eine Frage der Zeit, wann sich die aufgebauten Ungleichgewichte in einer Krise entladen würden.

Ein grundlegendes Umdenken ist deshalb zwingend notwendig: bei der Finanzmarktregulierung, bei den Arbeitsmärkten und sozialen Sicherungssystemen, aber auch bei der Art und Weise, wie die Zentralbank ihre Aufgabe auffasst. Dabei wäre ein durch ein solches Umdenken entstehender "guter Kapitalismus" kein fundamentaler Gegenentwurf zum bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell. Vielmehr würden die Fehlentwicklungen der vergangenen Jahrzehnte korrigiert werden, die Stärken des marktwirtschaftlichen Systems aber beibehalten.

Neue Balance zwischen Staat, Markt und Gesellschaft notwendig

Denn tatsächlich basieren die meisten Reformen der vergangenen vierzig Jahre auf einer naiven marktradikalen Vorstellung: Märkte wurden als ein sich selbst regulierender Mechanismus verstanden, der von sich aus zu Stabilität einschließlich hoher Beschäftigung und einer einigermaßen akzeptablen Verteilung von Einkommen führt. Da die entfesselten Märkte das gewünschte Ergebnis in der Regel nicht lieferten, verabreichte die Politik der Ökonomie stets eine weitere Dosis an mehr Entfaltungsfreiheit.

Doch jetzt, nach einer der schwersten Krisen der vergangenen Jahrzehnte, ist es notwendig, sich von dem Glauben zu verabschieden, dass Märkte ohne staatlichen Rahmen gut funktionieren könnten. Wir brauchen eine neue Balance zwischen Staat, Markt und Gesellschaft - und dabei müssen Staat wie Gesellschaft mehr Gewicht bekommen.

Dabei sollten der Finanzsektor und seine Dynamik im Bereich der Kreditschöpfung nicht verteufelt werden. Zwar wird übermäßige Kreditvergabe als ein zentraler Grund für die Blase am US-Immobilienmarkt und damit die aktuelle Krise angesehen. Es darf aber nicht vergessen werden, dass Kredit und Kreditwachstum an sich nichts Schlechtes sind. Vielmehr ist Kredit Treibstoff von Innovation und Wachstum. Anders als in den vergangenen Jahren, als die Finanzgeschäfte oft Selbstzweck waren, muss der Finanzsektor aber wieder zum Dienstleister für den Rest der Wirtschaft werden.

Diese Rolle kann der Finanzsektor allerdings nur übernehmen, solange es nicht zu Überschuldung oder Schuldenkrisen einzelner Länder oder Sektoren kommt. Solche Krisen vernichten regelmäßig jenes Eigenkapital, das die Banken zur Kreditvergabe an Unternehmen brauchen. Wer aber ein neues, stabiles Wachstumsmodell will, darf eine kontinuierlich steigende Verschuldung - sei es des Staates oder der Privathaushalte - nicht zum Wachstumstreiber machen.

Nachfrage muss über Löhne und Gehälter geschaffen werden

Der aktuellen Krise sind eklatante globale Ungleichgewichte vorausgegangen, die sich insbesondere in einem riesigen Leistungsbilanzdefizit der USA ausdrückten. Die USA lebten weit über ihre Verhältnisse, wovon die großen Exportländer, allen voran China und Deutschland, profitierten. Solche Ungleichgewichte zwischen Ländern sind für eine gewisse Zeit tragfähig, aber wenn die Schuldenlast zu groß wird, kommt es zur Krise. Daraus leitet sich eine grundlegende Forderung unseres neuen Wirtschaftsmodells ab: Neben einer besseren Finanzmarktregulierung müssen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass Nachfrage ohne steigende Verschuldung geschaffen werden kann.

Global gedacht bedeutet dies, dass die Schaffung von Nachfrage über Löhne und Gehälter erfolgen muss, die möglichst in jedem Land mit dem Produktivitätswachstum steigen sollten. Das zentrale Instrument zum Management dieser Nachfrage ist eine aktive Lohnpolitik.

Steuer- und Finanzpolitik wiederum hat die Aufgabe, wachsende Ungleichheit zu vermeiden. Hohe Einkommensbezieher konsumieren relativ gesehen weniger, als es Bezieher niedriger Einkommen tun. Insofern gibt es eine größere Nachfragewirkung, wenn man niedrige Einkommen aufstockt, statt einen Steuernachlass für Millionäre zu ermöglichen. Die Zentralbanken sollten zudem mit neuen Instrumenten versuchen, gefährliche Überschuldungstrends zu bremsen. Um den einzelnen Ländern Spielraum für solche Politiken zu geben, muss global über ein neues Währungssystem und Kapitalverkehrskontrollen nachgedacht werden.

Ein solch neues Wirtschaftsmodell ist ein überaus ehrgeiziges Projekt. Viele Elemente eines solchen Modells lassen sich nicht im nationalen Alleingang umsetzen, schon gar nicht von einem Land, das wie Deutschland EU-Mitglied und eng mit seinen Nachbarn verflochten ist.

Deutschland kann notfalls alleine

Doch Deutschland ist nicht hilflos. Deutschland ist - je nach Rechnung - die dritt- oder viertgrößte Volkswirtschaft der Welt und hat entsprechend Einfluss in globalen Verhandlungen. In Koordination mit den anderen EU-Ländern könnte Deutschland diesen Einfluss noch einmal verstärken und so die Gestaltung weltwirtschaftlicher Strukturen entscheidend mitbestimmen.

Wenn der politische Wille existiert, könnte zudem die EU auch vieles im Alleingang umsetzen, was auf den ersten Blick eine globale Regulierung erfordert. Wenn es etwa global keinen Konsens zur Regulierung von Offshore-Zentren gibt, könnten einfach den EU-Finanzinstituten und den Unternehmen innerhalb der EU Finanzgeschäfte mit diesen Ländern verboten werden. Deutschland könnte selbst alleine einen solchen Schritt beschreiten.

Zu guter Letzt kann in vielen Bereichen der Umstieg auf ein neues Wirtschaftsmodell zu Hause beginnen. Der Abbau des enormen Leistungsbilanzüberschusses Deutschlands etwa könnte mit einer Wende in der Lohnpolitik ebenso wie mit einer stärkeren steuerlichen Umverteilung im Inland begonnen werden. Beide Elemente brauchen keine Koordinierung mit dem Ausland. Und weniger Ungleichgewichte in der dritt- oder viertgrößten Volkswirtschaft bedeuten spürbar weniger Ungleichgewichte weltweit - und damit ein stabileres Wachstum in der Zukunft.

Bei dem Text handelt es sich um einen Auszug aus dem Buch "Der gute Kapitalismus. ... und was sich dafür nach der Krise ändern müsste"

URL:

* http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/0,1518,654553,00.html

Sonntag, Oktober 18, 2009

Johnny Cash : Bridge over troubled Water

Samstag, Oktober 17, 2009

Der Spiegel: "Arbeitgeber Kirche Angestellte in Gottes Hand"

Der Spiegel
23. September 2009, 06:28 Uhr
Arbeitgeber Kirche
Angestellte in Gottes Hand

Von Achim Killer

Zusammen sind die Kirchen nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland, doch Mitarbeiter in Diözesen und Diakonie haben weniger Rechte als Kollegen in anderen Wirtschaftszweigen. Ein uneheliches Kind kann leicht zum Kündigungsgrund werden.

München - Der Detektiv leistete ganze Arbeit: Er konnte nicht nur die weibliche Zielperson in einem verdächtigen Wagen filmen. Es gelang ihm auch, den Namen des ihr offenkundig sehr vertrauten Mannes zu ermitteln, mit dem sie unterwegs war. Auftraggeber dieser Observation vor ein paar Wochen war allerdings nicht der eifersüchtige Ehemann - sondern die Diözese Augsburg.

Die will die schwerbehinderte Kirchenmusikerin Kerstin Gerg* loswerden - und schrieb deshalb an das zuständige Integrationsamt, dass bei der geschiedenen Frau "vom Vorliegen einer Lebensgemeinschaft ausgegangen werden muss".

Dabei wollte die Diözese nach eigenen Angaben Kerstin Gerg eigentlich...


Der Spiegel
23. September 2009, 06:28 Uhr
Arbeitgeber Kirche
Angestellte in Gottes Hand

Von Achim Killer

Zusammen sind die Kirchen nach dem Staat der zweitgrößte Arbeitgeber in Deutschland, doch Mitarbeiter in Diözesen und Diakonie haben weniger Rechte als Kollegen in anderen Wirtschaftszweigen. Ein uneheliches Kind kann leicht zum Kündigungsgrund werden.

München - Der Detektiv leistete ganze Arbeit: Er konnte nicht nur die weibliche Zielperson in einem verdächtigen Wagen filmen. Es gelang ihm auch, den Namen des ihr offenkundig sehr vertrauten Mannes zu ermitteln, mit dem sie unterwegs war. Auftraggeber dieser Observation vor ein paar Wochen war allerdings nicht der eifersüchtige Ehemann - sondern die Diözese Augsburg.

Die will die schwerbehinderte Kirchenmusikerin Kerstin Gerg* loswerden - und schrieb deshalb an das zuständige Integrationsamt, dass bei der geschiedenen Frau "vom Vorliegen einer Lebensgemeinschaft ausgegangen werden muss".

Dabei wollte die Diözese nach eigenen Angaben Kerstin Gerg eigentlich kündigen, weil sie es mit Verweis auf ihre Mobilitätseinschränkung ablehnte, sich von der Gemeinde St. Barbara im oberbayerischen Peißenberg an einen anderen Standort versetzen zu lassen. Weil die Schnüffelaktion der Kirche aber die privaten Lebensumstände zutage förderte, kann die Kirchenleitung jetzt nachschieben: "Eine Weiterbeschäftigung von Frau Gerg käme auch aus diesem Grund grundsätzlich nicht in Betracht."

Grundgesetz gilt nur bedingt

Dabei kann sich die Diözese tatsächlich auf die Grundsätze der katholischen Glaubens- und Morallehre berufen - und die sehen das Zusammenleben ohne Trauschein nicht vor. Denn das Grundgesetz gilt innerhalb kirchlicher Einrichtungen nur eingeschränkt. Deren Rechtsstellung regeln vielmehr Staatsverträge - meist aus der Zeit der Weimarer Republik und der Nazi-Diktatur. Diese Regelungen wurden unverändert in die bundesdeutsche Verfassung übernommen - und sie betreffen rund eine Millionen Mitarbeiter. Nach den Staatsbediensteten stellen die Angestellten der beiden großen Kirchen in Deutschland die größte Arbeitnehmergruppe.

Für Verwaltungsangestellte, Kindergärtnerinnen und Sozialarbeiter in kirchlichen Diensten bedeutet dies konkret: Sie haben nur minimale Mitbestimmungsrechte und müssen Einschränkungen ihrer individuellen Freiheiten hinnehmen. Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE erklärt das bischöfliche Ordinariat im Fall Gerg sein Vorgehen denn auch lapidar: "Das Erfordernis der Einhaltung der Grundsätze der katholischen Glaubens- und Morallehre für kirchliche Mitarbeiter ist vergleichbar mit der Verfassungstreue im öffentlichen Dienst."

Wie sehr diese Grundsätze die Angestellten der Kirche unter Druck setzen, zeigt auch das private Internetforum von Stefan Ihli, einem juristischen Angestellten der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Sie sei "seit vier Jahren in einem katholischen Kindergarten als Erzieherin tätig", schreibt etwa eine Frau, die sich "Shan" nennt. Sie habe jetzt "einen Partner, mit dem ich mir ein Kind wünsche" und fragt deshalb an: "Kann mir aufgrund eines unehelichen Kindes mein Arbeitsplatz gekündigt werden?"

Private Arbeitgeber beneiden die Kirchen

Der Jurist rät ihr zur Eheschließung - denn tatsächlich haben die Angestellten der Kirchen vom Gesetzgeber wenig Hilfe zu erwarten. Sogar das seit 2006 geltende Antidiskriminierungsgesetz greift nicht in den Diözesen und Landeskirchen, bei Caritas und Diakonischem Werk.

Bislang ist es nur die EU-Kommission, die sich des Themas angenommen hat: In einem Brief an die Bundesregierung kritisierte sie den Umgang mit den Kirchen-Angestellten als "mangelhafte Umsetzung der europäischen Gleichstellungsrichtlinie". Die Kirchen könnten "bestimmte berufliche Anforderung allein aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts festlegen", bemängelt die Kommission und verlangt zumindest eine "Verhältnismäßigkeitsprüfung" - also staatliche Vorgaben, welche Kirchenregeln für Pflegekräfte und welche nur für Priester und Geistliche zulässig sind.

Tatsächlich beneiden inzwischen auch die privaten Arbeitgeber die Kirchen wegen ihrer Sonderrechte - vor allem die Einschränkung bei der betrieblichen Mitbestimmung weckt Begehrlichkeiten. So dürfen die Arbeitnehmer im Dienst der Glaubensgemeinschaften keine Betriebsräte wählen, sondern lediglich sogenannte "kirchliche Mitarbeitervertreter" - und die haben in etwa so viele Rechte wie Schülersprecher. So versuchte etwa das private Alfried Krupp Krankenhaus im Jahr 2006 in Essen, unter das Dach der evangelischen Diakonie zu schlüpfen. Allerdings ohne Erfolg: In diesem Jahr entschied das zuständige Landesarbeitsgericht, dass das Betriebsverfassungsgesetz dort trotzdem weiter gilt.

Bislang sind es nur einige Richter, die der Willkür in kircheneigenen Betrieben Schranken gesetzt haben. So klagte sich etwa ein aufmüpfiger Schankkellner im oberbayerischen Andechs in den achtziger Jahren durch sämtliche Instanzen, weil er einen Betriebsrat für die klostereigene Brauerei durchsetzen wollte. Der Rechtsstreit durchlief sämtliche Instanzen der Arbeits- und Verwaltungsgerichtsbarkeit. Seither steht immerhin fest, dass zumindest die reinen Wirtschaftsbetriebe der Kirchen wie beispielsweise Brauereien den weltlichen Mitbestimmungsgesetzen unterliegen. Das sei evident, befand ein beteiligter Richter, da ansonsten "die Produktion alkoholischer Getränke unter das Gebot christlicher Nächstenliebe fallen müsste".

Aber selbst die schwachen kirchlichen Mitarbeitervertretungen sind den Bischöfen manchmal ein Dorn im Auge. So klagt derzeit der Vorsitzende der Mitarbeitervertretung von Rottenburg-Stuttgart gegen seine Entlassung. Ihm war Mitte des Jahres gekündigt worden.

Als Grund führt die Diözesanleitung an: Der Mann ist Vater einer Tochter - ohne mit deren Mutter verheiratet zu sein.

* Name von der Redaktion geändert

Freitag, Oktober 16, 2009

TA : «Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar»

Tages Anzeiger 28.09.2009
«Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar»
Von Karin Meier. Aktualisiert am 28.09.2009

«Wer Anerkennung für seine Arbeit erhält, ist stressresistenter», sagt Norbert K. Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Bern.
Was tut der Experte gegen Stress? Arbeitspsychologe Norbert Semmer spielt Cello, macht Gymnastik oder spricht mit seiner Frau.

Herr Semmer, heute gilt als chic, gestresst zu sein. Wann handelt es sich bei Stress um blosse Koketterie, wann um ein echtes Problem?
Bei Umfragen im Bekanntenkreis ist jeder gestresst. In wissenschaftlichen Untersuchungen fallen aber nur wenige Menschen in diese Kategorie. Heute will jeder als überlastet gelten, aber nicht als überfordert, denn dies stellt eine Bedrohung des Selbstwertgefühls dar. Die Grenze zwischen diesen beiden Zuständen ist jedoch sehr dünn.

Es heisst, ein bisschen Stress sei gesund, zu viel Stress mache jedoch krank. Wie sehen Sie das?
Die Stresssituationen selbst werden....


Tages Anzeiger 28.09.2009
«Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar»
Von Karin Meier. Aktualisiert am 28.09.2009

«Wer Anerkennung für seine Arbeit erhält, ist stressresistenter», sagt Norbert K. Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Bern.
Was tut der Experte gegen Stress? Arbeitspsychologe Norbert Semmer spielt Cello, macht Gymnastik oder spricht mit seiner Frau.

Herr Semmer, heute gilt als chic, gestresst zu sein. Wann handelt es sich bei Stress um blosse Koketterie, wann um ein echtes Problem?
Bei Umfragen im Bekanntenkreis ist jeder gestresst. In wissenschaftlichen Untersuchungen fallen aber nur wenige Menschen in diese Kategorie. Heute will jeder als überlastet gelten, aber nicht als überfordert, denn dies stellt eine Bedrohung des Selbstwertgefühls dar. Die Grenze zwischen diesen beiden Zuständen ist jedoch sehr dünn.

Es heisst, ein bisschen Stress sei gesund, zu viel Stress mache jedoch krank. Wie sehen Sie das?
Die Stresssituationen selbst werden überwiegend negativ erlebt. Oft halten die Belastungssymptome auch dann an, wenn die eigentliche Ursache längst verschwunden ist. Solange man aber nach einer Stresssituation in eine Phase der Erholung übergehen kann, bleiben negative Folgen aus. Die Konsequenzen können sogar positiv sein: Wer beispielsweise eine schwierige Situation durchsteht, kann an Selbstbewusstsein gewinnen.

Woran merkt man, dass man überlastet ist?
Zu den klassischen Symptomen zählen Dünnhäutigkeit und Gereiztheit, sozialer Rückzug und länger anhaltende Schlafprobleme. Betroffen ist auch unser Kommunikationsverhalten, etwa wenn wir kaum mehr zuhören oder auch wenn wir Sätze nicht beenden. Im Berufsleben leiden vor allem Wartungs- und Kontrolltätigkeiten, aber auch Ordnung und Sauberkeit, kurz all jenes, was sich nur langfristig auszahlt. Die Leistungsfähigkeit für die Primäraufgaben bleibt allerdings erstaunlich lange erhalten, da man für deren Bewältigung seine Kräfte mobilisiert.

Welche Menschen leiden vor allem unter Stress?
Menschen sind unterschiedlich belastbar. Unternehmen möchten belastbare Leute – am belastbarsten sind aber oft diejenigen, die sich nicht für ihre Arbeit interessieren.

Desinteresse? Habe ich Sie richtig verstanden?
Ja, diejenigen Mitarbeiter, die sich sehr stark mit ihrem Beruf identifizieren, sind nur in Grenzen belastbar, denn Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar. Deshalb sollten Unternehmen darauf achten, dass sie ihre Mitarbeiter nicht zu sehr belasten. Ansonsten macht sich unter den engagierten Mitarbeitern Zynismus breit, oder aber es machen Leute Karriere, denen es primär um ihre eigene Agenda geht, wie zum Beispiel eine Selbstdarstellung als erfolgreicher Mitarbeiter.

Welches sind die wichtigsten stressrelevanten Faktoren?
Zu den sogenannten Stressoren zählen die Arbeitsaufgaben, etwa wenn sie monoton und langweilig sind, die physischen, sozialen und organisatorischen Bedingungen sowie die Arbeitsorganisation. Ein typischer Stressfaktor sind beispielsweise nicht funktionierende Computersysteme. Solche Tätigkeiten verschlingen viel Zeit, die dann bei den eigentlichen Aufgaben fehlt. Belastungen, die mit den Kernaufgaben zusammenhängen, nimmt man meist gern in Kauf. Besonders gravierend ist Stress dann, wenn er eine Bedrohung des Selbstwerts darstellt. Dies ist besonders bei mangelnder Anerkennung der Fall.

Zum Beispiel?
Wenn ein Hitze abstrahlender Fotokopierer direkt neben dem Arbeitsplatz einer Sekretärin aufgestellt wird, kann sich diese dadurch abgewertet fühlen. In ihrer Wahrnehmung erscheint sie ihren Chefs nicht als wichtig genug, um sie vor der Hitze zu schützen. Dieses Phänomen der Abwertung nenne ich die «soziale Bedeutung der Hitze».

Handelt es sich bei der Bedrohung des professionellen Selbstwerts um Einzelfälle?
Abwertung ist weit verbreitet. Sie findet sich in vielen Lohnsystemen, da diese teils sehr einseitige Messungen vornehmen: Man misst, was man gut messen kann, auch wenn dies die Arbeitsqualität nicht fair widerspiegelt. Arbeitnehmer werden so häufig für Dinge bestraft, die sie für gute Arbeit halten, etwa wenn sie sich Zeit nehmen für ein Gespräch.

Wie bewältigt man Stress am besten?
Stress kann entweder problembezogen oder gefühlsbezogen angegangen werden. Im ersten Fall versucht man, die Situation zu verändern, im zweiten Fall geht es darum, zur gleichen Situation einen neuen Zugang zu finden.

Ist gefühlsbezogene Stressbewältigung nicht reine Symptombekämpfung?
Gefühlsbezogene Stressbewältigung ändert an der Situation zwar nichts, wohl aber an den Gefühlen in Bezug auf Stress. Wer zum Ausgleich beispielsweise Sport treibt, lenkt seine Aufmerksamkeit weg von der belastenden Situation. Auch wer lernt, ruhig durchzuatmen, kann Stress viel gelassener angehen. Weniger gut sind gefühlsbezogene Stressbewältigungsmassnahmen wie Rauchen oder Trinken.

Was beugt man stressbedingten Erkrankungen vor?
Einerseits sollten unnötige Belastungen vermieden werden. Aber auch das Abschalten von der Arbeit muss gepflegt werden. Etwa durch Sport. Rituale, die jeder für sich entdecken und bestimmen kann und die jeden Tag möglichst ähnlich ablaufen sollten. Auch Meditation ist ein solches Ritual, das helfen kann, die Umstellung von der Arbeit ins Privatleben besser zu bewältigen.

Was machen Sie selbst gegen Stress?
Ich kann zum Glück meist gut abschalten. Den Tag beginne ich mit Gymnastik, daneben spiele ich Cello. Und ich unterhalte mich gerne und oft mit meiner Frau.

Sonntag, Oktober 11, 2009

TA: Berühmtheit als Berufswunsch

Tages Anzeiger Online
Berühmtheit als Berufswunsch
Von Regina Partyngl. Aktualisiert am 10.10.2009

Falls Berühmtheit bis anhin der Traum einiger Getriebener war, so scheint sie nun zum Berufswunsch der Massen zu mutieren: Hauptsache berühmt – egal wofür. Was hinter dem grotesken Unterfangen steckt.

Ein Jugendlicher namens Tim gibt sich auf der Strasse eine Blösse: Ungefragt und unaufgefordert kräht er inmitten konsternierter Passanten voller Inbrunst vor sich hin. Tim, so stellt sich heraus, ist ein Kandidat bei «Popstars», also ein Kandidat bei einer jener Castingshows, die Gewinner hervorbringen, deren Fans zwischen 6- und 14-jährig sind. Wer bei «Popstars» siegt, dem sind nicht einmal jene 15 Minuten Ruhm vergönnt, die Andy Warhol jedem prophezeite. Tim legt sich – talentfrei – voll ins Zeug und missversteht die ihn stets begleitende Kamera als ihm wohlgesinnt.

Auf die Frage, warum er Popstar werden will, antwortet er...


Tages Anzeiger Online
Berühmtheit als Berufswunsch
Von Regina Partyngl. Aktualisiert am 10.10.2009

Falls Berühmtheit bis anhin der Traum einiger Getriebener war, so scheint sie nun zum Berufswunsch der Massen zu mutieren: Hauptsache berühmt – egal wofür. Was hinter dem grotesken Unterfangen steckt.

Ein Jugendlicher namens Tim gibt sich auf der Strasse eine Blösse: Ungefragt und unaufgefordert kräht er inmitten konsternierter Passanten voller Inbrunst vor sich hin. Tim, so stellt sich heraus, ist ein Kandidat bei «Popstars», also ein Kandidat bei einer jener Castingshows, die Gewinner hervorbringen, deren Fans zwischen 6- und 14-jährig sind. Wer bei «Popstars» siegt, dem sind nicht einmal jene 15 Minuten Ruhm vergönnt, die Andy Warhol jedem prophezeite. Tim legt sich – talentfrei – voll ins Zeug und missversteht die ihn stets begleitende Kamera als ihm wohlgesinnt.

Auf die Frage, warum er Popstar werden will, antwortet er mit entlarvender Frische: «Ich weiss auch nicht. Ich finds halt einfach geil, wenn mich die Leute kennen.» Das muss man ihm lassen: Wenigstens antwortet er nicht wie viele andere Möchtegern-Stars: «Die Musik ist mein Leben.» Die Frage, ob sie denn ein Instrument spielen oder sonstwie Musik machen, wird regelmässig verneint.

Berühmt und basta

Was möchtest du einmal werden? «Berühmt», so lapidar beantwortete kürzlich ein sechsjähriger Knirps die Frage. Es scheint, dass Massen von Teenies seinen Wunsch teilen. Lauscht man dem wundervoll abenteuerlichen Gedankenaustausch von Teenagern, fällt auf, dass sie es nicht für nötig halten, klarzustellen, wofür sie denn gern berühmt sein möchten. Die wenigsten sagen, sie gingen gerne als Sängerin, Schauspieler, Model, Moderatorin oder Sportler in die Annalen der Geschichte ein. Der Jargon geht mehr in Richtung: «Hey weisch wiä geil, berüämt si, Mann!» Streben sie nach dem Schein statt nach dem Sein?

Der Gesellschaft hat es wohl zu keiner Zeit an Oberflächlichkeit gemangelt – was das Zusammenleben auch erleichtert –, doch bisher waren Menschen berühmt, weil sie etwas getan hatten. Heute lösen Exemplare ein Blitzlichtgewitter aus, die berühmt sind fürs Berühmtsein, wie Katie Price in England oder Verena Pooth in Deutschland.

Eine, die diese Kunst perfektioniert hat, ist Paris Hilton. «Berühmtsein ist mein Job», sagte sie einmal in einem Interview mit dem Magazin «GQ». Ein kurzer Rückblick: Die Hotelerbin, ausgestattet mit dem berühmten Namen, tanzte Ende der 90er-Jahre auf Bartischen und liess verlauten, weil Slips Abdrücke auf der Haut hinterliessen, trage sie keine. Dass sie nicht gelogen hatte, bewies ein Foto, das die Luxus-Gestalt beim Aussteigen aus einer Limousine zeigte.

Andy Warhol Lügen gestraft

Die luftige Basis der neu gewonnenen Prominenz verleitete zur Annahme, dass da nun die warholschen 15 Minuten Berühmtheit einer reichen, verwöhnten, nach Aufmerksamkeit heischenden Blondine angebrochen waren. Doch dem war nicht so. Es folgten das Video «One Night in Paris» – wobei der Name Programm war und nicht die Stadt gemeint war – und auf sie zugeschnittene Reality-TV-Shows. Paris Hilton entwickelte sich zu einem Phänomen, bewies Geschäftssinn und kassierte riesige Summen für ein Winken oder den Besuch eines Clubs.

Paris weist gerne darauf hin, dass sie ein Modelabel hat, ihre eigene Schmuck- und Make-up-Kollektion und ein Parfüm auf den Markt gebracht hat. Stimmt. Das ist eine Folge ihrer Berühmtheit, nicht deren Ursache. Berühmt ist sie dafür, eine Hilton zu sein, die Skandälchen produziert hat und vor allem gerne selbstverliebt in die Kamera blickt – nicht gerade grosse Taten.

Ist das Publikum einfältig?

Dass sich die Hilton auf diese Weise ins Rampenlicht gemausert hat und es geschafft hat, dort zwölf Jahre lang zu verweilen, ist nicht in erster Linie ihr anzukreiden, sondern jenen, die das ermöglicht haben: ihrem Publikum. Und Publikum hat sie: Googelt man Paris Hilton, kommt man auf 46 Millionen Treffer. Googelt man Angelina Jolie, sind es 29 Millionen, bei Nelson Mandela 4.7 Millionen. «Die Berühmtheit mancher Zeitgenossen hängt mit der Blödheit der Bewunderer zusammen», sagte der deutsche Politiker Heiner Geissler einmal. Doch das Publikum besteht nicht nur aus Bewunderern. Paris Hilton verdankt ihre Medienpräsenz einer bedeutenden Anzahl Menschen, die sie schnöde, protzig oder hochnäsig finden. Es ist gar möglich, dass die negativen Attribute die positiven überwiegen. Egal. Was zählt, ist, dass Meldungen über die beweihräucherte oder geschmähte Person konsumiert werden. Und genau hier setzen all die Castingshows an: Ihr Credo lautet Voyeurismus. Welche Menschen geben sich diesem im Fernsehen preis? Genau. Solche, die berühmt werden wollen. Das Publikum ergötzt sich an Peinlichkeiten oder geniesst es, sich fremdzuschämen.

«So berühmt wie Gott»


Dass jene, die nach Ruhm dürsten, fast keine Demütigung scheuen, um ihr Ziel zu erreichen, hängt laut dem deutschen Psychiater Borwin Bandelow mit ihrem Narzissmus, ihrem Geltungsdrang und ihrem Ehrgeiz zusammen. Der Psychiater geht noch weiter. In seinem Buch «Celebrities – vom schwierigen Glück, berühmt zu sein», schreibt er, dass Menschen, die am Borderline-Syndrom leiden, einfacher berühmt würden als andere, weil bei ihnen Narzissmus, Geltungsdrang und Ehrgeiz besonders ausgeprägt seien. Die treibende Kraft, um berühmt zu werden, sei bei dieser Spezies die Angst, nicht berühmt zu werden. Madonna scheint seine These zu bestätigen. Die Popqueen hat einmal gesagt: «Ich werde nicht glücklich sein, bis ich so berühmt bin wie Gott.»

Nicht nur Exzentriker

Natürlich lechzen nicht alle Teenager, die in die Castingshows drängen, im selben Mass nach Aufmerksamkeit wie Madonna, Michael Jackson selig, Robbie Williams oder andere Exzentriker. Und natürlich haben nicht alle, die auf dem Walk of Fame am liebsten über ihren eigenen Stern wandeln würden, einen psychischen Knacks.

Wonach sich Schwärmer sehnen


Was versprechen sich also die Schwärmer, die sich nach Glanz und Gloria sehnen? Wahrscheinlich Ansehen und Anerkennung. Das brauchen alle Menschen. Doch ist es nicht absurd, sich diese Achtung von Leuten zu wünschen, die man nicht einmal kennt, von der anonymen Masse? Welches Lob oder Kompliment erfreut mehr: das eines Fremden oder jenes einer geschätzten, nahestehenden Person?

Welche anderen Gründe könnten eine Rolle spielen? Der schnöde Mammon, der meist mit der Bekanntheit einhergeht? Vielleicht, doch im Schatten des brennenden Wunsches nach Bekanntheit verblasst der Reichtum.

Die Angst vor dem Normalsein


Denkbar ist auch, dass das Streben nach Berühmtheit von der immer stärkeren Individualisierung der Gesellschaft herrührt. Heute ist es einerseits nötig – etwa auf dem Arbeitsmarkt – sich von anderen abzuheben. Andererseits gilt es aber auch als schick, etwas Besonderes, nicht wie Otto Normalverbraucher zu sein. Auch wenn keiner so genau weiss, wie Otto Normalverbraucher denn eigentlich ist.

Ein einigermassen breiter Konsens dürfte darüber bestehen, dass Otto ein eher unaufgeregtes, überschaubares und geregeltes Leben führt. Bezeichnend ist, dass es selten Otto ist, der unzufrieden ist mit seinem Leben. Vielleicht weil er ein eher behäbiger Zeitgenosse ist. Unzufrieden sind hingegen all jene, die wie Otto leben, dies aber als unspannend empfinden, weil sie in ihrem Leben nach Aufregung und Spannung suchen. Vielleicht weil sie eher rastlose Zeitgenossen sind. Diese Menschen, die nicht Otto sein wollen, sind die Trendsetter, sie bestimmen, was als schick gilt und was nicht.

Wenn es trendig ist, Spannung zu suchen, ist es kein Wunder, dass die Jugend Hochspannung sucht, da die Jugend mit dem Trend verbrüdert ist. Und berühmt zu sein, ist wahrscheinlich hoch spannend oder verspricht es zumindest zu sein.

Berühmt ist nicht gleich beliebt

Möglich ist aber auch, dass die Jugend Berühmtheit mit Beliebtheit verwechselt. Doch die Popularität der Sternchen am Showhimmel ist ein zweischneidiges Schwert: Frisch gebackene Celebrities bekunden Mühe, zwischen Freunden und Nutzniessern zu unterscheiden. Und schon sind wir bei den Nachteilen des Berühmtseins: «Ich kann mich nicht mehr in der Öffentlichkeit bewegen, da jeder meinen Namen und mein Gesicht kennt», bekennt etwa der hartgesottene Rapper Eminem.

Ein kolossaler Nachteil


Berühmtheit hat einen gigantischen, ja kolossalen Nachteil im Schlepptau: Sie bringt den Verlust der Freiheit mit sich. Der Freiheit, sich idiotisch zu gebärden, ohne dass sich die Regenbogen-Presse tags darauf das Maul darüber zerreisst. Der Freiheit, drauflos zu plappern, ohne dass jemand den Worten später öffentlich einen tieferen Sinn beimisst. Der Freiheit, sich zu verlieben, ohne dass die Welt zuschaut. Ist es nicht erstaunlich, dass manche Menschen die Anerkennung durch Fremde der Freiheit vorziehen, unbeobachtet sich selbst sein zu dürfen?

In Endo Anacondas Worten


Eine Schweizer Berühmtheit ist der Sänger Endo Anaconda. Er hat die Bekanntheit nicht explizit gesucht. Auf die Frage, was der grösste Nachteil seiner Bekanntheit sei, sagt er, dass er nicht überall hingehen könne, weil viele Menschen meinten, sie hätten ein Anrecht auf ihn. Was ist denn der grösste Vorteil? «Dass man im Restaurant einen Tisch bekommt.» Und was überwiegt? Vorteile oder Nachteile? «Ich kann es mir nicht mehr aussuchen», konstatiert er.

Wünsche sind nicht beeinflussbar, also auch nicht vorwerfbar. Wer sich aber wünscht, berühmt zu sein, sollte ein berühmtes Bonmot nicht vergessen: Pass auf, was du dir wünschst, dein Wunsch könnte in Erfüllung gehen.

Mittwoch, Oktober 07, 2009

Mercedes Sosa

Misa Creolla - Kyrie


La Maza (with Shakira)

Dienstag, Oktober 06, 2009

NZZ: «Die Maras sind wie Grippeviren»

NZZ: 22.09.2009
«Die Maras sind wie Grippeviren»
In El Salvador werden Jugendbanden für die Gewalt verantwortlich gemacht und hart verfolgt

Die Maras, die zentralamerikanischen Jugendbanden, werden für die grassierende Kriminalität in El Salvador verantwortlich gemacht. Doch die jungen Banditen sind selber auch Opfer von Polizei und Todesschwadronen, die sich zur «sozialen Säuberung» berufen fühlen.

Von unserem Auslandredaktor Oswald Iten

Die Colonia 22 de Abril in Soyapango ist eine «rote Zone» für die Polizei, was heisst, dass sie sich in diesen Slum höchstens in Kampfformation vorwagt. Weshalb, wird uns sofort klar, als wir am Eingang dieses zu den verrufensten Quartieren in El Salvador gehörenden Armenviertels aus dem Taxi steigen. Die Gebäude sind mit Graffiti übersät, die markieren, dass hier das Territorium der Mara Salvatrucha beginnt, der Jugendbande mit dem schlimmsten Ruf in diesem zentralamerikanischen Land. Weiter als bis zum Eingang kann kein Auto und auch kein Patrouillenwagen vordringen, denn in der Colonia sind die Gassen so eng, dass sich gerade zwei Personen kreuzen können und Materialtransporte nur mit dem Schubkarren möglich sind. Am Eingang dieses Slums der Satellitenstadt von San Salvador lungern Burschen herum, die auf irgendetwas zu warten scheinen. Sie tragen....


NZZ: 22.09.2009
«Die Maras sind wie Grippeviren»
In El Salvador werden Jugendbanden für die Gewalt verantwortlich gemacht und hart verfolgt

Die Maras, die zentralamerikanischen Jugendbanden, werden für die grassierende Kriminalität in El Salvador verantwortlich gemacht. Doch die jungen Banditen sind selber auch Opfer von Polizei und Todesschwadronen, die sich zur «sozialen Säuberung» berufen fühlen.

Von unserem Auslandredaktor Oswald Iten

Die Colonia 22 de Abril in Soyapango ist eine «rote Zone» für die Polizei, was heisst, dass sie sich in diesen Slum höchstens in Kampfformation vorwagt. Weshalb, wird uns sofort klar, als wir am Eingang dieses zu den verrufensten Quartieren in El Salvador gehörenden Armenviertels aus dem Taxi steigen. Die Gebäude sind mit Graffiti übersät, die markieren, dass hier das Territorium der Mara Salvatrucha beginnt, der Jugendbande mit dem schlimmsten Ruf in diesem zentralamerikanischen Land. Weiter als bis zum Eingang kann kein Auto und auch kein Patrouillenwagen vordringen, denn in der Colonia sind die Gassen so eng, dass sich gerade zwei Personen kreuzen können und Materialtransporte nur mit dem Schubkarren möglich sind. Am Eingang dieses Slums der Satellitenstadt von San Salvador lungern Burschen herum, die auf irgendetwas zu warten scheinen. Sie tragen Baseballmützen und viel zu tief sitzende Rapper-Hosen. Wir würden ihnen lieber nicht begegnen wollen, hätten wir nicht mit ihnen ein Treffen ausgemacht.

Luis ist der Anführer der Clika 22 de Abril, der Chef des lokalen Ablegers der Mara Salvatrucha. Zusammen mit drei Gesellen führt uns der 19-Jährige ins Labyrinth der Colonia. Misstrauische Augen durchbohren uns an jeder Ecke, aus jeder Türe, aus jeder Hängematte. Hunde kläffen uns an. Doch die Mitglieder der Bande nehmen uns in ihre Mitte und geben uns das feste Gefühl, in ihrem Schutz zu stehen. Warum nur haben sie eingewilligt, uns zu treffen? Weil vom Fernsehen und in den Zeitungen ein falsches Bild von ihnen vermittelt werde, ein tödliches Bild, das der Polizei als Berechtigung diene, jeden von ihnen jederzeit umlegen zu dürfen, sagt Luis.
Inzwischen lassen sich nicht mehr alle Bandenmitglieder tätowieren – die Aussicht, sich in Freiheit als lebende Zielscheibe zu präsentieren ist nicht besonders günstig.

El Salvador hat einen der brutalsten Bürgerkriege in Lateinamerika hinter sich. Zwischen 1980 und 1992 forderte dieser 75 000 Todesopfer, 6000 Verschwundene und 50 000 Kriegsinvalide. Aber viele Salvadorianer haben das Gefühl, heutzutage mehr der Gewalt ausgesetzt zu sein als damals. Dass El Salvador auf einigen «Ranglisten» der gewalttätigsten Länder noch vor Kolumbien erscheint, wird gemeinhin den Jugendbanden angelastet. Im Land mit fast 7 Millionen Einwohnern weisen Statistiken täglich um die 10 Morde aus. Eine Aufstellung kam in einem Jahr auf 22 000 Personen mit Schussverletzungen und 29 000 Messerattacken. Die meisten Salvadorianer sind selber ein oder mehrere Male Opfer von bewaffneten Überfällen geworden oder haben Verwandte mit diesem Schicksal. Im Bürgerkrieg schien die Gewalt kalkulierbar. Angesichts der Maras herrscht nun das dumpfe Gefühl, Gefahr lauere überall und jederzeit.

Die Entstehung der Maras – der Begriff kommt von gefrässigen «Killerameisen» namens Marabuntes – ist eng mit dem Bürgerkrieg verknüpft. Rund eine Million Salvadorianer flohen damals aus dem Land, die Mehrzahl in die USA und den Grossraum von Los Angeles. Im dortigen Milieu der Hispanics mussten sie zuerst untendurch. Manche Jugendliche schlossen Kontakt mit der von Mexikanern dominierten Strassengang Mara 18. Unzufriedene gründeten bald ihre eigene Gang, die Mara Salvatrucha, was so viel heisst wie Bande schlauer, gerissener Salvadorianer. Ab 1996 begannen die Vereinigten Staaten, straffällig gewordene Immigranten in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Die kriminellen Rückkehrer fanden sich in einer Gesellschaft wieder, die nach Jahrzehnten der Militärdiktatur und des Krieges von einer Kultur der Gewalt durchtränkt war. Waffen fanden sie zuhauf vor. Unter den perspektivlosen Jugendlichen gewannen die Gang-erfahrenen Heimkehrer rasch an Ansehen. Namen wie Los Hollywood Locos, eine Untergruppe der Salvatrucha, sind eine Referenz an den Ursprung der Maras. Aber es gibt kein zentrales Kommando, und die einzelnen Cliquen operieren relativ selbständig.

Der Herausforderung durch die Maras begegnete die Regierung mit dem «Plan mano dura», einer Politik der harten Hand. Zum Beispiel dehnte das eigens verabschiedete Sondergesetz (Ley antimaras) das Erwachsenenstrafrecht auf 12-Jährige aus. Der Erfolg blieb aus. Die bis diesen Sommer amtierende Rechtsregierung verordnete daraufhin den «Plan super mano dura», den Plan der «superharten» Hand. Die «eiserne Faust» sorgte für noch mehr Tote. Hinweise deuten darauf hin, dass die einst von Linken gefürchteten Todesschwadronen ein neues Tätigkeitsfeld gefunden haben. Sie widmen sich nicht mehr der politischen, sondern der sozialen Säuberung. Im Gespräch weist der Rektor der Jesuitenuniversität UCA, José María Tojeira, in Zusammenhang mit den Schwadronen auf einen weiteren Faktor hin, nämlich auf die 32 000 privaten Sicherheitsleute, eine «eigentliche Armee», fast doppelt an der Zahl wie die Polizeikräfte.

Ulrike Purrer Guardado schreibt in ihrem Buch «Jugendbanden in El Salvador», dass «erstmals seit dem Ende des Bürgerkrieges die Maras Anlass sind für den intensiven Einsatz des Militärs in Zusammenarbeit mit der Polizei. Die auf 10 000 bis 35 000 geschätzten salvadorianischen Bandenmitglieder werden erfolgreich dämonisiert und zum Sündenbock für alle Arten von Mord und Verbrechen deklariert.» Darob kommt es zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit.

Wenn also Luis bei der Polizei einen Freibrief zur Jagd auf seine Clika 22 de Abril sieht, hat er nicht unrecht. Das Mindeste, wenn ein Marero von der Polizei erwischt werde, seien drei Tage Prügel im Knast. Solange er im Quartier bleibe, sei er vor der Polizei ziemlich sicher. Dank einem gut organisierten Alarmsystem könnten sie blitzartig im Gassenlabyrinth untertauchen, sagt Luis. Er und seine Compañeros tragen keine Tätowierungen. Diese waren bis vor kurzem der auf den Leib gebrannte «Mitgliederausweis» eines echten Mareros. Früher bedeckten die Tattoos oft den ganzen Körper, auch das Gesicht, vermerkten jeden begangenen Mord und jeden verlorenen Freund mit einem eingebrannten Symbol. In der Freiheit sieht man nur noch selten tätowierte Mareros; die meisten sind umgebracht worden. Polizisten und Todesschwadronen sind die Brandzeichen Grund genug für einen kurzen Prozess.

Das Menschenleben ist trivial

Mehr noch als Polizisten fürchten und hassen Mareros Mitglieder der anderen Banden, im Falle der Salvatrucha diejenigen der M-18. Luis sagt, ein Mitglied der M-18, das sich in sein Revier wage, verlasse das Quartier im Auto, sprich im Leichenwagen. Untersuchungen haben ergeben, dass zwei Drittel aller Gewalttaten unter gegnerischen Maras begangen werden. Den Sinn hinterfragen die Banden nicht. Das einzelne Menschenleben ist trivial. Dieses gegenseitige Morden geschieht wie im Reflex, ein weiteres Zeichen der bedingungslosen Zugehörigkeit zur eigenen Bande. Diese Zugehörigkeit wird selber in einem Gewaltakt besiegelt: Mitglied der Mara ist erst, wer von den anderen Bandenmitgliedern auf brutalste Weise zusammengeschlagen wird und dies erträgt. Kandidatinnen steht es frei, alternativ eine Massenvergewaltigung über sich ergehen zu lassen. «El trencito», das Züglein, nennt sich das.

Was denn sind die Vorteile einer Zugehörigkeit zur Clika 22 de Abril? Marvil ist ihr jüngstes Mitglied. Gerade 12 Jahre alt, hat er die Eintrittstortur schon hinter sich und ist stolzer Besitzer einer Pistole. Eine Familie habe er keine, die Mara sei seine Familie, sie schütze ihn, ohne sie sei er nichts. Er müsse vor niemandem Angst haben. Er und die anderen Gangmitglieder, die noch auf freiem Fuss seien, beschützten die Leute im Quartier, solange sie die Clika respektierten. Dass die Mareros Schutzgelder erpressen, mit Drogen handeln und Auftragsmorde begehen, davon will er nichts wissen.

Auch im Sondergefängnis von Sonsonate geben sich die meisten Mareros als Unschuldslämmer aus. Mario wurde Waffenhandel vorgeworfen, Julio Kidnapping. Cesar lebte eine Zeitlang in Los Angeles. Zurück in der Heimat, hat er 15 Jahre bekommen, für einen Mord, den er nicht begangen habe. Er möchte gerne bei seinem 9-monatigen Sohn sein. «Hier haben wir ihn fabriziert», grinst Cesar hinter den Gittern hervor; einmal im Monat sind «visitas intimas» zugelassen. Das Gefängnisleben in Sonsonate scheint recht locker zu sein. In den Werkstätten wird gemalt und geschreinert, im Hof Basketball gespielt, in Schulzimmern Englisch unterrichtet.

Poesie unter Tattoos

So entspannt könnten die Mareros draussen nicht leben, sagt der Gefängnisdirektor Miguel Angel Abarca. Fluchtversuche scheint er nicht besonders zu fürchten. Oft seien es die Mütter oder die Freundinnen, die ihn von Fluchtplänen unterrichteten, berichtet er. Denn diese wüssten nur zu gut, dass ihre Liebsten im Gefängnis sicherer seien als draussen. Um in Sonsonate unterzukommen, müssten sich die Mareros von ihrer Gang lossagen, erklärt Abarca. Fast alle sind aber tätowiert, und sie könnten nirgendwo in El Salvador oder in Zentralamerika leben, ohne von anderen Gangmitgliedern erkannt und mit grosser Wahrscheinlichkeit als Verräter umgebracht zu werden.

Ein Drittel der 20 500 Häftlinge im Lande seien Mareros, sagt Evelyn Karina Torres vom Sicherheitsministerium in San Salvador. Die 532 in Sonsonate einsitzenden Bandenmitglieder seien Privilegierte, Reumütige, die von einer Sonderbehandlung profitierten. Lange gestand man einsitzenden Mareros keine Besserungsfähigkeit zu. Dany Balmore Romero ist so einer, der nach Verbüssung seiner Zeit statt freigelassen einem verschärften Haftregime unterzogen wurde; weil er seine Mitgefangenen in Fussballmannschaften und Fortbildungsgruppen organisiert habe, sagt er. Damals seien er und drei weitere Häftlinge sogar einmal von Polizisten aus dem Knast geholt, zusammengeschlagen und der Presse als grosser Erfolg präsentiert worden, als in einer nächtlichen Operation dingfest gemachte Übeltäter. Man habe ihnen die T-Shirts vom Leib gerissen; voilà, seht die Tattoos, Beweis genug für den inszenierten Polizeicoup.

Auch Dany will unbeteiligt an einer Mordszene gewesen sein, deretwegen er verhaftet wurde. Hätte man ihn einem Paraffintest unterzogen, wäre klar geworden, dass er keine Waffe abgefeuert habe. «Wenn du zu einer Bande gehörst, bist du stigmatisiert» – auch jetzt in Freiheit noch. Deshalb versteckt er seine Tätowierungen unter langen Ärmeln. Doch bereits durch langärmlige, hochgeschlossene Kleidung könnte er in Verdacht geraten. Dany ist eines der wenigen in der Öffentlichkeit auftretenden ehemaligen Mitglieder der Salvatrucha. Er ist der Exponent eines Projekts namens Opera, den Anfangsbuchstaben von optimismo, paz, esperanza, renovación, armonia (Optimismus, Friede, Hoffnung, Erneuerung, Harmonie), das dank der schwedischen Entwicklungshilfe zustande kam. Für Opera organisiert er in den Gefängnissen Fussballspiele, Theateraufführungen, Shows, Filmvorführungen, Serigraphie-Kurse und einen Bibliotheksdienst. Auch dafür werde er bedroht, von der Polizei, sagt Dany. Und würde einer von der M-18 seiner habhaft werden, wär's um ihn geschehen. Einmal Marero, immer Marero.

Die Matura hat Dany nachgeholt, Literatur möchte er studieren. Poesie ist seine Leidenschaft. Auf einem Computer-Stick führt Dany seine Gedichtsammlung mit; ausgedruckt würde sie 121 Seiten umfassen.

Die Liebe oder das Gewehr
Gefangen von Unwissenheit
befreite mich die Poesie.
Die Sehnsucht nach Gleichheit
stiftete mich zum Kampf für die Liebe an.
Worte waren die Waffen,
mein Herz leitete mich.
Aber meine Anstrengung war vergebens,
ohne Glück, die Ungerechtigkeit
stellte sich meiner Hoffnung entgegen,
so wie der Matador den Stier tödlich verletzt.
Im tiefsten Schmerz resignierend
lasse ich das Schreiben sein.
Ohne Ausweg
greife ich wieder zum Gewehr.

Danys Poesie ist zutiefst beeindruckend, ein Beispiel dafür, dass ein Marero nicht durch und durch ein hoffnungsloser Krimineller sein muss, sofern er die Chance zum Ausstieg bekommt.

Rehabilitationsprogramme für die Mareros sind selten von Erfolg gekrönt worden. Denn, so formulierte es der ehemalige Guerillakommandant Gersón Martínez kurz bevor er Minister für öffentliche Arbeiten in der neuen Linksregierung wurde: «Maras sind wie Grippeviren. Sie verändern sich je nach verabreichter Medizin.» Die den früheren Rechtsregierungen nahestehende Unternehmerschaft hat die seit Mitte des Jahres amtierende Linksregierung Funes aufgefordert, rasch Massnahmen gegen die steigende Kriminalität zu ergreifen. Die Mordrate ist in diesem Jahr auf 12 pro Tag angestiegen und die Zahl der Schutzgelderpressungen um 35 Prozent.