Dienstag, Oktober 06, 2009

NZZ: «Die Maras sind wie Grippeviren»

NZZ: 22.09.2009
«Die Maras sind wie Grippeviren»
In El Salvador werden Jugendbanden für die Gewalt verantwortlich gemacht und hart verfolgt

Die Maras, die zentralamerikanischen Jugendbanden, werden für die grassierende Kriminalität in El Salvador verantwortlich gemacht. Doch die jungen Banditen sind selber auch Opfer von Polizei und Todesschwadronen, die sich zur «sozialen Säuberung» berufen fühlen.

Von unserem Auslandredaktor Oswald Iten

Die Colonia 22 de Abril in Soyapango ist eine «rote Zone» für die Polizei, was heisst, dass sie sich in diesen Slum höchstens in Kampfformation vorwagt. Weshalb, wird uns sofort klar, als wir am Eingang dieses zu den verrufensten Quartieren in El Salvador gehörenden Armenviertels aus dem Taxi steigen. Die Gebäude sind mit Graffiti übersät, die markieren, dass hier das Territorium der Mara Salvatrucha beginnt, der Jugendbande mit dem schlimmsten Ruf in diesem zentralamerikanischen Land. Weiter als bis zum Eingang kann kein Auto und auch kein Patrouillenwagen vordringen, denn in der Colonia sind die Gassen so eng, dass sich gerade zwei Personen kreuzen können und Materialtransporte nur mit dem Schubkarren möglich sind. Am Eingang dieses Slums der Satellitenstadt von San Salvador lungern Burschen herum, die auf irgendetwas zu warten scheinen. Sie tragen....


NZZ: 22.09.2009
«Die Maras sind wie Grippeviren»
In El Salvador werden Jugendbanden für die Gewalt verantwortlich gemacht und hart verfolgt

Die Maras, die zentralamerikanischen Jugendbanden, werden für die grassierende Kriminalität in El Salvador verantwortlich gemacht. Doch die jungen Banditen sind selber auch Opfer von Polizei und Todesschwadronen, die sich zur «sozialen Säuberung» berufen fühlen.

Von unserem Auslandredaktor Oswald Iten

Die Colonia 22 de Abril in Soyapango ist eine «rote Zone» für die Polizei, was heisst, dass sie sich in diesen Slum höchstens in Kampfformation vorwagt. Weshalb, wird uns sofort klar, als wir am Eingang dieses zu den verrufensten Quartieren in El Salvador gehörenden Armenviertels aus dem Taxi steigen. Die Gebäude sind mit Graffiti übersät, die markieren, dass hier das Territorium der Mara Salvatrucha beginnt, der Jugendbande mit dem schlimmsten Ruf in diesem zentralamerikanischen Land. Weiter als bis zum Eingang kann kein Auto und auch kein Patrouillenwagen vordringen, denn in der Colonia sind die Gassen so eng, dass sich gerade zwei Personen kreuzen können und Materialtransporte nur mit dem Schubkarren möglich sind. Am Eingang dieses Slums der Satellitenstadt von San Salvador lungern Burschen herum, die auf irgendetwas zu warten scheinen. Sie tragen Baseballmützen und viel zu tief sitzende Rapper-Hosen. Wir würden ihnen lieber nicht begegnen wollen, hätten wir nicht mit ihnen ein Treffen ausgemacht.

Luis ist der Anführer der Clika 22 de Abril, der Chef des lokalen Ablegers der Mara Salvatrucha. Zusammen mit drei Gesellen führt uns der 19-Jährige ins Labyrinth der Colonia. Misstrauische Augen durchbohren uns an jeder Ecke, aus jeder Türe, aus jeder Hängematte. Hunde kläffen uns an. Doch die Mitglieder der Bande nehmen uns in ihre Mitte und geben uns das feste Gefühl, in ihrem Schutz zu stehen. Warum nur haben sie eingewilligt, uns zu treffen? Weil vom Fernsehen und in den Zeitungen ein falsches Bild von ihnen vermittelt werde, ein tödliches Bild, das der Polizei als Berechtigung diene, jeden von ihnen jederzeit umlegen zu dürfen, sagt Luis.
Inzwischen lassen sich nicht mehr alle Bandenmitglieder tätowieren – die Aussicht, sich in Freiheit als lebende Zielscheibe zu präsentieren ist nicht besonders günstig.

El Salvador hat einen der brutalsten Bürgerkriege in Lateinamerika hinter sich. Zwischen 1980 und 1992 forderte dieser 75 000 Todesopfer, 6000 Verschwundene und 50 000 Kriegsinvalide. Aber viele Salvadorianer haben das Gefühl, heutzutage mehr der Gewalt ausgesetzt zu sein als damals. Dass El Salvador auf einigen «Ranglisten» der gewalttätigsten Länder noch vor Kolumbien erscheint, wird gemeinhin den Jugendbanden angelastet. Im Land mit fast 7 Millionen Einwohnern weisen Statistiken täglich um die 10 Morde aus. Eine Aufstellung kam in einem Jahr auf 22 000 Personen mit Schussverletzungen und 29 000 Messerattacken. Die meisten Salvadorianer sind selber ein oder mehrere Male Opfer von bewaffneten Überfällen geworden oder haben Verwandte mit diesem Schicksal. Im Bürgerkrieg schien die Gewalt kalkulierbar. Angesichts der Maras herrscht nun das dumpfe Gefühl, Gefahr lauere überall und jederzeit.

Die Entstehung der Maras – der Begriff kommt von gefrässigen «Killerameisen» namens Marabuntes – ist eng mit dem Bürgerkrieg verknüpft. Rund eine Million Salvadorianer flohen damals aus dem Land, die Mehrzahl in die USA und den Grossraum von Los Angeles. Im dortigen Milieu der Hispanics mussten sie zuerst untendurch. Manche Jugendliche schlossen Kontakt mit der von Mexikanern dominierten Strassengang Mara 18. Unzufriedene gründeten bald ihre eigene Gang, die Mara Salvatrucha, was so viel heisst wie Bande schlauer, gerissener Salvadorianer. Ab 1996 begannen die Vereinigten Staaten, straffällig gewordene Immigranten in ihre Herkunftsländer abzuschieben. Die kriminellen Rückkehrer fanden sich in einer Gesellschaft wieder, die nach Jahrzehnten der Militärdiktatur und des Krieges von einer Kultur der Gewalt durchtränkt war. Waffen fanden sie zuhauf vor. Unter den perspektivlosen Jugendlichen gewannen die Gang-erfahrenen Heimkehrer rasch an Ansehen. Namen wie Los Hollywood Locos, eine Untergruppe der Salvatrucha, sind eine Referenz an den Ursprung der Maras. Aber es gibt kein zentrales Kommando, und die einzelnen Cliquen operieren relativ selbständig.

Der Herausforderung durch die Maras begegnete die Regierung mit dem «Plan mano dura», einer Politik der harten Hand. Zum Beispiel dehnte das eigens verabschiedete Sondergesetz (Ley antimaras) das Erwachsenenstrafrecht auf 12-Jährige aus. Der Erfolg blieb aus. Die bis diesen Sommer amtierende Rechtsregierung verordnete daraufhin den «Plan super mano dura», den Plan der «superharten» Hand. Die «eiserne Faust» sorgte für noch mehr Tote. Hinweise deuten darauf hin, dass die einst von Linken gefürchteten Todesschwadronen ein neues Tätigkeitsfeld gefunden haben. Sie widmen sich nicht mehr der politischen, sondern der sozialen Säuberung. Im Gespräch weist der Rektor der Jesuitenuniversität UCA, José María Tojeira, in Zusammenhang mit den Schwadronen auf einen weiteren Faktor hin, nämlich auf die 32 000 privaten Sicherheitsleute, eine «eigentliche Armee», fast doppelt an der Zahl wie die Polizeikräfte.

Ulrike Purrer Guardado schreibt in ihrem Buch «Jugendbanden in El Salvador», dass «erstmals seit dem Ende des Bürgerkrieges die Maras Anlass sind für den intensiven Einsatz des Militärs in Zusammenarbeit mit der Polizei. Die auf 10 000 bis 35 000 geschätzten salvadorianischen Bandenmitglieder werden erfolgreich dämonisiert und zum Sündenbock für alle Arten von Mord und Verbrechen deklariert.» Darob kommt es zu keinem Aufschrei in der Öffentlichkeit.

Wenn also Luis bei der Polizei einen Freibrief zur Jagd auf seine Clika 22 de Abril sieht, hat er nicht unrecht. Das Mindeste, wenn ein Marero von der Polizei erwischt werde, seien drei Tage Prügel im Knast. Solange er im Quartier bleibe, sei er vor der Polizei ziemlich sicher. Dank einem gut organisierten Alarmsystem könnten sie blitzartig im Gassenlabyrinth untertauchen, sagt Luis. Er und seine Compañeros tragen keine Tätowierungen. Diese waren bis vor kurzem der auf den Leib gebrannte «Mitgliederausweis» eines echten Mareros. Früher bedeckten die Tattoos oft den ganzen Körper, auch das Gesicht, vermerkten jeden begangenen Mord und jeden verlorenen Freund mit einem eingebrannten Symbol. In der Freiheit sieht man nur noch selten tätowierte Mareros; die meisten sind umgebracht worden. Polizisten und Todesschwadronen sind die Brandzeichen Grund genug für einen kurzen Prozess.

Das Menschenleben ist trivial

Mehr noch als Polizisten fürchten und hassen Mareros Mitglieder der anderen Banden, im Falle der Salvatrucha diejenigen der M-18. Luis sagt, ein Mitglied der M-18, das sich in sein Revier wage, verlasse das Quartier im Auto, sprich im Leichenwagen. Untersuchungen haben ergeben, dass zwei Drittel aller Gewalttaten unter gegnerischen Maras begangen werden. Den Sinn hinterfragen die Banden nicht. Das einzelne Menschenleben ist trivial. Dieses gegenseitige Morden geschieht wie im Reflex, ein weiteres Zeichen der bedingungslosen Zugehörigkeit zur eigenen Bande. Diese Zugehörigkeit wird selber in einem Gewaltakt besiegelt: Mitglied der Mara ist erst, wer von den anderen Bandenmitgliedern auf brutalste Weise zusammengeschlagen wird und dies erträgt. Kandidatinnen steht es frei, alternativ eine Massenvergewaltigung über sich ergehen zu lassen. «El trencito», das Züglein, nennt sich das.

Was denn sind die Vorteile einer Zugehörigkeit zur Clika 22 de Abril? Marvil ist ihr jüngstes Mitglied. Gerade 12 Jahre alt, hat er die Eintrittstortur schon hinter sich und ist stolzer Besitzer einer Pistole. Eine Familie habe er keine, die Mara sei seine Familie, sie schütze ihn, ohne sie sei er nichts. Er müsse vor niemandem Angst haben. Er und die anderen Gangmitglieder, die noch auf freiem Fuss seien, beschützten die Leute im Quartier, solange sie die Clika respektierten. Dass die Mareros Schutzgelder erpressen, mit Drogen handeln und Auftragsmorde begehen, davon will er nichts wissen.

Auch im Sondergefängnis von Sonsonate geben sich die meisten Mareros als Unschuldslämmer aus. Mario wurde Waffenhandel vorgeworfen, Julio Kidnapping. Cesar lebte eine Zeitlang in Los Angeles. Zurück in der Heimat, hat er 15 Jahre bekommen, für einen Mord, den er nicht begangen habe. Er möchte gerne bei seinem 9-monatigen Sohn sein. «Hier haben wir ihn fabriziert», grinst Cesar hinter den Gittern hervor; einmal im Monat sind «visitas intimas» zugelassen. Das Gefängnisleben in Sonsonate scheint recht locker zu sein. In den Werkstätten wird gemalt und geschreinert, im Hof Basketball gespielt, in Schulzimmern Englisch unterrichtet.

Poesie unter Tattoos

So entspannt könnten die Mareros draussen nicht leben, sagt der Gefängnisdirektor Miguel Angel Abarca. Fluchtversuche scheint er nicht besonders zu fürchten. Oft seien es die Mütter oder die Freundinnen, die ihn von Fluchtplänen unterrichteten, berichtet er. Denn diese wüssten nur zu gut, dass ihre Liebsten im Gefängnis sicherer seien als draussen. Um in Sonsonate unterzukommen, müssten sich die Mareros von ihrer Gang lossagen, erklärt Abarca. Fast alle sind aber tätowiert, und sie könnten nirgendwo in El Salvador oder in Zentralamerika leben, ohne von anderen Gangmitgliedern erkannt und mit grosser Wahrscheinlichkeit als Verräter umgebracht zu werden.

Ein Drittel der 20 500 Häftlinge im Lande seien Mareros, sagt Evelyn Karina Torres vom Sicherheitsministerium in San Salvador. Die 532 in Sonsonate einsitzenden Bandenmitglieder seien Privilegierte, Reumütige, die von einer Sonderbehandlung profitierten. Lange gestand man einsitzenden Mareros keine Besserungsfähigkeit zu. Dany Balmore Romero ist so einer, der nach Verbüssung seiner Zeit statt freigelassen einem verschärften Haftregime unterzogen wurde; weil er seine Mitgefangenen in Fussballmannschaften und Fortbildungsgruppen organisiert habe, sagt er. Damals seien er und drei weitere Häftlinge sogar einmal von Polizisten aus dem Knast geholt, zusammengeschlagen und der Presse als grosser Erfolg präsentiert worden, als in einer nächtlichen Operation dingfest gemachte Übeltäter. Man habe ihnen die T-Shirts vom Leib gerissen; voilà, seht die Tattoos, Beweis genug für den inszenierten Polizeicoup.

Auch Dany will unbeteiligt an einer Mordszene gewesen sein, deretwegen er verhaftet wurde. Hätte man ihn einem Paraffintest unterzogen, wäre klar geworden, dass er keine Waffe abgefeuert habe. «Wenn du zu einer Bande gehörst, bist du stigmatisiert» – auch jetzt in Freiheit noch. Deshalb versteckt er seine Tätowierungen unter langen Ärmeln. Doch bereits durch langärmlige, hochgeschlossene Kleidung könnte er in Verdacht geraten. Dany ist eines der wenigen in der Öffentlichkeit auftretenden ehemaligen Mitglieder der Salvatrucha. Er ist der Exponent eines Projekts namens Opera, den Anfangsbuchstaben von optimismo, paz, esperanza, renovación, armonia (Optimismus, Friede, Hoffnung, Erneuerung, Harmonie), das dank der schwedischen Entwicklungshilfe zustande kam. Für Opera organisiert er in den Gefängnissen Fussballspiele, Theateraufführungen, Shows, Filmvorführungen, Serigraphie-Kurse und einen Bibliotheksdienst. Auch dafür werde er bedroht, von der Polizei, sagt Dany. Und würde einer von der M-18 seiner habhaft werden, wär's um ihn geschehen. Einmal Marero, immer Marero.

Die Matura hat Dany nachgeholt, Literatur möchte er studieren. Poesie ist seine Leidenschaft. Auf einem Computer-Stick führt Dany seine Gedichtsammlung mit; ausgedruckt würde sie 121 Seiten umfassen.

Die Liebe oder das Gewehr
Gefangen von Unwissenheit
befreite mich die Poesie.
Die Sehnsucht nach Gleichheit
stiftete mich zum Kampf für die Liebe an.
Worte waren die Waffen,
mein Herz leitete mich.
Aber meine Anstrengung war vergebens,
ohne Glück, die Ungerechtigkeit
stellte sich meiner Hoffnung entgegen,
so wie der Matador den Stier tödlich verletzt.
Im tiefsten Schmerz resignierend
lasse ich das Schreiben sein.
Ohne Ausweg
greife ich wieder zum Gewehr.

Danys Poesie ist zutiefst beeindruckend, ein Beispiel dafür, dass ein Marero nicht durch und durch ein hoffnungsloser Krimineller sein muss, sofern er die Chance zum Ausstieg bekommt.

Rehabilitationsprogramme für die Mareros sind selten von Erfolg gekrönt worden. Denn, so formulierte es der ehemalige Guerillakommandant Gersón Martínez kurz bevor er Minister für öffentliche Arbeiten in der neuen Linksregierung wurde: «Maras sind wie Grippeviren. Sie verändern sich je nach verabreichter Medizin.» Die den früheren Rechtsregierungen nahestehende Unternehmerschaft hat die seit Mitte des Jahres amtierende Linksregierung Funes aufgefordert, rasch Massnahmen gegen die steigende Kriminalität zu ergreifen. Die Mordrate ist in diesem Jahr auf 12 pro Tag angestiegen und die Zahl der Schutzgelderpressungen um 35 Prozent.

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