Tages Anzeiger 28.09.2009
«Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar»
Von Karin Meier. Aktualisiert am 28.09.2009
«Wer Anerkennung für seine Arbeit erhält, ist stressresistenter», sagt Norbert K. Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Bern.
Was tut der Experte gegen Stress? Arbeitspsychologe Norbert Semmer spielt Cello, macht Gymnastik oder spricht mit seiner Frau.
Herr Semmer, heute gilt als chic, gestresst zu sein. Wann handelt es sich bei Stress um blosse Koketterie, wann um ein echtes Problem?
Bei Umfragen im Bekanntenkreis ist jeder gestresst. In wissenschaftlichen Untersuchungen fallen aber nur wenige Menschen in diese Kategorie. Heute will jeder als überlastet gelten, aber nicht als überfordert, denn dies stellt eine Bedrohung des Selbstwertgefühls dar. Die Grenze zwischen diesen beiden Zuständen ist jedoch sehr dünn.
Es heisst, ein bisschen Stress sei gesund, zu viel Stress mache jedoch krank. Wie sehen Sie das?
Die Stresssituationen selbst werden....
Tages Anzeiger 28.09.2009
«Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar»
Von Karin Meier. Aktualisiert am 28.09.2009
«Wer Anerkennung für seine Arbeit erhält, ist stressresistenter», sagt Norbert K. Semmer, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Uni Bern.
Was tut der Experte gegen Stress? Arbeitspsychologe Norbert Semmer spielt Cello, macht Gymnastik oder spricht mit seiner Frau.
Herr Semmer, heute gilt als chic, gestresst zu sein. Wann handelt es sich bei Stress um blosse Koketterie, wann um ein echtes Problem?
Bei Umfragen im Bekanntenkreis ist jeder gestresst. In wissenschaftlichen Untersuchungen fallen aber nur wenige Menschen in diese Kategorie. Heute will jeder als überlastet gelten, aber nicht als überfordert, denn dies stellt eine Bedrohung des Selbstwertgefühls dar. Die Grenze zwischen diesen beiden Zuständen ist jedoch sehr dünn.
Es heisst, ein bisschen Stress sei gesund, zu viel Stress mache jedoch krank. Wie sehen Sie das?
Die Stresssituationen selbst werden überwiegend negativ erlebt. Oft halten die Belastungssymptome auch dann an, wenn die eigentliche Ursache längst verschwunden ist. Solange man aber nach einer Stresssituation in eine Phase der Erholung übergehen kann, bleiben negative Folgen aus. Die Konsequenzen können sogar positiv sein: Wer beispielsweise eine schwierige Situation durchsteht, kann an Selbstbewusstsein gewinnen.
Woran merkt man, dass man überlastet ist?
Zu den klassischen Symptomen zählen Dünnhäutigkeit und Gereiztheit, sozialer Rückzug und länger anhaltende Schlafprobleme. Betroffen ist auch unser Kommunikationsverhalten, etwa wenn wir kaum mehr zuhören oder auch wenn wir Sätze nicht beenden. Im Berufsleben leiden vor allem Wartungs- und Kontrolltätigkeiten, aber auch Ordnung und Sauberkeit, kurz all jenes, was sich nur langfristig auszahlt. Die Leistungsfähigkeit für die Primäraufgaben bleibt allerdings erstaunlich lange erhalten, da man für deren Bewältigung seine Kräfte mobilisiert.
Welche Menschen leiden vor allem unter Stress?
Menschen sind unterschiedlich belastbar. Unternehmen möchten belastbare Leute – am belastbarsten sind aber oft diejenigen, die sich nicht für ihre Arbeit interessieren.
Desinteresse? Habe ich Sie richtig verstanden?
Ja, diejenigen Mitarbeiter, die sich sehr stark mit ihrem Beruf identifizieren, sind nur in Grenzen belastbar, denn Identifikation mit dem Beruf macht verletzbar. Deshalb sollten Unternehmen darauf achten, dass sie ihre Mitarbeiter nicht zu sehr belasten. Ansonsten macht sich unter den engagierten Mitarbeitern Zynismus breit, oder aber es machen Leute Karriere, denen es primär um ihre eigene Agenda geht, wie zum Beispiel eine Selbstdarstellung als erfolgreicher Mitarbeiter.
Welches sind die wichtigsten stressrelevanten Faktoren?
Zu den sogenannten Stressoren zählen die Arbeitsaufgaben, etwa wenn sie monoton und langweilig sind, die physischen, sozialen und organisatorischen Bedingungen sowie die Arbeitsorganisation. Ein typischer Stressfaktor sind beispielsweise nicht funktionierende Computersysteme. Solche Tätigkeiten verschlingen viel Zeit, die dann bei den eigentlichen Aufgaben fehlt. Belastungen, die mit den Kernaufgaben zusammenhängen, nimmt man meist gern in Kauf. Besonders gravierend ist Stress dann, wenn er eine Bedrohung des Selbstwerts darstellt. Dies ist besonders bei mangelnder Anerkennung der Fall.
Zum Beispiel?
Wenn ein Hitze abstrahlender Fotokopierer direkt neben dem Arbeitsplatz einer Sekretärin aufgestellt wird, kann sich diese dadurch abgewertet fühlen. In ihrer Wahrnehmung erscheint sie ihren Chefs nicht als wichtig genug, um sie vor der Hitze zu schützen. Dieses Phänomen der Abwertung nenne ich die «soziale Bedeutung der Hitze».
Handelt es sich bei der Bedrohung des professionellen Selbstwerts um Einzelfälle?
Abwertung ist weit verbreitet. Sie findet sich in vielen Lohnsystemen, da diese teils sehr einseitige Messungen vornehmen: Man misst, was man gut messen kann, auch wenn dies die Arbeitsqualität nicht fair widerspiegelt. Arbeitnehmer werden so häufig für Dinge bestraft, die sie für gute Arbeit halten, etwa wenn sie sich Zeit nehmen für ein Gespräch.
Wie bewältigt man Stress am besten?
Stress kann entweder problembezogen oder gefühlsbezogen angegangen werden. Im ersten Fall versucht man, die Situation zu verändern, im zweiten Fall geht es darum, zur gleichen Situation einen neuen Zugang zu finden.
Ist gefühlsbezogene Stressbewältigung nicht reine Symptombekämpfung?
Gefühlsbezogene Stressbewältigung ändert an der Situation zwar nichts, wohl aber an den Gefühlen in Bezug auf Stress. Wer zum Ausgleich beispielsweise Sport treibt, lenkt seine Aufmerksamkeit weg von der belastenden Situation. Auch wer lernt, ruhig durchzuatmen, kann Stress viel gelassener angehen. Weniger gut sind gefühlsbezogene Stressbewältigungsmassnahmen wie Rauchen oder Trinken.
Was beugt man stressbedingten Erkrankungen vor?
Einerseits sollten unnötige Belastungen vermieden werden. Aber auch das Abschalten von der Arbeit muss gepflegt werden. Etwa durch Sport. Rituale, die jeder für sich entdecken und bestimmen kann und die jeden Tag möglichst ähnlich ablaufen sollten. Auch Meditation ist ein solches Ritual, das helfen kann, die Umstellung von der Arbeit ins Privatleben besser zu bewältigen.
Was machen Sie selbst gegen Stress?
Ich kann zum Glück meist gut abschalten. Den Tag beginne ich mit Gymnastik, daneben spiele ich Cello. Und ich unterhalte mich gerne und oft mit meiner Frau.
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