Dienstag, Dezember 08, 2009

Montag, Dezember 07, 2009

TA Lewinsky: «Jetzt müssen wir sogar Köppels triumphierende Ironie schlucken»

«Jetzt müssen wir sogar Köppels triumphierende Ironie schlucken»
Von Charles Lewinsky.

Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky äussert sich in einem Essay über das Minarettverbot, den ewigen Populismus und Roger Köppel.

Alle Macht geht vom Stammtisch aus.

Der Schweizer Autor wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Regieassistent (bei Fritz Kortner), Bühnenregisseur und als Redaktor und Ressortleiter für das Schweizer Fernsehen. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller. Bekannt wurde er als Autor der Sitcoms «Fascht e Familie» und «Fertig lustig». Er schrieb auch das Drehbuch zum Kinofilm «Ein ganz gewöhnlicher Jude» und Hunderte von Chansons. Seinen literarischen Durchbruch erzielte er 2006 mit der jüdischen Familiensaga «Melnitz». Es folgten «Zehnundeine Nacht» und, gerade ausgeliefert, der Fortsetzungsroman «Doppelpass». Lewinsky lebt in Frankreich und Zürich. (TA)

Eidenbenz.

Ich habe ihn erfunden. Für einen satirischen Roman. Als Musterbild eines Politikers, der mit dem Appell an dumpfe Vorurteile Karriere macht. Der auf alles losgeht, was man mit etwas Fantasie als fremd oder unschweizerisch bezeichnen kann, weil er sich darauf verlässt, dass es für den politischen Erfolg keine differenzierte Argumentation braucht, solange man nicht an die Urteils-, sondern nur an die Vorurteilskraft seiner Wähler appelliert. Weil er von Franz Josef Strauss gelernt hat, dass im Krieg der Meinungen die Lufthoheit über den Stammtischen entscheidend ist. Weil er den zentralen Lehrsatz des Populismus...


«Jetzt müssen wir sogar Köppels triumphierende Ironie schlucken»
Von Charles Lewinsky.

Der Schweizer Schriftsteller Charles Lewinsky äussert sich in einem Essay über das Minarettverbot, den ewigen Populismus und Roger Köppel.
Alle Macht geht vom Stammtisch aus.

Der Schweizer Autor wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Regieassistent (bei Fritz Kortner), Bühnenregisseur und als Redaktor und Ressortleiter für das Schweizer Fernsehen. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller. Bekannt wurde er als Autor der Sitcoms «Fascht e Familie» und «Fertig lustig». Er schrieb auch das Drehbuch zum Kinofilm «Ein ganz gewöhnlicher Jude» und Hunderte von Chansons. Seinen literarischen Durchbruch erzielte er 2006 mit der jüdischen Familiensaga «Melnitz». Es folgten «Zehnundeine Nacht» und, gerade ausgeliefert, der Fortsetzungsroman «Doppelpass». Lewinsky lebt in Frankreich und Zürich. (TA)

Eidenbenz.

Ich habe ihn erfunden. Für einen satirischen Roman. Als Musterbild eines Politikers, der mit dem Appell an dumpfe Vorurteile Karriere macht. Der auf alles losgeht, was man mit etwas Fantasie als fremd oder unschweizerisch bezeichnen kann, weil er sich darauf verlässt, dass es für den politischen Erfolg keine differenzierte Argumentation braucht, solange man nicht an die Urteils-, sondern nur an die Vorurteilskraft seiner Wähler appelliert. Weil er von Franz Josef Strauss gelernt hat, dass im Krieg der Meinungen die Lufthoheit über den Stammtischen entscheidend ist. Weil er den zentralen Lehrsatz des Populismus verinnerlicht hat: Das einfache Argument schlägt jederzeit das richtige. Diffamieren geht über Studieren.

Eidenbenz.

Ich habe ihn in einen Fortsetzungsroman für die «Weltwoche» gepackt, weil die «Weltwoche» das Lieblingsblatt aller Eidenbenze ist. Der eine oder andere Leser, habe ich mir gedacht, würde vielleicht durch diese übertriebene Figur und ihre verquere Denkweise ein bisschen in seinen vorgefassten Meinungen erschüttert. Weil Lächerlichkeit, so dachte ich, doch töten kann.

Es war eine falsche Überlegung. In einer literarischen Satire entsteht Lächerlichkeit aus dem Kontrast zwischen Erfindung und Realität. Und hier gab es diesen Kontrast nicht. Eidenbenz ist die Realität. Er hat die Mehrheit in der Schweiz. 57,47 Prozent.

Unser Land ist dabei, sich zu eidenbenzisieren.

Im Lauf des Abstimmungskampfes haben wir viele Argumente gehört, die nur ein Eidenbenz (oder sein PR-Spezialist) erfunden haben konnte. «Ich bin gegen Minarette, weil ich mich für Frauenrechte einsetze.» Einleuchtend. Weil Frauenrechte und Minarette ja dasselbe sind. So wie Fahrräder und Bratwürste. «Ich bin für die Minarett-Initiative, weil man in Saudiarabien keine Kirchen bauen darf.» Klar. Man beweist seine moralische Überlegenheit am besten, indem man das, was man verurteilt, selber tut. «Ich bin für die Minarett-Initiative, weil die Schweiz sonst islamisiert wird.» Natürlich, die verdammten Ausländer wollen unser Land übernehmen. Die U-17-Nationalmannschaft haben sie schon unterwandert. Und im Zürcher Tram werden die Stationen auch schon hochdeutsch angesagt. Wehret den Anfängen.

Wir haben den Kampf gegen diesen eidenbenzischen Pseudodenk nie wirklich aufgenommen, weil wir uns nicht vorstellen konnten, dass eine Mehrheit solche logischen Bocksprünge mithüpfen würde. Wir sind unterlegen, weil wir uns so überlegen glaubten. Weil uns das selbstgefällige Gefühl, Recht zu haben, wichtiger war als die Anstrengung, Recht zu bekommen. Wie Tom Lehrer einmal gesungen hat: «They won all the battles, but we had all the good songs.»

Und wir haben uns auf die Umfragen verlassen. Nicht bedenkend, dass man nicht jeden neugierigen Frager an seinen Stammtisch einlädt. Was dort besprochen wird, verrät man keinem Aussenseiter. Schon gar nicht, wenn er Claude Longchamp heisst.

Wir sind selber schuld. Wir haben nichts gelernt. Nicht aus den eigenen Erfahrungen und nicht aus der Schweizer Geschichte.

Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass Eidenbenz sich durchgesetzt hat. Schon im Jahr 1893 hat er gewonnen. Damals hiess er Dürrenmatt, Ulrich Dürrenmatt, war Chefredaktor der «Volkszeitung» und Mitbegründer der Berner Volkspartei. Es gab zu seiner Zeit noch keine Muslime in der Schweiz, auf die er hätte einschlagen können, und so ging er halt auf die Juden los. Die Volksinitiative war gerade als neues In-strument in die Verfassung aufgenommen worden, und nun wurde sie zum allerersten Mal eingesetzt. Es war ein Abstimmungskampf mit heftigen antisemitischen Parolen, und am Schluss war das Schächtverbot in die Bundesverfassung aufgenommen. Mit 60,11 Prozent Ja-Stimmen. Eidenbenz' Wählerschaft scheint stabil zu sein. Von der ersten Volksinitiative bis zur jüngsten.

1893 war das. Soll einer sagen, dass in unserem Land die Traditionen nicht gepflegt werden.

1893. Damals war die Familie Schlüer noch nicht einmal eingebürgert.

Aber Sarkasmus hilft nicht weiter. Wir müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass wir in einem Land leben, in dem die 1.-August-Reden immer weniger mit der Realität zu tun haben. Die weltoffene, tolerante, alle Religionen gleich behandelnde Schweiz wird zwar noch lang in den Ansprachen verkündet werden, aber die schönen Worte gelten eben nur, solange die Höhenfeuer glühen und der Duft der Festbratwürste in der Luft hängt. Im Alltag müssen wir es hinnehmen, dass uns die Le Pens und die Wilders zu Vorbildern erklären, wir müssen damit leben, dass uns die FPÖ und die Dänische Volkspartei Komplimente machen. Wir können uns noch nicht einmal dagegen wehren, wenn Libyen – ausgerechnet Libyen, dieser von einem mafiösen Familienclan beherrschte Unrechtsstaat – von einer «religiös-rassistischen Aktion» spricht. Genau das war es ja.

Wir müssen es sogar schlucken, wenn jetzt Roger Köppel mit der triumphierenden Ironie des Siegers hämisch kommentiert: «In der Welt geht offensichtlich ein Gespenst um. Es heisst Demokratie.» Weil es nichts mehr am Abstimmungsergebnis ändert, wenn wir ihm post festum antworten: «Nein, Herr Köppel, das Gespenst heisst nicht Demokratie. Es heisst Populismus.» Das Gespenst heisst Eidenbenz.

Auch Klagen bis zum Europäischen Gerichtshof werden nichts an der Tatsache ändern, dass wir in souveräner Volksentscheidung beschlossen haben, unsere Verfassung gleichzeitig zu ändern und zu brechen. Wir müssen akzeptieren, dass die Verfassung der Schweiz am letzten Sonntag schlechter geworden ist. In jedem Sinn des Wortes.

Und wie soll es weitergehen?

Wir dürfen jetzt nicht den Fehler machen, uns darauf herauszureden, wir persönlich hätten nichts damit zu tun, denn wir hätten ja ein Nein in die Urne gelegt. Das rituelle Sich-für-unser-Land-Schämen, das in den letzten Tagen Mode geworden ist, bringt erst recht nichts. Wenn wir uns für etwas schämen müssen, dann für das Versäumnis, gegen die Eidenbenze und ihre Initiative nicht so gekämpft zu haben, wie das nötig gewesen wäre. Stehen wir nicht hochmütig beiseite, sondern bringen wir uns ein!

Wer unsere Demokratie ernst nimmt, ernster als die Leute, die jetzt schon damit liebäugeln, zur Verteidigung ihres Absolutheitsanspruchs auch noch die Menschenrechtskonvention aufzukündigen, der muss sich eingestehen: Nicht «die andern» haben das Minarettverbot angenommen, sondern wir. Wir, die Stimmbürger.

Nichts wäre falscher, als uns jetzt von den Befürwortern abgrenzen zu wollen. Kurt Tucholsky hat einmal, als in den Zwanzigerjahren die fremdenfeindliche Propaganda im Freistaat immer mehr zunahm, die Parole ausgegeben: «Reisende, meidet Bayern!» Sollen wir es ihm nachmachen und die Forderung aufstellen: «Reisende, meidet Innerrhoden?» Nur weil man sich im Halbkanton, wo es kaum Muslime gibt, so eindeutig gegen deren freie Religionsausübung entschieden hat? Dann bekommt die nächste entsprechende Initiative dort nicht nur 71 Prozent der Stimmen, sondern noch ein paar mehr.

Eidenbenz als Vorbild


Wenn wir nicht zulassen wollen, dass die Schweiz von ihren Populisten immer weiter haiderisiert wird, wenn unser Land nicht noch den letzten Rest von Glaubwürdigkeit und Ansehen in der Welt verlieren soll, dann müssen wir von den Eidenbenzen lernen. Müssen lernen, so populär zu argumentieren wie sie. Das Gespräch auf allen Ebenen zu suchen wie sie. Uns für unsere Überzeugungen einzusetzen wie sie.

«Am besten, man geht überhaupt nicht mehr abstimmen», habe ich in den letzten Tagen ein paar Mal gehört. Aber wir dürfen jetzt nicht mit angeekelter Miene abseitsstehen. Es bringt nichts, wenn wir unsere intellektuelle Entrüstung so stolz und so wirkungslos zur Schau stellen wie früher einmal das Mao-Zitat auf dem T-Shirt. Wir müssen uns einsetzen. Die Kleinarbeit nicht scheuen. In Parteien eintreten. Wenn Christoph Blocher sich neuerdings den Vietcong zum Vorbild nimmt, dann können wir auch etwas von der Protestbewegung in der DDR lernen: Wir sind das Volk. Und das Volk – ich will die Hoffnung nicht aufgeben, dass Bertolt Brecht mit seiner Formulierung Recht hatte –, das Volk ist nicht tümlich. Der Schweizer ist nicht an sich spiessig, fremdenfeindlich oder reaktionär. Eigentlich nicht. Ausser wenn es sich den Eidenbenzen dieser Welt ausliefert.

Eidenbenz.

Ich habe ihn erfunden, um über ihn zu lachen. Aber jetzt ist nicht die Zeit zum Lachen. Jetzt ist die Zeit, sich gegen ihn zu wehren.

(Tages-Anzeiger)

Sonntag, Dezember 06, 2009

NZZ: Vom Glauben zum Wissen

3. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung

Vom Glauben zum Wissen
Wie findet der Islam zur Moderne? Bis heute sind Versuche von religiösen Reformen am Fels der Orthodoxie gescheitert

Wie die Schweizer Abstimmung über die Minarette mit zeigt, wird der Islam in weiten Teilen Europas nicht nur als Religion, sondern als politische Ideologie wahrgenommen, deren ungebrochener Herrschaftsanspruch sich auf den Koran stützt. Versuche von Reformen sind an der Allmacht des heiligen Buches gescheitert.

Hamed Abdel-Samad

Seit Generationen empfindet die islamische Welt ein Gefühl der Ohnmacht und der Demütigung gegenüber Europa. Als Napoleon im Jahre 1798 mit seiner Flotte in Alexandrien anlegte, gab es eine asymmetrische Begegnung zwischen einer technisch überlegenen europäischen Macht und einer in der Tradition verhafteten islamischen Kultur. Erst das Auftauchen des «Anderen» machte die Muslime auf die eigene Schwäche und Rückständigkeit aufmerksam. Danach folgten traumatische Erfahrungen mit Kolonialismus, Ausbeutung und Unterdrückung, die im Kollektivgedächtnis aller Muslime fest eingraviert sind. Das Ergebnis davon war....


3. Dezember 2009, Neue Zürcher Zeitung

Vom Glauben zum Wissen
Wie findet der Islam zur Moderne? Bis heute sind Versuche von religiösen Reformen am Fels der Orthodoxie gescheitert

Wie die Schweizer Abstimmung über die Minarette mit zeigt, wird der Islam in weiten Teilen Europas nicht nur als Religion, sondern als politische Ideologie wahrgenommen, deren ungebrochener Herrschaftsanspruch sich auf den Koran stützt. Versuche von Reformen sind an der Allmacht des heiligen Buches gescheitert.

Hamed Abdel-Samad

Seit Generationen empfindet die islamische Welt ein Gefühl der Ohnmacht und der Demütigung gegenüber Europa. Als Napoleon im Jahre 1798 mit seiner Flotte in Alexandrien anlegte, gab es eine asymmetrische Begegnung zwischen einer technisch überlegenen europäischen Macht und einer in der Tradition verhafteten islamischen Kultur. Erst das Auftauchen des «Anderen» machte die Muslime auf die eigene Schwäche und Rückständigkeit aufmerksam. Danach folgten traumatische Erfahrungen mit Kolonialismus, Ausbeutung und Unterdrückung, die im Kollektivgedächtnis aller Muslime fest eingraviert sind. Das Ergebnis davon war eine «anthropologische Wunde», wie es der syrische Philosoph Georg Tarabishi nennt; eine chronische Kränkung, die bis heute andauert.

Das Feld der Orthodoxie

Trotz wiederholten Modernisierungsversuchen schaffte es die islamische Welt nicht, den Anschluss an Europa zu finden, da sie sich mit dem Geist der Moderne weder versöhnen konnte noch wollte. Hadatha, der arabische Begriff für Moderne, der aus dem 19. Jahrhundert stammt, impliziert den Beginn eines neuen Zeitalters. Er ist sprachlich verwandt mit dem Begriff muhdatha, «etwas Neues», was im orthodoxen Islam sehr negativ gesehen wird. Der Prophet Mohammed soll gesagt haben: «Jedes muhdatha ist eine Erfindung, und jede Erfindung führt zur Verwirrung, und jede Verwirrung landet in der Hölle.» Vergleicht man den arabischen mit dem japanischen Begriff für Moderne, sieht man den Unterschied in der Geisteshaltung gegenüber dem Neuen. Der japanische Begriff, der ebenfalls Ende des 19. Jahrhunderts entstand, lautet bunmei kaika, «Öffnung der Zivilisation».

Schon im «goldenen Zeitalter» des Islam, als arabische Wissenschaft und Philosophie florierten, gab es eine heftige Auseinandersetzung zwischen rationalem Denken und buchstabentreuer Lebensweise, die mit dem Sieg der Traditionalisten, für die Kontinuität wichtiger war als Erneuerung, endete. Seitdem gab es in der muslimischen Welt keinen Prozess mehr, den man Reform nennen könnte, sondern nur kurze, gutgemeinte Erneuerungswellen, die immer am Fels der Orthodoxie brachen. Es waren kleine vereinzelte Flüsse, die im Sand verliefen und es nie schafften, sich zu einem grossen Strom zu entwickeln, der alles mit sich reissen und einen unumkehrbaren Prozess namens Aufklärung in Gang setzen konnte.

Auch die europäischen Kolonialmächte waren an einer Modernisierung der von ihnen besetzten islamischen Länder kaum interessiert. Durch ihr aggressives und arrogantes Auftreten konnten sie nicht als Vorbild für Muslime dienen. Aber auch Jahrzehnte nach Ende des Kolonialismus gilt vielen in der islamischen Welt eine umfassende Modernisierung als Erniedrigung gegenüber dem Westen. Sicherlich spielt die Machtpolitik des Westens eine wichtige Rolle für diese Wahrnehmung. Auch die vielen ungelösten Konflikte in der islamischen Welt von Tschetschenien bis zum Nahen Osten sind nicht ausser acht zu lassen.

Dennoch sehe ich entscheidendere Gründe für das chronische Beleidigtsein der Muslime. Im Kern ist ihr Selbstbild dafür verantwortlich. Die Muslime sehen sich immer noch als Träger einer Hochkultur und können sich nicht damit abfinden, dass sie die führende Rolle in der Welt längst verloren haben. «Der Islam hat den Machtverlust nicht verkraftet», so bringt es der tunesisch-französische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb auf den Punkt. Eine archaische Kultur der Ehre und des Widerstandes verhindert deshalb eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Westen, den man immer noch als Feind betrachtet.

Unter diesem Ressentiment isolieren sich weite Teile der islamischen Welt und verbarrikadieren sich hinter einer defensiven, exklusiven und reaktionären Identität. Ihre technologisch-materielle Unterlegenheit versuchen die Muslime durch eine moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen auszugleichen. Die Isolation und das chronische Misstrauen führen dazu, dass jede Äusserung und jede Geste, die aus dem Westen kommt, entweder falsch oder überinterpretiert wird. Auch Kritik wird deshalb oft als Kriegserklärung verstanden. Die Geschichte wird als Kontinuum gelesen, und so sieht man die Mohammed-Karikaturen, die Papst-Rede in Regensburg und die Schweizer Minarettinitiative als Fortsetzung einer historischen westlichen Feindseligkeit gegenüber dem Islam, die man aus den Kreuzzügen und aus der Kolonialgeschichte zu kennen meint.

Die Wut und die Empörung haben aber andere Gründe. In den meisten islamischen Ländern sind die Menschen mit der wirtschaftlichen und politischen Lage höchst unzufrieden und dabei unfähig, die Probleme aus eigener Kraft zu lösen. Sowohl die Machthaber als auch die Bevölkerung suchen deshalb nach Sündenböcken für das eigene Elend. Politisch gesteuerte Proteste und Wutausbrüche gegen Dänemark, Deutschland oder die USA schaffen ein willkommenes Ventil. Dabei ist die Verkrampfung auch darauf zurückzuführen, dass im Laufe der Jahrhunderte keine Alternative zur Religion als identitätsstiftendem Element entwickelt wurde. Alle aus dem Westen importierten Systeme scheiterten, weil man wohl deren Instrumente, aber nicht den Geist dahinter nutzte. Deshalb meint man, den eigenen Glauben als letzten Anker bedingungslos verteidigen zu müssen.

Zeit für Häretiker

Auch die sogenannten Islam-Reformer waren über ein Jahrhundert lang nicht imstande, die nötigen Reformen durchzusetzen. Ihre Bestrebungen beschränken sich meist darauf, die Fassade eines Hauses, das im Begriff ist, in sich zusammenzufallen, mit neuer Farbe zu streichen. Die Unantastbarkeit der Religion stand den Reformern immer im Weg und liess ihre Bemühungen im Sande verlaufen. Kommt hinzu, dass sie wie die religiösen Fundamentalisten selbst vom Text des Korans besessen sind. Während die Terroristen darin Rechtfertigung für Gewalt suchen und finden, stöbern Liberale nach friedfertigen Passagen, die das Zusammenleben ermöglichen. Beide stärken damit die Autorität eines Buches, das für die Bedürfnisse einer vormodernen Gemeinde im 7. Jahrhundert entstanden war und im 21. Jahrhundert historisiert gehört. Den Reformern fehlen die letzte Konsequenz und der Mut, dafür zu plädieren, den Koran politisch zu neutralisieren und aus dem politischen Diskurs zu verbannen.

Für eine zeitgemässe Interpretation des Korans und eine Annäherung an die Moderne sprechen sich die Reformer aus und betonen im gleichen Atemzug, die eigene Tradition und kulturelle Eigenständigkeit nicht opfern zu dürfen. Ebendies tat auch Usama bin Ladin. Er löste sich von der überkommenen Interpretation des Korans, die eine Rebellion gegen den Herrscher verbietet. Durch seine Auslegung des Korans gelang es ihm, den jihad zu privatisieren und den Massenmord an Zivilisten zu rechtfertigen. Auch er nährt sich an der Moderne und bedient sich modernster westlicher Technik, ohne sich das aufgeklärte Gedankengut, das in dieser steckt, zu eigen zu machen.

Ich halte die Versöhnung des Islam mit dem Atheismus für die letzte bleibende Chance. Es ist Zeit für Häretiker, die Allmacht des Korans zu bestreiten und eine neue Geisteshaltung einzuführen. Diesen Prozess nenne ich nicht «Reform», sondern «geregelte Insolvenz». Erst wenn sich muslimische Kultur innerlich von diesem Buch löst, kann sie einen Neuanfang wagen. Insolvenz bedeutet, dass sich die muslimische Kultur von manchen schweren Koffern trennen muss, will sie den Weg in die Zukunft beschreiten. Sie muss sich von vielen Bildern verabschieden, insbesondere aber vom Bild eines erhabenen, unberechenbaren Gottes, der nur diktiert, aber nicht verhandelt. Dieses schadet der muslimischen Welt sehr und leistet einen erheblichen Beitrag zur Festigung der Macht von Tyrannen. Die gängige Geschlechter-Apartheid wiederum hemmt die Kreativität und schnürt die schöpferische Kraft der Hälfte der Gesellschaft ab.

Feindbilder haben die Opferrolle bei Muslimen zementiert und sie immer wieder daran gehindert, die Lösung der eigenen Probleme selbst in die Hand zu nehmen. Es gilt, das Selbstbild zu überdenken und nach Antworten jenseits von Wutausbrüchen und Verschwörungstheorien zu suchen. Europa seinerseits sollte seine unheiligen Allianzen mit den Diktatoren des Nahen Ostens beenden und nach neuen Verbündeten suchen. Islamkritik sollte von den Europäern ohne Rücksicht auf fundamentalistische Bedrohungen und ohne politisch korrekte Denkfaulheit vorangetrieben werden. Diese Kritik darf hart sein, sollte jedoch ohne Polemik und Ressentiment daherkommen. Und wenn den Muslimen diese Kritik von aussen unerträglich erscheint, sollten sie das Heft in die Hand nehmen und diese Kritik selbst üben.

Hamed Abdel-Samad, 1972 in Giza, Ägypten, geboren, ist Politikwissenschafter und Historiker an der Universität München und Verfasser des autobiografischen Buches «Mein Abschied vom Himmel. Aus dem Leben eines Muslims in Deutschland» (2009, Fackelträger-Verlag). Seine Missbrauchs- und Ablösungsgeschichte wurde zuerst in Ägypten veröffentlicht, wo sie eine breite und kontroverse Debatte auslöste.

Samstag, Dezember 05, 2009

TA: Die Ölvorräte versiegen noch schneller

Tages Anzeiger Online
Die Ölvorräte versiegen noch schneller

Die Zahlen über die weltweiten Ölvorräte sind geschönt, sagt ein Insider. Dabei gebe es klare Indizien aus Saudiarabien.

Die Berichte der Internationalen Energie-Agentur (IEA) in Paris dienen Regierungen als Grundlage für die Energie- und Klimapolitik sowie den Unternehmen für ihre Geschäftspläne. Gemäss den letzten veröffentlichten Prognosen der IEA wird die weltweite Ölförderung mindestens bis 2030 steigen - auf 120 Millionen Barrel pro Tag (ein Barrel entspricht 159 Liter). Erst danach sei mit einem Rückgang der Fördermengen zu rechnen, liess die IEA verlauten.

Diesen Prognosen widerspricht ein Insider, wie die britische Zeitung «The Guardian» schreibt. Beim Informanten soll es sich um einen hohen Beamten....


Tages Anzeiger Online
Die Ölvorräte versiegen noch schneller

Die Zahlen über die weltweiten Ölvorräte sind geschönt, sagt ein Insider. Dabei gebe es klare Indizien aus Saudiarabien.

Die Berichte der Internationalen Energie-Agentur (IEA) in Paris dienen Regierungen als Grundlage für die Energie- und Klimapolitik sowie den Unternehmen für ihre Geschäftspläne. Gemäss den letzten veröffentlichten Prognosen der IEA wird die weltweite Ölförderung mindestens bis 2030 steigen - auf 120 Millionen Barrel pro Tag (ein Barrel entspricht 159 Liter). Erst danach sei mit einem Rückgang der Fördermengen zu rechnen, liess die IEA verlauten.

Diesen Prognosen widerspricht ein Insider, wie die britische Zeitung «The Guardian» schreibt. Beim Informanten soll es sich um einen hohen Beamten der IEA handeln. «Innerhalb der IEA glauben viele, dass es sogar unmöglich ist, die Öllieferungen bei 90 bis 95 Millionen Barrel täglich zu halten», wird der Insider zitiert. Auf Druck der USA sollen die weltweiten Ölvorräte höher dargestellt worden sein, als sie es tatsächlich sind. Die Amerikaner fürchteten das Ende der Ölhoheit, denn es würde ihre Macht bedrohen, schreibt «The Guardian» weiter. Die Statistiken der IEA seien aber auch absichtlich geschönt worden, weil es Befürchtungen gebe, dass sich an den internationalen Finanzmärkten Panik ausbreiten könnte.

«Peak Oil» ist bereits erreicht

Ein anderer Informant aus der IEA wird mit der Aussage zitiert, dass es innerhalb der Organisation eine Richtlinie gebe, die USA nicht zu verärgern. Die Tatsache, dass es weltweit weniger Ölvorräte gebe als bisher bekannt, werde nicht bestritten. Das Maximum der Fördermenge - der so genannte «Peak Oil» - sei erreicht. «Ich denke, dass die Situation wirklich schlecht ist», sagt der Insider weiter.

Die Experten streiten bereits seit Jahren über die Frage, wann die Vorräte des begehrten Rohstoffs aufgebraucht sein werden. Laut Matthew Simmons, amerikanischer Investmentbanker und früherer Berater von US-Präsident George W. Bush, wurde «Peak Oil» bereits überschritten. Er stützt sich dabei auf die Beobachtung, dass die Super-Ölfelder der Welt wie das saudi-arabische Ghawar erste Anzeichen des Versiegens zeigen. Andere Experten prophezeien «Peak Oil» für das Jahr 2020, weitere wiederum frühestens für 2040.

Neue Funde dank neuer Fördermethoden


Die Optimisten unter den Experten argumentieren, dass durch den technischen Fortschritt immer wieder neue Ölvorkommen erschlossen werden könnten. In der Tat: Heute kann man weitaus tiefer bohren als noch vor 20, 30 Jahren und Quellen anzapfen, von denen man früher nicht zu träumen wagte. Fest steht allerdings, dass in der westlichen Welt die konventionellen Reserven zur Neige gehen. Die Ölstaaten der industrialisierten Welt - etwa USA, Mexiko und Norwegen - fördern immer weniger. Damit nimmt das Gewicht der Opec-Staaten zu, vor allem der des Nahen Ostens, wo drei Viertel der weltweiten konventionellen Reserven vermutet werden.

Wie gross diese Reserven sind, kann kaum verlässlich eingeschätzt werden. Viele Opec-Mitglieder lassen unabhängige Experten gar nicht ins Land. Es sind ihre Regierungen und ihre Ölgesellschaften, die Informationen über ihre Vorräte verbreiten. Wie gross die weltweiten Reserven sind, ist entscheidend für die Entwicklung des Ölpreises. (vin)

Freitag, Dezember 04, 2009

TA: Bushs Leute sind wieder im Irak

Tages Anzeiger Online
Bushs Leute sind wieder im Irak
Aktualisiert am 10.11.2009

Im Irak engagieren sich Leute aus der vergangenen US-Administration. Das nährt das Misstrauen über die wahren Kriegsgründe.

Einst führende Vertreter der Bush-Adminstration, die im Irak tätig waren, versuchen in diesem Land wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Die «Financial Times» nennt Zalmay Khalilzad, der unter Bush als Botschafter der USA in Baghdad stationiert war und den pensionierten General Jay Garner. Letzterer war als erster US-Zivilverwalter des Irak praktisch Gouverneur des Landes.

Das Unternehmen «Khalilzad Associates» des einstigen US-Botschafters hat im laufenden Jahr bereits Büros in Baghdad und in....


Tages Anzeiger Online
Bushs Leute sind wieder im Irak
Aktualisiert am 10.11.2009

Im Irak engagieren sich Leute aus der vergangenen US-Administration. Das nährt das Misstrauen über die wahren Kriegsgründe.

Einst führende Vertreter der Bush-Adminstration, die im Irak tätig waren, versuchen in diesem Land wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Die «Financial Times» nennt Zalmay Khalilzad, der unter Bush als Botschafter der USA in Baghdad stationiert war und den pensionierten General Jay Garner. Letzterer war als erster US-Zivilverwalter des Irak praktisch Gouverneur des Landes.

Das Unternehmen «Khalilzad Associates» des einstigen US-Botschafters hat im laufenden Jahr bereits Büros in Baghdad und in der kurdischen Stadt Erbil im Norden des Irak eröffnet. Jay Garner sass vor zwei Jahren im Verwaltungsrat der kanadischen Ölfrima «Vast Exploration», als diese sich einen Anteil von 37 Prozent an einer kurdischen Ölförderanlage sicherte. Auch heute steht Garner dem Unternehmen noch als Berater zur Seite.

Einst grosse Macht ausgeübt


Wie die «Financial Times» schreibt, sind die beiden nur die bekanntesten Beispiele. Auch eine ganze Reihe weiterer einstiger Militärs oder Diplomaten aus der Zeit des Krieges im Irak sind gemäss dem Bericht entweder mit einem eigenen Business oder als Berater internationaler Konzerne in diesem Land.

Dieses Engagement ist nicht unproblematisch. Vor allem in der arabischen Welt sind noch immer viele überzeugt, der Bush-Administration sei es mit dem Krieg vor allem darum gegangen, der US-Wirtschaft die Kontrolle über die irakischen Ölvorkommen zu sichern. Immerhin würden nun ausgerechnet jene im Irak ins Business einsteigen, die in diesem Land einst grosse Macht ausgeübt haben. Das kritisierte die Leiterin einer US-Nichtregierungsorganisation gegenüber der britischen Finanzzeitung. Das sorge an sich für Misstrauen, selbst wenn es nicht gerechtfertigt wäre. (mdm)

Donnerstag, Dezember 03, 2009

NZZ: 26 Billionen Dollar zur Stillung des Energiehungers

NZZ
10. November 2009, 14:18, NZZ Online
26 Billionen Dollar zur Stillung des Energiehungers

Wegen der Wirtschaftskrise ist der Energieverbrauch weltweit zurückgegangen. In Zukunft wird er aber wieder stark zunehmen, wenn nicht radikale Gegenmassnahmen ergriffen werden. Diese werden von der Internationalen Energieagentur IEA wegen des Klimawandels als extrem dringlich bezeichnet.

Zum ersten Mal seit dem Jahr 1981 ist der Energieverbrauch weltweit innerhalb eines Jahres zurückgegangen, und zwar um etwa 2 Prozent. Dies schreibt die Internationale Energieagentur IEA in ihrem diesjährigen «World Energy Outlook». Die globale Wirtschaftskrise hat die Nebenwirkung, den Anstieg des Verbrauchs vor allem der fossilen Energieträger vorübergehend zu stoppen.

Der nächste Wirtschaftsaufschwung werde aber unweigerlich dazu führen,.....
NZZ
10. November 2009, 14:18, NZZ Online
26 Billionen Dollar zur Stillung des Energiehungers

Wegen der Wirtschaftskrise ist der Energieverbrauch weltweit zurückgegangen. In Zukunft wird er aber wieder stark zunehmen, wenn nicht radikale Gegenmassnahmen ergriffen werden. Diese werden von der Internationalen Energieagentur IEA wegen des Klimawandels als extrem dringlich bezeichnet.

Zum ersten Mal seit dem Jahr 1981 ist der Energieverbrauch weltweit innerhalb eines Jahres zurückgegangen, und zwar um etwa 2 Prozent. Dies schreibt die Internationale Energieagentur IEA in ihrem diesjährigen «World Energy Outlook». Die globale Wirtschaftskrise hat die Nebenwirkung, den Anstieg des Verbrauchs vor allem der fossilen Energieträger vorübergehend zu stoppen.

Der nächste Wirtschaftsaufschwung werde aber unweigerlich dazu führen, dass der Hunger nach Energie wieder zunehmen wird: Die IEA geht dabei davon aus, dass allein in den kommenden fünf Jahren mit einem Anstieg des Verbrauchs von 2,5 Prozent pro Jahr zu rechnen sein wird, wenn die bestehende Energiepolitik nicht starke bis radikale Veränderungen erfährt.

Falls nicht, könnte dies dazu führen, dass sich die Industriestaaten in den kommenden 20 Jahren auf eine Verdoppelung der Energieausgaben einstellen müssten. Denn zusätzlich werden nach Ansicht der IEA auch noch die Folgekosten der Klimaerwärmung zu berappen sein, wenn es nicht gelinge, vom teuren und umweltschädlichen Erdöl wegzukommen.

Ölverbrauch steigt noch bis 2030


Zum gegenwärtigen Zeitpunkt rechnet die IEA mit einer Zunahme des Ölverbrauchs noch bis zum Jahre 2030 auf dann 105 Millionen Barrel pro Tag (zum Vergleich: 2008 waren es 85 Millionen Barrel). Diese Zahl ist nach Ansicht von Experten aber höher als die dann überhaupt noch mögliche Produktion, was allein den Druck auf eine Senkung der Öl-Nachfrage stark erhöhen wird.

Verdoppelung der Energieausgaben

Was den Ölpreis angeht, wird mit einem Anstieg auf 100 Dollar pro Fass bis 2015 gerechnet, bis 2030 wird dann ein Anstieg auf sogar 190 Dollar prognostiziert. Dies würde allein in der EU bedeuten, dass sich die Energieausgaben in den nächsten 20 Jahren verdoppeln werden. Im Sommer 2008 war der Fass-Preis auf den bisherigen Rekordstand von über 147 Dollar gestiegen. Gegenwärtig wird das Fass auf den Rohwarenmärkten für rund 75 Dollar gehandelt.

China wird zum grössten Verbraucher


Die Experten der IEA sagen auch eine stärkere Bedeutung des Energieträgers Gas voraus.Trotz den gegenwärtigen Überkapazitäten und dem weiteren Ausbau der Erdgas-Förderung werde es aber in der Zukunft zu Engpässen kommen. Die Welt würde bis 2030 im Prinzip «vier neue Russlands» benötigen, um den Bedarf zu decken. Der grösste Energieverbraucher bleiben gemäss IEA zunächst die USA, diese werden aber bis 2025 von China abgelöst. Die heutige zweitgrösste Wirtschaftsmacht Japan dürfte bereits 2020 von Indien überholt werden.

Enorme Herausforderung


Umfang und Ausmass der Herausforderung durch den Energiehunger der Welt seien enorm und wesentlich grösser als den meisten Menschen bewusst, schreibt die IEA. Indem die Rezession den Anstieg der Treibhausemissionen bremste, biete sie eine einmalige Chance, Massnahmen gegen den weiteren Anstieg des CO2-Ausstosses zu ergreifen. Andererseits seien aber wegen der Krise die Investitionen im Energiesektor um fast 20 Prozent eingebrochen, was dieses Ziel umgekehrt wieder gefährde.

Riesiger Investitionsbedarf

Um den Bedarf an Energie weltweit zu decken, seien bis 2030 aber Investitionen in der Höhe von nicht weniger als 26 Billionen Dollar vonnöten. Sollte sich die Staaten am Weltklimagipfel in Kopenhagen zu dem Ziel verpflichten, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre auf 450 Teile pro Million CO2-Äquivalente zu begrenzen («450-Szenario»), wären noch einmal 10,5 Billionen Dollar nötig. Nur damit sei ein Anstieg der globalen Temperatur auf 2 Grad zu begrenzen. An die Adresse der westlichen Industriestaaten ergeht die Aufforderung, den Entwicklungsländern dafür zusätzliche finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen.

Besonders stark steigen werde im kommenden Wirtschaftsaufschwung der Energieverbrauch ausserhalb der traditionellen Industriestaaten, nämlich in den aufstrebenden Volkswirtschaften Asiens. Bei einer Fortsetzung der gegenwärtigen Energiekurses würde dabei die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern noch zunehmen. Die IEA ruft deshalb alle Staaten und Regierung dazu auf, den Umbau des Energiesektors im Interesse des ganzen Planeten voranzutreiben.

Dienstag, November 03, 2009

NZZ: Drogenkrieg in Mexico - «Fürchte den Tod nicht»

2. November 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Fürchte den Tod nicht»

Der «Drogenkrieg» in Mexiko wird befeuert durch eine Kultur des schnellen Geldes und des Draufgängertums
Der «Drogenkrieg», der in Mexiko seit einigen Jahren tobt, ist mehr als ein Kräftemessen zwischen dem Staat und den Kartellen. Er ist Blüte einer Kultur der Aussenseiter und Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krise.

Alex Gertschen berichtet für die NZZ regelmässig aus Mexiko.

Apatzingán ist eine mexikanische Kleinstadt wie viele andere. Das Leben gehorcht dem trägen Rhythmus, den die brennende Sonne zulässt. Selbst in der zu Ende gehenden Regenzeit kühlt sich die Luft tagsüber nur unmerklich ab, weshalb das Gebiet, dessen Zentrum Apatzingán ist, Tierra Caliente genannt wird: heisses Land. Erst die frische, von der Sierra Madre hinunter wehende Abendluft bringt Leben ins Städtchen. Protzige amerikanische Grossraumwagen halten Einzug und drehen um den Hauptplatz herum gemächlich ihre Runden. Glänzend polierte Pick-ups folgen, aus deren aufgepflanzten Lautsprechern «música norteña» schallt. Apatzingán, im Gliedstaat Michoacán gelegen, gehört nicht zum Norden Mexikos, doch der...


2. November 2009, Neue Zürcher Zeitung
«Fürchte den Tod nicht»

Der «Drogenkrieg» in Mexiko wird befeuert durch eine Kultur des schnellen Geldes und des Draufgängertums
Der «Drogenkrieg», der in Mexiko seit einigen Jahren tobt, ist mehr als ein Kräftemessen zwischen dem Staat und den Kartellen. Er ist Blüte einer Kultur der Aussenseiter und Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krise.

Alex Gertschen berichtet für die NZZ regelmässig aus Mexiko.

Apatzingán ist eine mexikanische Kleinstadt wie viele andere. Das Leben gehorcht dem trägen Rhythmus, den die brennende Sonne zulässt. Selbst in der zu Ende gehenden Regenzeit kühlt sich die Luft tagsüber nur unmerklich ab, weshalb das Gebiet, dessen Zentrum Apatzingán ist, Tierra Caliente genannt wird: heisses Land. Erst die frische, von der Sierra Madre hinunter wehende Abendluft bringt Leben ins Städtchen. Protzige amerikanische Grossraumwagen halten Einzug und drehen um den Hauptplatz herum gemächlich ihre Runden. Glänzend polierte Pick-ups folgen, aus deren aufgepflanzten Lautsprechern «música norteña» schallt. Apatzingán, im Gliedstaat Michoacán gelegen, gehört nicht zum Norden Mexikos, doch der dort geborene Musikstil ist im ganzen Land beliebt, insbesondere in Milieus, wo auch der Drogenhandel beheimatet ist.

Die Mädchen wollen einen «narco»

Drogenhandel heisst auf Spanisch «narcotráfico». Ein «narco» ist ein Mann, der im weitesten Sinne mit Drogen Geld verdient – ein Schmuggler, ein Berufsmörder, ein Informant, ein korrupter Polizist in Diensten eines Kartells. Frauen tauchen in der machistischen Welt des Drogenhandels selten auf. Im Gegensatz zu den Konsumländern, wo das «Drogenmilieu» sich auf die Verbraucher bezieht, sind in Mexiko die Träger der «narcocultura» und die Helden des «narcocorrido» (Drogenballade) auf der anderen Seite der Produktionskette zu finden. Während in Europa oder den USA die Drogenkultur negativ konnotiert ist, sind die «narcos» in gewissen Teilen Mexikos zu gesellschaftlichen Idolen geworden.

Am Autokorso in Apatzingán lässt sich unschwer erkennen, weshalb dem so ist. Nur ein «narco» kann sich eine dieser Nobelkarossen leisten, die im ärmlichen Nest wie von einem anderen Stern wirken. Pfarrer Andrés Larios sagt, noch vor fünfzehn Jahren sei es beschämend gewesen, wenn der eigene Vater sein Geld mit Drogen verdient habe. «Heute erfüllt es die Kinder mit Stolz. Und die Mädchen wollen natürlich mit einem Burschen aus einer -Familie ausgehen, weil der viel Geld hat.» Der 34-jährige Larios stammt aus dem nahe gelegenen Dorf Tepacaltepec. Jedes Kind der Tierra Caliente wächst wenn nicht im, so neben dem Drogenhandel auf. Marihuana wird in der abgeschiedenen Gegend seit Jahrzehnten angebaut.

Der Anthropologe Carlos Tapia sagt, der Drogenhandel sei historisch die zweite Antwort auf die bittere Armut in der Region gewesen. In den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts hätten die ersten grossen Auswanderungen in die USA stattgefunden. Zurückgeflossen seien nicht nur Rimessen, sondern auch das Wissen von der dortigen Drogennachfrage. Neben Migrations- hätten sich Drogenhandels-Netzwerke etabliert. «Eine Frage von Recht und Unrecht war der Drogenhandel jedoch nie», sagt Tapia. Er sei eine Frage des Überlebens gewesen.

Einen auf dicke Hose machen

Eine Frage des Überlebens ist das Geschäft auch heute noch. Als Präsident Calderón im Dezember 2006 die Bekämpfung der sieben grossen Kartelle aufnahm, setzte er zugleich zwischen und innerhalb von diesen einen Konflikt um die nun in Bewegung geratene Transitlandschaft frei. Wurde ein Capo festgenommen, witterten eine Vielzahl von Untergebenen ihre Chance auf den Platz an der Sonne, ganz zu schweigen von den rivalisierenden Kartellen. Seither ergiesst sich eine Kaskade von Mord und Totschlag über Mexiko, die über 12 000 Menschenleben mit sich gerissen hat. Im Rückblick waren die ersten Enthauptungen und andere Verstümmelungen im Sommer und Herbst 2006 blosse Vorboten der Gewaltorgie.

Pfarrer Larios schüttelt den Kopf und sagt mit traurigen Augen, der Mord an einem Menschen empöre niemanden mehr. «Wir haben uns ans Blut gewöhnt. Menschen werden wie Tiere geschlachtet.» Die Leichtigkeit des Tötens und Sterbens besingt die Band Los Tucanes de Tijuana in einer ihrer Drogenballaden: «Fürchte den Tod nicht // Er ist nichts als natürlich // Wir werden geboren, um zu sterben // Und auch um zu töten // Sagt bloss nicht // Ihr hättet noch nie ein Tier getötet.»

Isaac Reyes arbeitet seit über zwanzig Jahren als Journalist in Michoacán. Er beschreibt die Tierra Caliente als raue Gegend, in der ein Menschenleben schon immer unsicher gewesen, der Finger stets rasch am Abzug ist. Eine Waffe trägt hier jeder, der sich als ganzer Mann sieht. Nur wenn es darum gehe, die Waffe ins Festzelt zu schmuggeln, werde sie kurz der weiblichen Begleitung abgegeben, sagt Reyes. Denn wie beim Autokorso geht es im Festzelt ums Prahlen, sei es mit dem brillantbestückten Revolver (den haben nur die ganz grossen «Arschlöcher», wie sie in der Tierra Caliente anerkennend gerufen werden), sei es mit der schweren goldenen Halskette oder der hübschen jungen Dame an der Seite.

Auch Mörder haben Werte

Diese Kultur der Aufschneider ist eine Kultur der schnellen Aufsteiger. In seiner wissenschaftlichen Arbeit über die Institutionalisierung der «narcocultura» im Gliedstaat Sinaloa beschreibt Alan Sánchez, wie diese Kultur in einer marginalisierten ländlichen Gegend entstanden und von den verwahrlosten Massen in den Städten angenommen worden ist. Als die neureichen Landeier, und das waren die «narcos» bis dahin fast ausschliesslich, in den siebziger Jahren in der Hauptstadt Culiacán aufgetaucht seien, habe die breite Bevölkerung sie wie «Heilande» wahrgenommen. Indem die «einfachen Leute» Werte und Bräuche der «narcos» übernahmen, befreiten sie sich zumindest symbolisch von ihrem trostlosen Schicksal.

Die Idee, dass der Drogenhandel eine soziale Verpflichtung hat, ist seither integraler Bestandteil der «narcocultura» geworden. Aus diesem Antrieb und aus kaltem Kalkül sind Drogengelder in den Bau von Strassen, Schulen oder Bewässerungsanlagen geflossen; für die berüchtigten Spenden an die Kirche hat sich der sonderbare Begriff der «narcolimosnas» (Drogenalmosen) eingebürgert. Als Andrés Larios in seiner ersten Pfarrei unweit von Apatzingán eines Sonntags den Drogenhandel geisselte, mahnten ihn einige Kirchengänger nach der Messe, er solle über alles Mögliche, nur nicht darüber sprechen. «Das ganze Dorf ist im Geschäft. Wir geben den Leuten Arbeit», sagten sie stolz. Wegen massiver Drohungen verliess Larios schliesslich die Pfarrei.

Der «Drogenkrieg» ist also nicht Abbild einer entmenschlichten oder nihilistischen Welt. Der Boden, auf dem er tobt, ist durchtränkt von Werten. Apatzingán ist die Hochburg eines Kartells, das sich «La Familia Michoacana» nennt. Einer seiner zwei Capos hat für seine Anhänger eine religiöse Heilsschrift verfasst, die auf Kongressen oder in Drogenentzugskliniken verbreitet wird. Seither behaupten die Mörder der Familia auf beschrifteten Leinentüchern, die sie neben ihren geköpften Opfern hinterlassen, ihr Werk diene der «göttlichen Gerechtigkeit».

Der Intellektuelle Sealtiel Alatriste, Kulturbeauftragter der Nationalen Autonomen Universität, spricht von einer Perversion der Werte, deren Ausgangspunkt sei, dass niemand das Geschäft lebend verlassen könne. «Der betet zu seinem Schutzheiligen, damit er ihm und nicht dem Feind beisteht. Denn entweder stirbt jener oder er.» Weshalb sich aber dem tödlichen Spiel überhaupt aussetzen? Alatriste sagt, in Mexiko werde wie in der übrigen Welt das Materielle zunehmend über alle anderen Werte erhöht. Obwohl in der Tierra Caliente niemand an Hunger stirbt, hat Pfarrer Larios beobachtet, «dass die Menschen heute mehr Angst vor der Armut als vor dem Tod haben». Die «narcos» lebten lieber ein Jahr in Saus und Braus als mit dreissig, vierzig in der Misere.

Der teuflische Pakt

Diese Logik treibt den mörderischen Wettbewerb an, der Mexiko seit fast drei Jahren in Atem hält. Präsident Calderón hat ihn nur auf den ersten Blick in Gang gesetzt. Seine Vorgänger hatten den Drogenhandel verwaltet. Indem sie den Kartellen bestimmte Territorien zuteilten, konnten diese unter Wahrung der öffentlichen Ordnung ihren Geschäften nachgehen. Weil der Partido Revolucionario Institucional (PRI) während seiner sieben Jahrzehnte dauernden Herrschaft zu ihrem blossem Instrument degeneriert war, fiel es ihm nicht schwer, das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit dem teuflischen Pakt zu opfern. Solange in Mexiko die Demokratie nichts weiter als eine schöne Idee war, blieb der PRI im Gewande des Staates am längeren Hebel, konnte er den Luzifer in Schach halten.

In den neunziger Jahren begannen sich die Gewichte zu verschieben. Die parteipolitische Pluralisierung brach die Alleinherrschaft des PRI und damit das Rückgrat des an sich schwachen Staates. Der Kokainhandel fiel in mexikanische Hände, weil die Kartelle aus Medellín und Cali unter dem Sperrfeuer der Regierungen Kolumbiens und Amerikas zusammenbrachen. Während die fragile mexikanische Demokratie erste Wurzeln schlug, erwuchs ihr ein Feind, der sich an den Milliarden des wachsenden Drogengeschäfts nährte und in den benachbarten USA mit furchterregendem Kriegsmaterial eindeckte. Als Calderón den «Drogenkrieg» ausrief, hatte der Staat die Kontrolle über das organisierte Verbrechen längst verloren.

Für Herminio Sánchez de la Barquera ist der «Drogenkrieg» Ausdruck einer Krise, die über das Kräftemessen zwischen Staat und Kartellen hinausgeht. Der in Heidelberg promovierte und an der Universität Vasco de Quiroga in Michoacán lehrende Politologe fasst den Konflikt als «Lektion» auf. «Wir erleben, was passieren kann, wenn ein Volk zu einer funktionierenden Gesellschaft unfähig ist.» Der in Puebla und Mexiko-Stadt wirkende Bischof Juan de Palafox y Mendoza habe im 17. Jahrhundert festgestellt, dass sich der Mexikaner zuerst um seine eigene Person, dann um seine Familie und gegebenenfalls um seine Freunde kümmere. Das sei heute noch genau gleich, ereifert sich der sonst zurückhaltende, feingliedrige Sánchez de la Barquera.

Der Umwelt verschlossen

Von der Schwierigkeit seiner Landsleute, nicht nur eine Ansammlung von Individuen, sondern eine lebendige (Bürger-)Gesellschaft zu sein, schrieb der Literaturnobelpreisträger Octavio Paz 1950 in seinem Essay «Das Labyrinth der Einsamkeit». Der Mexikaner lasse sich im Zweifel in die Knie zwingen und demütigen, aber er lasse keinen Blick in sein Inneres zu. Er sei verschlossen, um sich vor seiner Umwelt zu schützen, die er instinktiv als gefährlich wahrnehme. Angesichts der Geschichte und der «Gesellschaft, die wir geschaffen haben», sei dies auch legitim.

In der starken Hand eines Kartells oder eines autoritären Staates, und ein solcher war der mexikanische bis vor kurzem, wird ein Kollektiv von misstrauischen, sich einkapselnden Individuen zur fügsamen Masse. Was dem Staat der Nationalismus, ist dem Drogenhandel die «narcocultura», ein Mittel zur Herrschaftslegitimierung. Doch weil der mexikanische Nationalismus sich über die Kultur definiert, haben die Mexikaner kein Problem, ihren zuweilen überbordenden Nationalstolz und ihre tiefe Verachtung für alle Staatlichkeit in Einklang zu bringen. Der mexikanische Rechtsstaat steht im Ruf, ein Unrechtsstaat zu sein.

Die «narcos» haben sich dessen immer wieder geschickt bedient. Ein Teil ihrer Popularität beruht geradezu auf dem Widerstand gegen den Staat. Der Bauer Jesús Malverde, der um die vorletzte Jahrhundertwende in Sinaloa lebte, erlangte Berühmtheit und Beliebtheit, weil er von den Reichen gestohlen und den Armen gegeben haben soll. Nachdem er 1909 auf Anordnung des Gouverneurs gehängt worden war, wurde er zum «Heiligen der Armen». Die von der Sierra hinabgestiegenen Drogenbosse errichteten ihm 1979 in Culiacán eine Kapelle und erhoben ihn zu ihrem eigenen Schutzheiligen.

Katz und Maus

Die Lebenswelt Malverdes, in welcher dem Staat die Rolle des fremdelnden Bösewichts zukommt, findet sich in Apatzingán wieder. Während des Autokorsos lassen sich nur Gemeindepolizisten blicken. Die sind sowieso gekauft oder ausreichend eingeschüchtert. Armee und Bundespolizei haben ihre Lager vor der Stadt aufgeschlagen. Bleibt die Katz vor dem Haus, tanzt die Maus. Anfang August betrat die Bundespolizei «das Haus». Während einer Messe stürmte sie die Kapelle Perpetuo Socorro und nahm mehrere Mitglieder der Familia Michoacana fest. Pfarrer Larios hätte die Messe halten sollen, steckte aber unterwegs fest. Ihn traf fast der Schlag, als er von der Stürmung vernahm. «Niemand darf bewaffnet einen geweihten Ort betreten. Das war ein Sakrileg», sagt er empört.

Jeder Mexikaner, der wie Larios noch nicht dem Zynismus anheimgefallen ist, verspricht dem Land eine bessere Zukunft. Wann wird sie eintreten? Dies hänge nicht nur von Mexiko ab, findet Sealtiel Alatriste. Der «Drogenkrieg» sei Folge globaler Probleme wie der Drogennachfrage, des Angebots an Waffen oder der schwindenden Aussicht auf einen ehrenwerten Broterwerb. Herminio Sánchez de la Barquera stimmt zu und wendet ein, genau deshalb müsse Mexiko seine politische Kultur ändern. Die Bildung von Bürgersinn und Eigenverantwortung werde Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Pfarrer Andrés Larios macht einen Anfang und redet auch am folgenden Sonntag gegen den Drogenhandel an. Er weiss, dass ihn dies das Leben kosten könnte.

Freitag, Oktober 30, 2009

Mittwoch, Oktober 28, 2009

Blues and more: Harry Manx

http://en.wikipedia.org/wiki/Harry_Manx

Bring that thing


Sitting on top of the world


I'm on fire (original by Bruce Springsteen)

Montag, Oktober 26, 2009

Jugendgewalt: Eine Debatte verleumdet die Jugend

WOZ Die Wochenzeitung
WOZ vom 22.10.2009 - Ressort Schweiz

Jugendgewalt
Eine Debatte verleumdet die Jugend
Von Andreas Fagetti

Jede Schlägerei eine Schlagzeile. Aber wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend wirklich? Verbissen kämpfen PolitikerInnen, ExpertInnen und die Polizei um die Lufthoheit in dieser Frage. Ein Streifzug durch die Diskussion.

Als sich Schweizer Jugendliche Ende der sechziger Jahre in einem Ostschweizer Dorf an einer Schülerin vergingen, war das ein Fall für die Polizei und die Jus­tiz. In den Medien fand sich keine Zeile, kein O-Ton und schon gar kein Bild. Hinter vorgehaltener Hand mochte die Geschichte die Runde machen. Den stumpenrauchenden Honoratioren auf den Lokalredaktionen kam es aber kaum zu Ohren, ihre Neugier fokussierte sich auf das örtliche Establishment, zu dem sie selbst gehörten. Und sollte die Geschichte dennoch bis zu ihnen vorgedrungen sein, hielten sie sie womöglich nicht für berichtenswert. Ihr Nachrichtengeschäft galt der Gemeinde- und Parteipolitik, der Kirche, dem Vereinswesen und den Naturkatastrophen. Selbst eine Schiesserei im lokalen Bandenmilieu hinterliess keine medialen Schmauchspuren. Ganz zu schweigen von den biergetriebenen Wochenendschlägereien, die oft genug blutig und manchmal mit üblen Verletzungen endeten. Man rechnete sie anscheinend zu den Risiken, denen junge Männer ausgesetzt waren, und machte davon kein Aufheben.

Früher blieb nicht nur die Kirche im Dorf, sondern auch die verschwiegene Gewalt. Heute füttert die Polizei ein verästeltes Mediensystem noch mit dem belanglosesten Autounfall und erst recht mit jeder....


WOZ Die Wochenzeitung
WOZ vom 22.10.2009 - Ressort Schweiz

Jugendgewalt
Eine Debatte verleumdet die Jugend
Von Andreas Fagetti

Jede Schlägerei eine Schlagzeile. Aber wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend wirklich? Verbissen kämpfen PolitikerInnen, ExpertInnen und die Polizei um die Lufthoheit in dieser Frage. Ein Streifzug durch die Diskussion.

Als sich Schweizer Jugendliche Ende der sechziger Jahre in einem Ostschweizer Dorf an einer Schülerin vergingen, war das ein Fall für die Polizei und die Jus­tiz. In den Medien fand sich keine Zeile, kein O-Ton und schon gar kein Bild. Hinter vorgehaltener Hand mochte die Geschichte die Runde machen. Den stumpenrauchenden Honoratioren auf den Lokalredaktionen kam es aber kaum zu Ohren, ihre Neugier fokussierte sich auf das örtliche Establishment, zu dem sie selbst gehörten. Und sollte die Geschichte dennoch bis zu ihnen vorgedrungen sein, hielten sie sie womöglich nicht für berichtenswert. Ihr Nachrichtengeschäft galt der Gemeinde- und Parteipolitik, der Kirche, dem Vereinswesen und den Naturkatastrophen. Selbst eine Schiesserei im lokalen Bandenmilieu hinterliess keine medialen Schmauchspuren. Ganz zu schweigen von den biergetriebenen Wochenendschlägereien, die oft genug blutig und manchmal mit üblen Verletzungen endeten. Man rechnete sie anscheinend zu den Risiken, denen junge Männer ausgesetzt waren, und machte davon kein Aufheben.

Früher blieb nicht nur die Kirche im Dorf, sondern auch die verschwiegene Gewalt. Heute füttert die Polizei ein verästeltes Mediensystem noch mit dem belanglosesten Autounfall und erst recht mit jeder Schlägerei. Niemand vermag das Resultat der medialen Verwurstung vorauszusehen. Aber man kann Gift dar­auf nehmen, dass sich Geschichten über Jugendgewalt mit politischen Vorstössen und babylonisch anmutenden Talk­runden zu einer explosiven Mischung verbinden. Alle reden dann, aber kaum einer weiss genau, wovon er redet. Das ist gesichert. Alles andere ist unklar. Selbst unter ExpertInnen. Manche SoziologInnen behaupten, die sogenannte Jugendgewalt nehme zu, andere bestreiten es.

Kühlen Kopf bewahren in diesem Klima ausgerechnet die Polizeikorps der Schweiz. Im Bericht des Bundesamts für Polizei «Jugendliche Intensivtäter»  – einem Folgebericht der vom damaligen Bundesrat Christoph Blocher in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Jugendgewalt – kontrastieren die Einschätzung der Polizisten die «politisch-medialen Aufbauschungen». Etwa die Hälfte der PraktikerInnen glaubt, dass weder die Zahl der Banden noch jene der Intensivtäter deutlich zugenommen hat.

Allerdings glauben sie, dass Strassenjungs heutzutage brutaler und häufiger zuschlagen. Den Grund dafür sehen sie in Eltern, die ihren Kindern kaum Grenzen setzen, in fehlendem Respekt gegenüber Menschen und Sachen, in Drogenmissbrauch und in der «Machokultur» vor allem bei Jugendlichen aus der Balkanregion. Bloss eine Minderheit der Befragten glaubt, dass sich heute mehr jugendliche Gewalttäter auf den Strassen herumtreiben.

Die Jugend benimmt sich ordentlich

Wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend? Noch ist das offensichtlich eine Glaubensfrage, zumindest was die «Intensivtäter» angeht. Mindestens 500 machen die Schweizer Strassen unsicher. Sie begehen fünfzig Prozent aller Straftaten. «Intensivtäter» ist allerdings ein unscharfer Begriff, denn eine einheitliche Definition fehlt. Für eine halbwegs zutreffende Gesamteinschätzung mangelt es an brauchbarem statistischem Mate­rial. Die Forschungslücken sind erheblich.

Das monieren auch die Schweizer Polizeikorps. Sie wünschen sich vermehrt Hell- und Dunkelfeldforschungen. In der Kriminologie bezeichnet das Dunkelfeld die Differenz zwischen den registrierten Straftaten – dem sogenannten Hellfeld  – und den vermutlich begangenen Taten. Ausserdem vermissen die Ordnungshüter eine systematische Untersuchung über jugendliche Intensivtäter und Jugendbanden. Schliesslich lassen sich Verrohung, Brutalisierung, Gewalt um der Gewalt willen und Respektlosigkeit nicht quantifizieren. Wo es übrigens gelingt, Intensivtäter von der Strasse zu holen, beruhigt sich die Lage meist schlagartig. Jugendgewalt ist – so viel immerhin ist klar – mehr ein sozial und weniger ein kulturell bedingtes Phänomen: Gefährdet ist, wer in einer armen, bildungsfernen Familie und womöglich noch in einem sozialen Brennpunkt aufwächst.

Wie gewalttätig ist die Schweizer Jugend? Für einmal bringt es eine Pauschalisierung auf den Punkt: Die Jugend benimmt sich ordentlich, selbst wenn die Dunkelziffer hoch sein mag. In der Schweiz leben etwa eine Million Kinder und Jugendliche zwischen sieben und siebzehn Jahren. Gerade mal 9556 wurden im Jahr 2006 verurteilt, davon 2370 wegen eines Gewaltdelikts. Achtzig Prozent delinquieren nach drei Jahren nicht mehr.

Gäbe es Forschungen und Statistiken, die einen Langzeitvergleich zuliessen, käme dabei womöglich heraus, dass die Jugend des Jahres 2009 angepasster ist und unter erheblich höherem Druck steht als jene Generationen, die ihr jetzt bedeuten, sie sei nicht ganz richtig. Noch kann man sich – je nach Verfasstheit – die Antworten also zurechtlegen. Angeln PolitikerInnen, ExpertInnen und Polizei nach richtigen Einschätzungen, fischen sie nach wie vor in trüben Gewässern. Das lässt politischen Einheizern viel Spielraum. Ein Politiker raunt mit Blick auf die Konkurrenz von rechtsaussen, natürlich «off the record»: Es würde ihn nicht wundern, wenn demnächst aus den Lautsprechern der Fremdenfeinde der Ruf nach der Todesstrafe erschallte.

«Im Knast hast du einen eigenen Fernseher»


Selbst wenn es sich mit der Jugendgewalt verhält wie mit dem Scheinriesen in «Jim Knopf und die Wilde 13», der in Wahrheit ja ein trauriger kleiner Mensch ist: Wer die Gewalttaten wegrechnen, wegerklären oder wegentschuldigen woll­te, wäre nicht ganz bei Trost. München, Locarno oder Winnenden schocken nicht bloss ängstliche ZeitgenossInnen. Auch weniger spektakuläre Vorfälle verunsichern – vermutlich jene am meisten, die weit weg von den sozialen Brennpunkten leben und nach acht Uhr abends das Haus nicht mehr verlassen.

Im Januar gingen 22 Jugendliche im sankt-gallischen Buchs und in Chur auf Beutezug. An zwei Wochenenden verübten sie fünfzig Straftaten. Sie agierten in unterschiedlichen Besetzungen, fast alle stammen sie aus Zuwandererfamilien vom Balkan, aber nicht alle sind das, was man als sozial benachteiligt zu bezeichnen pflegt. Sie verhielten sich wie die Bande, die im März wahllos Leute im Zentrum der Rheintaler Kleinstadt Altstätten niederschlug und ausraubte, spätabends und nachts. Auch sie mehrheitlich junge Leute aus Migrantenfamilien. Im Tal, in dem die SVP nahezu vierzig Prozent der WählerInnen hinter sich schart, war der Teufel los. Sechs Raubüberfälle oder womöglich noch mehr an zwei Wochenenden. Die Überfälle folgten demselben Muster: Die jungen Männer suchten sich ihre Opfer wahllos aus, auch deutlich ältere Personen als sie selbst, schlugen wortlos zu, dann erst holten sie sich Handy, Brieftasche oder was auch immer. Geld war eine schöne Nebensache. Einem Opfer sprang ein junger Mann von hinten mit Wucht in den Rücken. Die Opfer, von denen nicht alle Anzeige erstatteten, hatten Glück im Unglück, bleibende Schäden trug keines davon. Monate später informierte die Polizei: Sie habe elf junge Männer im Alter von sechzehn bis neunzehn dingfest gemacht.

Sie hatten die unbewaffneten Raub­überfälle in unterschiedlicher Besetzung begangen. Manche haben eine Strafakte, dick wie Arnies Oberschenkel, andere sind Mitläufer aus intaktem Elternhaus. Die Motive der jungen Männer bezeichnet der zuständige Jugendanwalt Reto Walther als «undurchsichtig». Die Überfälle gingen ihnen leicht von der Hand, und so machten sich die jungen Männer wohl einen Sport daraus.

Jugendgewalt bezeichnet Walther als «politisch hochgekochtes» Thema. Dass seine Klientel Migrantenfamilien entstammt, ist für ihn nicht wirklich von Belang: «Ich achte nicht auf den Pass, sondern auf das, was sinnvollerweise anliegt.» Das Jugendstrafrecht fokussiert nämlich die Entwicklung und Potenziale des Jugendlichen – manchmal reicht eine Familienbegleitung, manchmal ist eine Heimplatzierung unumgänglich. Die Palette der Massnahmen ist breit. Solange sich der jugendliche Straftäter gut entwickelt, ist seine Strafe ausgesetzt.

Könnten sie wählen, würden manche jungen Männer einen Gefängnisaufenthalt einer Massnahme vorziehen. Einer bestätigt es: «Ich wollte meine Ruhe, im Knast hast du einen eigenen Fernseher.» Er ist ein ehemaliger Gewalttäter, den keine Schule mehr wollte. Im Jugendheim Platanenhof im sankt-gallischen Oberuzwil haben ihn die Erzieher auf einen guten Weg gebracht. Inzwischen lebt er in der offenen Wohngruppe und absolviert eine Anlehre. Jetzt ist nicht nur der Oberkörper des Jünglings gestählt, jetzt schmiedet er Zukunftspläne.

Im Gefängnis hätte er die Strafe unbehelligt von lästigen Forderungen absitzen können. Im Heim konfrontierten ihn die Erzieher mit seinen Taten. Unabhängig vom Strafmass oder den Wünschen der Eltern kann die Jugendanwaltschaft über einen Straftäter bis zu seinem 22. Ge­burtstag bestimmen. Im alten Jugendstrafrecht lag diese Limite höher, bei 25.

Reto Walther kritisiert die Herabsetzung der Alterslimite. Gerade wer nach mehr Härte schreit und sich über die angebliche «Kuscheljustiz» enerviert, sollte nicht längere Gefängnisaufenthalte fordern, die in der Regel kürzer ausfallen als die Maximalmassnahme. Denn wer seine Strafe abgesessen hat, wird in der Regel ohne Auflagen in die Freiheit entlassen. Jugendanwaltschaften aber können unabhängig von der Höhe der Strafe die Massnahmen bis zur Alterslimite ausreizen, sollte ein junger Straftäter nicht kooperieren. Das erzeugt Druck und wirkt erst noch besser auf die jungen Menschen. Am Schluss entlässt man nicht gut ausgebildete Kriminelle in die Freiheit, sondern Berufsleute mit Perspektive. Womöglich wird die Alterslimite schon bald wieder heraufgesetzt: Die Zürcher Nationalrätin Chantal Galladé (SP) verlangt es in einer Motion.

Bei Migranten ist die Verurteilungsrate fünfmal höher

Mit der scheinbar dramatisch ansteigenden Jugendgewalt korrespondiert der Ruf nach mehr Repression. Einig sind sich fast alle darin, dass die Täter heutzutage brutaler vorgehen. Ob die Delikte und die Zahl der Gewalttäter insgesamt zugenommen haben, ist umstritten.

Der an der Universität Zürich lehrende Kriminologe und Soziologe Martin Killias spricht von einer Zunahme. Sein Institut hat in mehreren Kantonen Jugendliche über ihre Gewalterfahrungen befragt, zuletzt im Kanton St. Gallen. 5200 OberstufenschülerInnen der neunten Klasse beantworteten online einen Fragenkatalog. Selbst berichtete Delinquenz nennt sich das. Beispiel: «Hast Du schon einmal jemanden geschlagen oder verprügelt (mit den Fäusten, mit einer Waffe, mit Fusstritten etc.), sodass er/sie ernsthaft verletzt wurde (blutende Wunde, blaues Auge etc.)?» Kreuzt ein Schüler diese Frage mit Ja an, weiss niemand, was genau er getan hat und wie schlimm der Vorfall tatsächlich war. Das öffnet einen grossen Interpretationsspielraum.

Ein Viertel der befragten Schüler­Innen berichtet über Gewalterfahrungen. Und die Studie bestätigt, was bereits andere Studien herausgefunden haben und was sich auch aus den Kriminalitätsstatis­tiken ableiten lässt: Jugendliche aus Migrantenfamilien sind häufiger gewalttätig. Ein Befund der St. Galler Studie liess aber besonders aufhorchen: Migrantenkinder der zweiten Generation sind demnach genauso oft in Gewalttaten verstrickt wie die der ersten Generation.

Nachdem die Studie im August der Öffentlichkeit vorgestellt worden war, kritisierten Fachleute die ihr zugrunde liegende Methode beziehungsweise die Schlüsse, die man aus den Daten zog. Einer der KritikerInnen äusserte sich in einem Interview mit der Hauszeitung der Universität St. Gallen. Der HSG-Soziologieprofessor Franz Schultheis kritisierte, die Art der Befragung lasse bei der Interpretation der «seriös erhobenen Daten» einen grossen Spielraum, sofern man nicht die genauen Hintergründe ausleuchte. «Wenn solche Daten auf eine sensibilisierte Öffentlichkeit treffen, werden Aussagen produziert, die nicht kontrollierbar sind.» Der Soziologe knöpfte sich auch die Medien vor. Sie inszenierten spektakuläre Einzelfälle und zeichneten so ein Zerrbild. Das Phänomen der Jugendgewalt sei teilweise ein Konstrukt, an dem Medien, die Statis­tiken, die Polizei und die Wissenschaft mitbauten.

Schultheis’ Interpretation des hohen Migrantenanteils in den Kriminalitäts- und Urteilsstatistiken läuft dem politischen Mainstream zuwider: Migrantenkinder werden bei gleichen Straftaten durchgehend häufiger verurteilt als einheimische, bei Gewaltdelikten ist die Verurteilungsrate bei den MigrantInnen über fünfmal höher.

Schultheis stützt sich dabei auf die Untersuchung «Kindheit und Jugend in der Schweiz». Die hohen Verurteilungsquoten sind demnach auf Faktoren zurückzuführen, die Schweizer genauso gewalttätig werden lassen  – die ethnische Herkunft als Faktor gilt hier als «eigentlich irrelevant». Ins Gewicht fallen vielmehr Schichtzugehörigkeit, Bildungsniveau oder das soziale Umfeld.

Mit diesen Befunden stehen die Schweizer ForscherInnen nicht allein da. So bestätigen etwa die Arbeiten des Soziologen Bernd Holthusen vom Deutschen Jugendinstitut diese Befunde. Insgesamt habe die Gewalt sogar abgenommen. Gewaltvorfälle mit tödlichem Ausgang wie in München seien Einzelfälle, auch wenn die Menschen es wegen des starken medialen Rauschens anders wahrnehmen.

Schultheis’ unbeabsichtigter Stich ins politische Wespennest schmerzte allerdings erst richtig, als das «St. Galler Tagblatt» das HSG-interne Interview nachdruckte. Die St. Galler Regierungsrätin und Justizchefin Karin Keller-Sutter (FDP) – zusammen mit Erziehungschef Stefan Kölliker (SVP) Aufraggeberin der Killias-Studie – konterte in Windeseile in der nächsten Ausgabe. Die Magistratin warf dem Soziologen ideologische Verblendung vor und verteidigte die Killias-Studie und ihre Sicht auf die Jugendgewalt. Die Freisinnige aus einem CVP-Elternhaus, die als Nachfolgerin von Bundesrat Hans-Rudolf Merz gehandelt wird, gab ihrer Interpretation der Wirklichkeit den Anstrich der Objektivität: Die Schweiz sei kein Ausnahmefall mehr, die Jugendgewalt habe statistisch belegbar zugenommen und sich dem Niveau des europäischen Umfelds angepasst – was nicht nur Schultheis ganz anders einschätzt. Und man könne nun mal nicht die Augen davor verschliessen, dass Migrantenkinder, statistisch gesehen, überdurchschnittlich gewalttätig würden. Das allein mit Schichtzugehörigkeit zu begründen, greife zu kurz. Die Bekämpfung der Jugendgewalt müsse sich analog zum Drogenmissbrauch auf mehrere Säulen stützen. Und die Magis­tratin führte eines ihrer Lieblingsargumente an: die 24-Stunden-Gesellschaft und die enorme Mobilität. Man kann das beklagen. Dass ihre Partei aber an vorderster Front für möglichst schrankenlose Öffnungszeiten erst die Voraussetzungen dafür geschaffen hat, lässt sie jeweils unerwähnt.

Gibt man heute den Suchbegriff «Franz Schultheis» im Online-Archiv des freisinnig navigierten «St. Galler Tagblatts» ein, erscheint zwar die Stellungnahme der Regierungsrätin und der sie stützende Kommentar des Chefredaktors, nicht aber das Schultheis-Interview.

Das mag Zufall sein oder auch nicht: Symbolisch jedenfalls steht dieses digitale Verschwinden für den verbissenen Kampf um die politisch-thematische Lufthoheit. Der Scheuklappenvorwurf lässt sich übrigens leicht gegen die bürgerliche Fraktion wenden: Was nicht sein darf, kann nicht sein.

«Wir müssen über Missstände und Wertmassstäbe reden»

Manche leben ständig in Bodennähe in und mit den sozialen Realitäten, über die andere bloss gescheit reden. Stefan Ambühl, 52, ist kein einflussreicher Politiker und auch kein hoher Funktionär. Aber sein handfester Einsatz für die Jugend macht ihn zu einem glaubwürdigen Gesprächspartner. Früher war Ambühl Verkaufsleiter bei der Swisscom. Heute leitet er das Asylzentrum in Appenzell. Der Sozialdemokrat und alte Gewerkschafter ist mit einer Algerierin verheiratet. Vor dreissig Jahren gründete er das Jugendforum im ausserrhodischen Dörfchen Stein, wo er aufgewachsen ist. Und später, als der Jugendtreff wiederbelebt werden musste, liess er sich vom Gemeinderat breitschlagen und hilft nun wieder mit. Ausserdem ist er Beistand von vier jungen Männern. Allerdings will, kann und darf er nicht offen über seine Schützlinge reden und muss sich ins Allgemeine flüchten. Aus seinen Erfahrungen und Beobachtungen destilliert er Einsichten, die sich zum Teil mit den Befunden von Soziologen wie Franz Schultheis, aber auch mit jenen von PolitikerInnen wie Karin Keller-Sutter decken. Stefan Ambühl kennt die Lebenswelten von sozial unauffälligen Jugendlichen, von AusländerInnen und von schwierigen Jugendlichen aus nächster Nähe.

Ambühl sieht hinter die Fassaden von Familien, in denen die Mutter die Verkehrssprache Deutsch nicht beherrscht und daher in der für sie fremden Umwelt nicht nur mit den Kindern überfordert ist. Dann kippen innerfamiliäre Machtverhältnisse. Dank ihrer Sprachbeherrschung sind die Kinder der Mutter überlegen. Der Vater, müde von der schweren Arbeit, findet am Abend nicht die Kraft oder den Willen, sich um die Erziehung der Kinder zu kümmern. Diese Kinder landen auf der Verliererseite, ehe sie eingeschult werden. «Die spüren das, und es frustriert sie.»

Ambühl trifft auf prekäre Wohnverhältnisse. Alkohol, Gewalt und Scheidungen spielen oft mit. Aber nicht alles, was Ambühl sieht, animiert seinen Helfertrieb. Die schlechte Stellung der Frauen in manchen muslimischen Familien und die Verhätschelung ihrer Söh­­ne  – daran stösst er sich. Er will diese Dinge offen beim Namen nennen. «Über Missstände und die Wertmassstäbe unserer Gesellschaft müssen wir reden, wer hier leben will, soll sich an unsere Regeln halten. Wer keine Einsicht zeigt, den muss man ohne falsche Rücksichtnahme sanktionieren.»

Im Gespräch mit seinen Schützlingen fühlt sich Ambühl mitunter ohnmächtig. «Sie versprechen zwar, dass sie sich bessern, und entschuldigen sich für ihr Verhalten. Aber im Grunde wissen die Jugendlichen doch, dass ihnen keine wirklich harten Sanktionen drohen, wenn sie nicht spuren. Dabei geben wir ihnen echte Chancen.» Maulfaul seien manche und wirkten gleichgültig. Handkehrum klagt Stefan Ambühl die masslose Individualisierung an, geisselt die schlechten Vorbilder in Politik und Wirtschaft und deren Geldgetriebenheit, er fordert mehr Solidarität ein. Nicht weniger, sondern mehr Staat.

Mit Repressions-verherrlichung kommt man nicht weit


Dafür plädiert auch der Soziologe Martin Hafen. In einem aktuellen Aufsatz kritisiert der Dozent an der Hochschule Luzern den Ruf nach einfachen Lösungen. Mit «Grenzen setzen» und «hart bestrafen» komme man nicht weit. Die Polemik gegen «Kuscheljustiz» und «Kuschelpädagogik» führe zu nichts. Als «Repressionsverherrlichung» geisselt er das. Komplexe Probleme erforderten komplexe Lösungen. Zwar räumt Hafen der Erziehung eine bedeutende Rolle ein. Aber die Politik müsse sich um die Familien kümmern, in denen benachteiligte Jugendliche aufwachsen.

Einen Lösungsansatz sieht er in früh ansetzenden Förder- und Begleitprogrammen. Solche Programme zahlen sich aus. Das belegt eine Langzeituntersuchung in den USA, die eine Gruppe von geförderten Kindern mit einer Gruppe sich selbst überlassener Kinder vergleicht. Die öffentliche Hand hat hier mit jedem eingesetzten Dollar 16 Dollar gespart. Das Programm kos­tete pro Kind 15 000 Dollar, was einer Einsparung von 245 000 Dollar pro Kind entspricht. Ein Fazit Hafens: Prävention kann sich nicht auf Abschreckung, Sensibilisierung oder die kompromisslose Durchsetzung von Gesetzen und Regeln beschränken. Jugendgewalt ist demnach nicht primär ein Problem einer Jugend, die ihre Grenzen nicht kennt. Hafen sieht das Problem vielmehr bei der Politik, die Familien generell und besonders arme Familien weitgehend sich selber überlasse und den Kindern und Jugendlichen zu wenig Gestaltungsfreiheit im öffentlichen Raum zugestehe.

Jugendgewalt geht aber nicht bloss die Politik an: «Sie ist auch ein Problem der Gemeinschaft, die sich aus der Erziehung künftiger Generationen weitgehend zurückzieht und sich aufs Reklamieren beschränkt.»

Was die Statistik sagt

Die Anzeige- und Urteilsstatistiken erlauben aufgrund der bislang nicht abschätzbaren Dunkelziffer keinen genauen Aufschluss über das Ausmass der sogenannten Jugendgewalt. Umstritten ist auch, ob ein verändertes Anzeigeverhalten die Statistiken beeinflusst. Nimmt man diese zum Nennwert, legen sie allerdings nahe, dass die Gewaltbereitschaft Jugendlicher in den letzten Jahren deutlich angestiegen ist: Gemäss Kriminalstatistik hat die Zahl minderjähriger GewalttäterInnen von 1999 bis 2006 markant zugenommen (Körperverletzung: Zunahme von 760 auf 1525; Drohung: Zunahme von 405 auf 869). Die Anzahl der Jugendstrafurteile wegen Gewaltdelikten hat sich im gleichen Zeitraum von 1241 auf 2268 Verurteilungen beinahe verdoppelt.

Sonntag, Oktober 25, 2009

Mountains - Berge

Samstag, Oktober 24, 2009

Rudolf Strahm - Tages Anzeiger : Warum wir die teuersten Pommes Frites in Europa haben

Tages Anzeiger Online
Warum wir die teuersten Pommes Frites in Europa haben
Von Rudolf Strahm.

Wer ist Fenaco? Das weiss fast niemand. Dabei handelt es sich bei dem Agro-Konzern um eine Macht, welche den Schweizer Landwirtschaftsmarkt fest im Griff hat. Ganz zum Schaden der Konsumenten.

Wenn man die Leute auf der Strasse fragt, was «Fenaco» heisse, weiss fast niemand etwas über diesen Namen. Da wird gerätselt von Damenbikini bis Papageienart. Dabei ist die Fenaco einer der dominierendsten und politisierendsten Konglomeratskonzerne der Schweiz. Sie hat die stets bedauerte Branche, nämlich die Landwirtschaft, voll im Griff. Im Hintergrund zieht sie die politischen Fäden, wenns....


Tages Anzeiger Online
Warum wir die teuersten Pommes Frites in Europa haben
Von Rudolf Strahm.

Wer ist Fenaco? Das weiss fast niemand. Dabei handelt es sich bei dem Agro-Konzern um eine Macht, welche den Schweizer Landwirtschaftsmarkt fest im Griff hat. Ganz zum Schaden der Konsumenten.

Wenn man die Leute auf der Strasse fragt, was «Fenaco» heisse, weiss fast niemand etwas über diesen Namen. Da wird gerätselt von Damenbikini bis Papageienart. Dabei ist die Fenaco einer der dominierendsten und politisierendsten Konglomeratskonzerne der Schweiz. Sie hat die stets bedauerte Branche, nämlich die Landwirtschaft, voll im Griff. Im Hintergrund zieht sie die politischen Fäden, wenns um Marktabschottung, Hochpreispolitik und Verhinderung der Marktöffnung geht. Darum drängt sich ein wenig Aufklärung über das Agrobusiness auf.

Beim Publikum am ehesten bekanntest sind die Fenaco-Töchter im Detailhandel: Landi, Volg, die Weinfirma Divino und die Agrola-Tankstellen. Es gehören noch weitere 27 Firmen zum mächtigen Mischkonzern, der letztes Jahr fast sechs Milliarden Franken Umsatz erzielt hat. Fenaco umfasst heute neun Agrarhandelsfirmen für Zulieferungen an die Landwirtschaft, unter anderem solche für Landtechnik, die grössten Futtermühlen des Landes und den Anlagebau, im Weiteren acht Firmen für den Grosshandel mit einzelnen Agrarprodukten, vier Detailhandelsfirmen, zwei Brenn- und Treibstofflieferanten und fünf weitere Firmen, darunter eine eigene Werbeagentur.

Das Firmenkonglomerat hat mit seinen Tentakeln nach und nach die der Landwirtschaft vor- und nachgelagerten Branchen in Besitz genommen und einverleibt. Der einzelne Landwirt hat in diesem geschlossenen Markt ohne grosse Einbussen keine Ausweichmöglichkeit. Er ist auf Gedeih und Verderb gefangener Kunde und Lieferant dieses Agro-Konzerns.

Dominante Abnehmerin der Bauern


Der Chef der Fenaco sagt zwar bescheiden, er hätte «vierzigtausend Chefs», und meint damit die Landwirte, die über die Landi-Genossenschaften indirekt in die Trägerschaft des Konglomeratskonzerns eingebunden sind. Wenn man allerdings die Marktanteile aufgrund einer Weko-Untersuchung anschaut, dann sieht man die wahre Marktbeherrschung: Bei den Zulieferungen an die Landwirtschaft beherrscht die Fenaco zum Beispiel 50 bis 60 Prozent der Saatkartoffellieferungen, 70 bis 80 Prozent des Düngergrosshandels, 50 bis 60 Prozent der Pflanzenschutzmittel.

Wenn Verkäufer von Agrochemikalien, etwa von Syngenta oder Bayer, im Winter zur Bestellungsaufnahme die Bauern besuchen, werden die Pflanzenschutzmittel nicht etwa direkt auf die günstigste Art an den Hof geliefert, sondern der Landwirt muss diese bei der örtlichen Landi abholen gehen. Auch das verhilft dem Konzern zur marktbeherrschenden Stellung.

Auch im nachgelagerten Bereich ist die Fenaco zur dominanten Abnehmerin der Bauern geworden: 50 Prozent Marktanteil bei Speisekartoffeln und beim Getreide, 65 Prozent bei den Ölsaaten, ein Drittel bei Obst und Gemüse und ein Viertel aller Schweine. Wer an den Fenaco-Konzern beziehungsweise die Landi liefern will, muss in der Regel die benötigten Zulieferungen und Hilfsmittel auch dort beziehen. Man spricht im landwirtschaftlichen Jargon von «Gegengeschäften». Die Bezugspflicht ist, weil Knebelverträge das Kartellrecht verletzen, nirgends schriftlich festgehalten, aber «man kennt sich im Dorf», «man erwartet diese Solidarität», wie es auch heute noch in bäuerlichen Kreisen hinter vorgehaltener Hand heisst. Wer bei einem Aussenseiter und Parallelimporteur Hilfsstoffe günstiger bezogen hat, weist bald den Makel eines Dorfaussenseiters auf.

Die Weko schaut einfach zu


Dieser Kaufhunger der Fenaco nach andern Firmen ist, das sei nebenbei bemerkt, von der durchsetzungsschwachen Weko nicht gebremst worden. In einem unverständlichen Verfahren hat sie der Fenaco sogar erlaubt, mit der Übernahme des grossen Kartoffelspezialisten Steffen-Ris ein in der Schweiz absolut dominierendes Kartoffelkönigreich mit Saat- und Speisekartoffeln, aber auch mit Pommes frites für die Gastwirtschaft zu werden.

Nicht verwunderlich, dass unsere Gastronomie und die Konsumenten die teuersten Kartoffeln und Pommes frites Europas beziehen, obschon der Schweizer Bauer für seine Kartoffelernte nur gerade 40 Rappen pro Kilo oder weniger erhält. Das Agrobusiness profitiert dank der heutigen Zollstruktur im Windschatten des bäuerlichen Schutzes. Obschon sich die Fenaco bauernfreundlich und protektionistisch gibt, ist sie in aller Stille eine der grössten Importeure von Wein, aber auch von Fleischwaren geworden. In den Landi-Läden kosten Shiraz-Weine, Cabernet, Chardonnay und Merlot weniger als fünf Franken die Flasche. Und woher stammen sie? Aus Argentinien, Chile, Australien und Südafrika!

Diese Doppelbödigkeit setzt sie auch im politischen Verhalten fort. Die Fenaco ist nämlich treibende und finanzierende Kraft gegen jede Marktöffnung im Agrarbereich, gegen jeden Agrarfreihandel mit den EU-Staaten oder im Rahmen der WTO. Wenn es dereinst zu einer Agrarmarktöffnung mit der EU kommt, würde nicht nur der Import von EU-Agrarerzeugnissen erleichtert, sondern auch jener von landwirtschaftlichen Zulieferprodukten. Die Fenaco hätte somit neue Konkurrenz von ausländischen Lieferanten in Kauf zu nehmen. Heute kann sie dank Protektionismus die Landwirte im Vergleich zum benachbarten Ausland viel teurer mit Hilfsstoffen, Dünger und Saatgut beliefern.

Einflussreicher Verwaltungsrat


Im Verwaltungsrat der Fenaco finden wir eine Reihe von aktiven SVP-Politikern: Nationalrat Caspar Baader, Präsident der SVP-Fraktion, oder Nationalrat Guy Parmelin von der SVP Waadt. Sie gebärden sich besonders aggressiv protektionistisch. Auch Ueli Maurer war als Nationalrat jahrelang im Fenaco-Leitungsgremium.

Wir haben es mit einer neuartigen politökonomischen Achse der Protektionisten zu tun. Sie reicht politisch von der SVP bis zu den Grünen, die sich zunehmend isolationistisch gebärden. Und im Hintergrund orchestriert der reiche Fenaco-Konzern mit seinen handfesten Interessen die Marktabschottungspolitik.

Noch diese Woche will diese unheilige Allianz der Protektionisten eine neue politische Kampagnen-Organisation ins Leben rufen, welche die Marktöffnung bekämpfen soll. Zum Schaden der Konsumenten, der Gastronomie und der innovativen Bauern.

Rudolf Strahm war vier Jahre lang Preisüberwacher. www.rudolfstrahm.ch (Tages-Anzeiger)

Freitag, Oktober 23, 2009

Stepen Fry and Hugh Laurie : My Dear Boy!

just talking on two planes....
:-)

Donnerstag, Oktober 22, 2009

TA: Heilung unerwünscht - Neurodermitis

Tages Anzeiger Online
Wirtschaft

Heilung unerwünscht

Studenten entdecken ein Medikament gegen Neurodermitis – doch die Pharmakonzerne haben kein Interesse daran, die günstige Tinktur zu produzieren. Die verstörende Geschichte aus dem Pharma-Business wühlt Deutschland auf.


Alleine in Deutschland leiden acht Millionen Menschen an den Hautkrankheiten Neurodermitis und Schuppenflechte, in der Schweiz wird die Anzahl Betroffener auf etwa 300'000 geschätzt. Zwar gibt es Medikamente, die den Juckreiz lindern, doch haben diese oft starke Nebenwirkungen – und zu einer Heilung führen sie schon gar nicht. Dabei gäbe es schon seit 20 Jahren ein günstiges Mittel, das die Schmerzen der Patienten sofort und nachhaltig lindern könnte: Der Dokumentarfilm «Heilung unerwünscht – Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern», der gestern auf ARD gezeigt wurde, erzählt die Leidensgeschichte der beiden deutschen Studenten Karsten Klingelhöller und Thomas Hein, die ein potentes Mittel gegen Neurodermitis und Schuppenflechte entdeckt haben.

Ende der 80er-Jahre proben Klingelhöller und Hein in ihrer Wuppertaler Wohnung an einem Mittel gegen diese Hautkrankheiten, um der Freundin...


Tages Anzeiger Online
Wirtschaft

Heilung unerwünscht

Studenten entdecken ein Medikament gegen Neurodermitis – doch die Pharmakonzerne haben kein Interesse daran, die günstige Tinktur zu produzieren. Die verstörende Geschichte aus dem Pharma-Business wühlt Deutschland auf.


Alleine in Deutschland leiden acht Millionen Menschen an den Hautkrankheiten Neurodermitis und Schuppenflechte, in der Schweiz wird die Anzahl Betroffener auf etwa 300'000 geschätzt. Zwar gibt es Medikamente, die den Juckreiz lindern, doch haben diese oft starke Nebenwirkungen – und zu einer Heilung führen sie schon gar nicht. Dabei gäbe es schon seit 20 Jahren ein günstiges Mittel, das die Schmerzen der Patienten sofort und nachhaltig lindern könnte: Der Dokumentarfilm «Heilung unerwünscht – Wie Pharmakonzerne ein Medikament verhindern», der gestern auf ARD gezeigt wurde, erzählt die Leidensgeschichte der beiden deutschen Studenten Karsten Klingelhöller und Thomas Hein, die ein potentes Mittel gegen Neurodermitis und Schuppenflechte entdeckt haben.

Ende der 80er-Jahre proben Klingelhöller und Hein in ihrer Wuppertaler Wohnung an einem Mittel gegen diese Hautkrankheiten, um der Freundin Klingelhöllers, die an Schuppenflechte leidet, Linderung zu verschaffen. Sie mischen Vitamin B12 mit Avocadoöl, woraus eine rosafarbene Creme entsteht. Die Frau testet das Mittel, ihre Haut verheilt nach einigen Tagen – ohne Nebenwirkungen. Darauf prüft ein Dermatologie-Professor das Mittel erfolgreich in einer klinischen Studie. Klingelhöller lässt die Tinktur patentieren, kriegt die Zulassung dafür; ein Wirtschaftsprüfer schätzt den Wert der Rechte auf 936 Millionen Dollar.

Pharma will teurere Produkte verkaufen


Die Creme verspricht, ein Riesenerfolg zu werden. Insgesamt 16 Pharmafirmen stellen die beiden Jungforscher das Mittel vor. Doch überraschenderweise lehnen alle ab. «Regividerm», wie das günstige Produkt heissen sollte, passe nicht ins Konzept, sagen die Pharmamanager. Darauf verkauft Klingelhöller die Patentrechte an seinen Kollegen Rüdiger Weiss. Dieser versucht seitdem, das Produkt zu vermarkten. Sein Fazit: «Man möchte vermeiden, dass ein Medikament, das deutlich preiswerter ist und keine Nebenwirkungen hat, auf den Markt kommt». Die Pharmaindustrie wolle die eigenen, viel teureren Produkte damit nicht gefährden.

Dabei geistert Regividerm seit Jahren durch die Internetforen der betroffenen Patienten, selbst Apotheker sind auf der Suche danach. Klingelhöffer nahm der jahrelange Kampf gegen die Pharmaindustrie derart mit, dass er krank wurde. Er lebt in einer Klinik in der Schweiz. «Geld verdient man mit chronischem Leid», sagt er. (cha)

Mittwoch, Oktober 21, 2009

NZZ: Zoroastrier - Die Hüter des Feuers

19. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Hüter des Feuers
Eine der ältesten monotheistischen Religionen droht auszusterben – wie leben die Zoroastrier von heute?

Nicht allein durch Nietzsches «Also sprach Zarathustra», sondern auch durch ihre teilweise bizarr anmutenden Rituale hat die Religion der Zoroastrier eine magische Aura bewahrt. Ihre Anhänger freilich sind heute teilweise in der Ausübung ihres Glaubens eingeschränkt und die Gemeinden im Schwinden begriffen.

Maryam SchumacherMaryam Schumacher lebt als freie Journalistin in Berlin.

Tschak tschak, wie das leise Tropfen auf dem Marmorboden im Tempel, das unentwegt durch den Raum hallt. Tschak tschak, wie die Flammen, die endlos flackern, umgeben von den dunklen, kalten Wänden. Tschak Tschak: der Name des kleinen, legendären Ortes in der kargen, gebirgigen Provinz Yazd im Herzen Irans, wo der bedeutendste Wallfahrtsort und das Glaubenszentrum der Zoroastrier liegt.

Mittags öffnen sich die massiven bronzenen Torflügel. Der kleine Mann, der die....


19. Oktober 2009, Neue Zürcher Zeitung
Die Hüter des Feuers
Eine der ältesten monotheistischen Religionen droht auszusterben – wie leben die Zoroastrier von heute?

Nicht allein durch Nietzsches «Also sprach Zarathustra», sondern auch durch ihre teilweise bizarr anmutenden Rituale hat die Religion der Zoroastrier eine magische Aura bewahrt. Ihre Anhänger freilich sind heute teilweise in der Ausübung ihres Glaubens eingeschränkt und die Gemeinden im Schwinden begriffen.

Maryam SchumacherMaryam Schumacher lebt als freie Journalistin in Berlin.

Tschak tschak, wie das leise Tropfen auf dem Marmorboden im Tempel, das unentwegt durch den Raum hallt. Tschak tschak, wie die Flammen, die endlos flackern, umgeben von den dunklen, kalten Wänden. Tschak Tschak: der Name des kleinen, legendären Ortes in der kargen, gebirgigen Provinz Yazd im Herzen Irans, wo der bedeutendste Wallfahrtsort und das Glaubenszentrum der Zoroastrier liegt.

Mittags öffnen sich die massiven bronzenen Torflügel. Der kleine Mann, der die Besuchergruppen in den Feuertempel einlässt, trägt eine weisse Kappe und sieht aus wie gemalt, mit feinen Gesichtszügen, grauweissen Haaren und leuchtend blauen Augen. Im Tempel beginnt er zu erklären: Der zoroastrische Glaube beruhe auf der Reinheit der Elemente Erde, Luft, Wasser und des heiligsten, des Feuers. Alle seien lebensnotwendig, aber nur durch die göttliche Kraft des Feuers könne man Weisheit erlangen.

Monotheistische Urreligion?


Kaum eine Religion ist bis heute so unbekannt und unterschätzt, gleichzeitig aber so geheimnisvoll wie der Zoroastrismus. Das zeigt sich auch in den vielen Namen, die seinen Anhängern gegeben wurden: «Feueranbeter» oder im Persischen «die Magier». Die Anhängerschaft der Zoroastrier ist mittlerweile klein, weltweit gibt es noch rund 130 000 von ihnen. Dabei gehört die zoroastrische Religion zu den ältesten monotheistischen Religionen: Ihre Ursprünge reichen bis ins altpersische Reich 1800 Jahre vor Christus zurück. Das Judentum, das Christentum und der Islam sollen viele ihrer Prinzipien aus den Lehren des Propheten Zarathustra hergeleitet haben.

Der Schöpfergott der Zoroastrier ist Ahura Mazda, der in sieben Tagen die geistige und die materielle Welt, bestehend aus Sonne, Himmel, Erde, Gewässern, Tieren, Pflanzen und Menschen, geschaffen hat. So sagt es die Avesta, die heilige Schrift der Zoroastrier. Ihr Weltbild ist von einer Dichotomie zwischen Gut und Böse geprägt: Die gesamte Menschheit lebt in einem Kampf, den Ahura Mazda und sein Widersacher Ahriman austragen. Das Böse kann nur dauerhaft besiegt werden, wenn alle Menschen immer gut sind; in dieser Dichotomie ist damit auch das ethische Wertesystem enthalten, welches Pflichten und Verbote für die Zoroastrier definiert. Der Primat von Werten wie Loyalität, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft ist dabei nicht zuletzt auch eine Garantie für das Fortbestehen der eigenen Gemeinde, die in erster Linie von den Wohlfahrtseinrichtungen und den Beziehungsnetzen ihrer Mitglieder profitieren soll.

«Natürlich habe ich im Laufe meines Lebens auch viele Zweifel gehabt», erzählt Shernaaz Engineer. Die brünette, junge Frau mit den langen Haaren und den zierlichen Händen wirkt nachdenklich. «Es ist eine sehr alte Religion, die sich parallel zu den ältesten Zivilisationen entwickelt hat.» Diesen Aspekt findet Shernaaz nicht nur schön, sondern er gibt ihr auch Sicherheit.

Mit dem Fortschreiten der Islamisierung in Iran wurden die Zoroastrier, wie andere religiöse Minderheiten auch, zusehends vertrieben. In mehreren Wellen emigrierten sie im 9. Jahrhundert aus dem Nordwesten Irans nach Indien und liessen sich dort an der westlichen Küste in Gujarat und Mumbai nieder. Parsis heisst diese Gruppe der Zoroastrier, während sich diejenigen, die im 19. und im frühen 20. Jahrhundert auf der Flucht vor dem repressiven Qadjaren-Regime in einer zweiten Migrationswelle nach Indien gelangten, Iranis nennen.

Kleine Gemeinde mit hohem Ansehen

Im südlichen Zipfel von Mumbai befinden sich rund 25 Feuertempel. Anders als in Iran haben Nicht-Parsis hier keinen Zutritt. Für Aussenseiter wirkt die Gemeinde auf den ersten Blick in sich gekehrt und verschlossen, die Religion mit ihren absonderlichen Riten manchmal fast schockierend. Mehrere Parsi-Enklaven wurden in Mumbai als gated communities, als mit Mauern und Wächtern geschützte Wohnsiedlungen, gebaut. In einer von ihnen lebt die 32-jährige Shernaaz. «Für mich ist diese Form des Zusammenlebens optimal», erklärt die junge Publizistin und schränkt gleichzeitig ein: «Der Austausch in der Gemeinde hat sich allerdings sehr verändert, weil das Leben so mechanisch geworden ist und die Menschen permanent beschäftigt sind.» Der Zusammenhalt in der Gemeinde jedoch sei weiterhin sehr stark.

Die Parsis geniessen in Indien hohes Ansehen, nicht zuletzt weil sie viel zur städtischen und industriellen Entwicklung der Stadt Mumbai beigetragen haben. Eine ganze Anzahl von Sozialeinrichtungen, Krankenhäusern, Schulen und Kunstgalerien gehen auf Parsis zurück; auch die Eigentümerfamilie des global tätigen Mischkonzerns Tata ist parsischer Abkunft. Nicht zuletzt funktioniert die kleine Gemeinde auch als soziales Netzwerk, das etwa ärmeren Familien Zugang zu günstigem Wohnraum verschafft.

Oben an der Eingangspforte der Feuertempel ist Faravahar abgebildet, ein menschenähnliches Wesen mit Flügeln, das für die Zoroastrier den Geist symbolisiert. Heute wird vermutet, dass möglicherweise die Engelsymbolik auf den zoroastrischen Glauben zurückgeht. Gleichzeitig steht Faravahar für den ethischen Leitspruch eines jeden Zoroastriers: Pendar-e Nik, Goftar-e Nik, Kerdar-e Nik – gute Gedanken, gute Worte, gute Taten. «Zoroastrier sein bedeutet aufrichtig sein, ehrlich sein und Zivilcourage zeigen», vervollständigt Shernaaz die ethischen Grundsätze. Sie ist sich des jahrtausendealten Vermächtnisses ihres Glaubens mit seinen Ritualen und Traditionen äusserst bewusst. Sie ist eine überzeugte Gläubige, und trotzdem stellt sie berechtigte Fragen: «Dass dieser Glaube so lange existiert, ist unglaublich, aber gleichzeitig auch schwierig. Wie sollen seine Inhalte und Grundsätze an die zukünftigen Generationen weitergegeben werden?»

Angst um die eigene Identität

Aufrechterhalten der Traditionen und Anpassung an die Moderne sind für die zoroastrische Religionsgemeinschaft eine immense Herausforderung, denn die Gemeinde schrumpft immer mehr. Der Theologe Khojeste Mistry, der auch zu den Vorsitzenden des Parsi Panchayat (Parsi-Gemeinderat) zählt, steht diesen Problemen vorläufig weitgehend ratlos gegenüber. «Jede Gemeinde begründet ihre Identität auf Ritualen. Wenn diese nicht an künftige Generationen weitergegeben werden können, dann wird es bald keine Parsi-Identität mehr geben.» Mistry setzt sich seit Jahren intensiv mit den religiösen Belangen der Gemeinde auseinander. In seinem kleinen Büro stapeln sich überall Bücher, Berge von Papieren und Akten. Er gibt zu, ohne dass es nach Resignation klingt: «Für dieses Problem haben wir noch keine schnelle Lösung gefunden.»

Denn der Zoroastrismus ist patriarchal, sprich: Nur die männlichen Mitglieder gewährleisten das Fortbestehen der Gemeinde. Ähnlich wie im Judentum ist die Heirat innerhalb der Gemeinde ein Muss, sonst droht der Ausschluss. Dieser Patriarchalismus jedoch ist problematisch für die Gemeinde und diskriminierend, denn während die Kinder aus einer Ehe zwischen einem zoroastrischen Vater und einer nichtzoroastrischen Mutter als Teil der Gemeinde gesehen werden, «sind die anderen Kinder für die Gemeinde verloren», sagt Mistry etwas zugespitzt, aber treffend.

«Wenn unsere Zeit vorbei ist, ist sie vorbei», meint dagegen der Journalist Sarosh Bana. Ihm seien die Traditionen der Gemeinde sehr wichtig, aber daran um jeden Preis festzuhalten, ginge zu weit. Auch für den Vater von Shernaaz, Adi Engineer, ist die Zukunft der Gemeinde ein Thema; und er betrachtet sogar die Aufnahme von Kindern mit nichtzoroastrischer Mutter nicht ohne Skepsis. Irgendwann habe ein Parsi-Gericht entschieden, dass die Kinder von Parsi-Männern aus einer gemischten Ehe weiterhin der Gemeinde angehören dürften. «Das hat zu einer Anomalie geführt», beteuert Adi Engineer. Natürlich ist er sich der Problematik und des sozialen Drucks in der Gemeinde durchaus bewusst. Er fügt dann aber hinzu, als versuche er seinen Purismus zu entschuldigen: «Viele wollen eben, wie ich, dass unsere Kinder die parsische Identität bewahren.»

Skeptische Frauen


Eigentlich würde die zoroastrische Religion schon die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau predigen, meint Mehernaaz Sam Wadia und nippt nachdenklich an ihrem Drink. Dann sagt sie: «Frauen werden aber doch ausgeschlossen.» Wie im Islam verbietet der zoroastrische Glaube, dass Frauen etwa während ihrer Menstruation Heiligtümer betreten, um an bestimmten spirituellen Festlichkeiten teilzunehmen. Mehernaaz ist durchaus kritisch. «Diese Form einer patriarchalischen Gesellschaft finde ich nicht gut.» Die junge Frau arbeitet als Richterin in Mumbai und schreibt regelmässig im Blog «Parsi Khabar» (Parsi-Nachrichten) über aktuelle Ereignisse und Debatten innerhalb der Gemeinde. Gläubig ist Mehernaaz dennoch sehr. «Ich kann mir gar nicht vorstellen, einen anderen Glauben anzunehmen, auch nicht um der Liebe willen», erklärt sie und spricht damit ein heikles Thema an.

Mehernaaz will selbstverständlich ihren Beruf ausüben. Für dieses Phänomen der Emanzipation und Selbstverwirklichung hat Khojeste Mistry eine Erklärung. Der hohe Bildungsgrad innerhalb der Gemeinde sei ein Indiz dafür, dass spät geheiratet werde. «Heute wollen die jungen Menschen zuerst studieren, einen hohen Lebensstandard erreichen, um sich ihre Träume zu erfüllen. Mit der globalen Vernetzung steigt aber gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit, dass die jüngere Generation der Parsis nicht mehr in der Gemeinde bleibt.» Shernaaz und Mehernaaz wollen zwar beide in der Gemeinde bleiben, wissen aber um die Schwierigkeiten und die möglicherweise nötigen Kompromisse und Opfer, die diese Entscheidung mit sich bringt. In Indien werden noch immer Hochzeiten arrangiert, und auch unter Parsis ist dieser Brauch üblich, besonders weil man sicherstellen will, dass nicht ausserhalb der Gemeinde geheiratet wird. Mehernaaz betont aber, dass es ihr freier Wille war, einen Partner zu suchen, der Parsi ist. Sie hat Glück gehabt – in wenigen Monaten findet die Hochzeit statt.

Türme des Schweigens

In Iran wird mit dem Glauben der Zoroastrier noch immer das alte, glorreiche Perserreich assoziiert; zudem respektiert man ihn als eine Religion, die spätere Glaubensrichtungen geprägt hat. Anderseits aber werden mit dem Zoroastrismus auch Riten in Verbindung gebracht, die absonderlich und abschreckend erscheinen, wie etwa die Bestattungszeremonien. Man unterzog die Toten zunächst einer langen Prozedur, bei der die Körper mit dem Urin von Stieren und danach mit kaltem Wasser gewaschen wurden; dann folgte die Einbalsamierung mit ätherischen Ölen und Parfum, und schliesslich trug man die Leichname auf sogenannte Türme des Schweigens (auf Persisch Dakhmah genannt), wo man sie der Sonne und der Natur aussetzte. Speziell abgerichtete Raubvögel verzehrten die Leichen, wobei aus dieser Prozedur auch Auspizien für das Seelenheil des Verstorbenen gelesen wurden.

Seit dem Bestehen der Islamischen Republik sind in Iran diese Bestattungszeremonien jedoch untersagt. Nur in Indien sind sie noch erlaubt, fünf Türme des Schweigens stehen in Mumbai, und obwohl sie einzig von Priestern besucht werden dürfen, wirken sie wie ein Mahnmal für diese aussterbende Religion. In Iran können nahe der Stadt Yazd zwei besonders eindrucksvolle Türme des Schweigens mit den dazugehörigen kultischen Bauten für die Herrichtung der Toten besichtigt werden, in einem Museum werden Archivbilder der verdorrten, geschwärzten Leichname gezeigt. Die Türme von Yazd und vor allem der Feuertempel von Tschak Tschak sind noch heute Pilgerorte für Zoroastrier aus der ganzen Welt, die sich jeweils zum persischen Neujahrsfest Nouruz hier einfinden. Der Weg zum Tempel führt durch die steinige, dürre Wüstensteppe und über massive, kahle Berge. Am Eingang des Feuertempels ragt ein sagenumwobener Baum direkt aus der Bergwand: An dieser Stelle soll einst die Prinzessin Nikbanou gestanden und um Schutz gefleht haben, als sie vor dem Einmarsch der Araber floh. Sie flehte zu Ahura Mazda, der Berg öffnete sich einen Spalt breit, und die Prinzessin schlüpfte hinein. So zumindest will es die Legende.