Tages Anzeiger Online 30.03.2010
Kultur
Weshalb Gläubige zweifeln sollen
Es ist der Traum vieler religiöser Menschen: endlich die vielen Zweifel am Glauben loszuwerden. Die Sozialphilosophen Peter L. Berger und Anton Zijderveld räumen mit dieser Hoffnung auf.
Das Buch
Peter L. Berger/Anton Zijderveld: «Lob des Zweifels», Kreuz Verlag, 179 Seiten, 29,50 Franken.
In ihrem Buch «Lob des Zweifels» erklären sie, weshalb ein allzu sicherer Glaube für das Zusammenleben der Menschen sogar gefährlich werden kann. Leicht hat man es heute nicht mit seinem Glauben, das geben die Autoren zu.
Egal mit wem man redet oder was man liest - überall trifft man auf Überzeugungen, die so gar nicht in das eigene Weltbild passen wollen. Unwillkürlich beginnt man zu überlegen, wer denn wohl recht hat? Da ist zum Beispiel der Christ, der mit dem Glauben seines muslimischen Arbeitskollegen konfrontiert wird. Oder der Herr, der einer Dame aus Höflichkeit den Vortritt lassen .....
Tages Anzeiger Online 30.03.2010
Kultur
Weshalb Gläubige zweifeln sollen
Es ist der Traum vieler religiöser Menschen: endlich die vielen Zweifel am Glauben loszuwerden. Die Sozialphilosophen Peter L. Berger und Anton Zijderveld räumen mit dieser Hoffnung auf.
Das Buch
Peter L. Berger/Anton Zijderveld: «Lob des Zweifels», Kreuz Verlag, 179 Seiten, 29,50 Franken.
In ihrem Buch «Lob des Zweifels» erklären sie, weshalb ein allzu sicherer Glaube für das Zusammenleben der Menschen sogar gefährlich werden kann. Leicht hat man es heute nicht mit seinem Glauben, das geben die Autoren zu.
Egal mit wem man redet oder was man liest - überall trifft man auf Überzeugungen, die so gar nicht in das eigene Weltbild passen wollen. Unwillkürlich beginnt man zu überlegen, wer denn wohl recht hat? Da ist zum Beispiel der Christ, der mit dem Glauben seines muslimischen Arbeitskollegen konfrontiert wird. Oder der Herr, der einer Dame aus Höflichkeit den Vortritt lassen will, aber von einer emanzipierten Frau brüsk zurückgewiesen wird. Ständig müssen Menschen ihre Meinungen und Verhaltensweisen überdenken, schreiben Berger und Zijderveld.
Gefahr einfacher Wahrheiten
«Man könnte ohne grosse Übertreibung sagen, dass die Moderne unter einer Übersättigung an Selbstreflexion leidet. Kein Wunder, dass so viele Menschen heute ständig nervös und mit den Nerven am Ende sind», heisst es in ihrem Buch. Die fast schon logische Folge ist eine Sehnsucht nach einfachen Wahrheiten.
Und diese Sehnsucht endet leicht im Fanatismus, denn wer fanatisch eine bestimmte Weltanschauung vertritt, muss nicht mehr zweifeln, schreiben die Autoren. «Fanatiker sind tatsächlich mehr mit sich im Frieden.» Sie sehen sich als «wahre Gläubige», weil sie frei von Zweifeln sind.
Berger und Zijderveld machen zwei Positionen aus, in die sich irritierte Gläubige flüchten können: Die eine ist der Relativismus, für den es keine objektive Wahrheit gibt. Die andere ist der Fundamentalismus, der sich in vormoderne Traditionen flüchtet.
«Klima gesunden Zweifels»
Für das praktische Leben hat beides fatale Auswirkungen, betonen den Autoren: Im Relativismus ist das Interesse eines Vergewaltigers ebenso legitim wie das seines Opfers. Der Fundamentalismus würde hingegen nicht akzeptieren, dass ein Muslim in einem christlichen Land seinen Glauben praktiziert. Keine dieser Positionen kann Grundlage für ein friedliches Zusammenleben in einer modernen Gesellschaft sein. Folglich ist der Zweifel eine Grundvoraussetzung für gesellschaftliches Miteinander.
«Aufrichtiger und konsistenter Zweifel ist die Quelle der Toleranz», wie es im Buch heisst. Allerdings: Übertriebener Zweifel führt zu Verzagtheit. Es braucht also ein Gleichgewicht zwischen Gewissheit und Zweifel, ein «Klima gesunden Zweifels».
Auf hohem Niveau zweifeln
Sein ganzes Leben lang hat sich der heute 81-jährige Religionssoziologe Berger mit der Frage beschäftigt, wie sich der Verlust von Gewissheiten auf die Beziehungen zwischen Menschen und Völkern auswirkt. Dafür bekommt er im Mai den Leopold-Lucas-Preis der Universität Tübingen verliehen. Mit dem «Lob des Zweifels» hat er seine Erkenntnisse nun leicht verständlich für ein breites Publikum aufbereitet, ohne dabei oberflächlich zu werden.
Amüsant ist die Lektüre noch dazu, denn wo immer möglich veranschaulichen Berger und Zijderveld ihre Gedankengänge an herrlich pointierten Alltags-Situationen. Nach der Lektüre zweifelt man zumindest auf hohem Niveau. (rb/sda)
Artikel,Gedanken, Ideen, Links und Kommentare plus etwas Musik sowie ab und an etwas zum Schmunzeln, aber mit einer politischen bzw. geo-politischen Tendenz. Deutsch und Englisch. Kommentare und Artikel von Lesern sind willkommen!
Articles, thoughts, ideas and comments plus some music and the odd joke, though with a political and geo-political bent. German and English. Readers are invited to submit articles and comments!
Mittwoch, März 31, 2010
Montag, März 22, 2010
Sonntag, März 21, 2010
Samstag, März 20, 2010
Freitag, März 19, 2010
Griechenland ohne Säulen
NZZ Online
18. März 2010
Griechenland ohne Säulen
Eine Krise, die historisch zu verorten ist – statt Realitäten wahrzunehmen, pflegte Europa allzu lange ein Wunschbild
Jahrelang sah Europa zu, wie Griechenland grobfahrlässig in eine Krise schlitterte, die nun die EU bedroht. Dabei hat man der Illusion von der Wiege der europäischen Kultur nachgehangen und übersehen, dass Griechenland von den Strukturen und den damit verbundenen Problemen her ein Balkanland ist.
Oliver Jens Schmitt
Im Athener Parlament wurde heftig diskutiert. Die Budgetnöte liessen den beiden grossen Parteien nur wenig Spielraum. Verflogen war der nationale Taumel nach den Olympischen Spielen, die soeben in Athen stattgefunden hatten. Für die Modernisierung der Infrastruktur und die Rüstungsausgaben war ebenso wenig Geld vorhanden wie für geplante Steuererleichterungen. Beide grossen Parteien erwogen aber den Abbau von Sozialleistungen und der Pensionszahlungen, die das Budget massiv belasteten. Gläubiger bedrängten das Land. Bauern und Wirtschaftstreibende klagten über die ausufernde und unfähige Bürokratie. Unzufriedene Jugendliche erschütterten mit ihren Demonstrationen Athen. Die Krise endete mit dem Bankrott des griechischen Staates, der der Aufsicht ausländischer Gläubiger unterstellt wurde.
Nicht die Lage Griechenlands im Jahre 2010 wird hier beschrieben, sondern Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Geschichte wiederholt sich glücklicherweise nicht. Denn 1897 liess sich die griechische Regierung mitten in schwersten Haushaltnöten von einer erregten Athener Volksmenge in einen Krieg gegen das militärisch weit überlegene....
NZZ Online
18. März 2010
Griechenland ohne Säulen
Eine Krise, die historisch zu verorten ist – statt Realitäten wahrzunehmen, pflegte Europa allzu lange ein Wunschbild
Jahrelang sah Europa zu, wie Griechenland grobfahrlässig in eine Krise schlitterte, die nun die EU bedroht. Dabei hat man der Illusion von der Wiege der europäischen Kultur nachgehangen und übersehen, dass Griechenland von den Strukturen und den damit verbundenen Problemen her ein Balkanland ist.
Oliver Jens Schmitt
Im Athener Parlament wurde heftig diskutiert. Die Budgetnöte liessen den beiden grossen Parteien nur wenig Spielraum. Verflogen war der nationale Taumel nach den Olympischen Spielen, die soeben in Athen stattgefunden hatten. Für die Modernisierung der Infrastruktur und die Rüstungsausgaben war ebenso wenig Geld vorhanden wie für geplante Steuererleichterungen. Beide grossen Parteien erwogen aber den Abbau von Sozialleistungen und der Pensionszahlungen, die das Budget massiv belasteten. Gläubiger bedrängten das Land. Bauern und Wirtschaftstreibende klagten über die ausufernde und unfähige Bürokratie. Unzufriedene Jugendliche erschütterten mit ihren Demonstrationen Athen. Die Krise endete mit dem Bankrott des griechischen Staates, der der Aufsicht ausländischer Gläubiger unterstellt wurde.
Nicht die Lage Griechenlands im Jahre 2010 wird hier beschrieben, sondern Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Geschichte wiederholt sich glücklicherweise nicht. Denn 1897 liess sich die griechische Regierung mitten in schwersten Haushaltnöten von einer erregten Athener Volksmenge in einen Krieg gegen das militärisch weit überlegene Osmanische Reich treiben. Dass osmanische Truppen nicht in Athen einmarschierten, verdankte das Land einzig dem Eingreifen der Grossmächte.
Auf osmanischen Strukturen
Geschichte wiederholt sich nicht, Strukturen aber verändern sich bisweilen nur langsam. Und dies gilt für das neugriechische Staats- und Gesellschaftsmodell ebenso wie für die Reaktionen in Europa (das hier, dem neugriechischen Sprachgebrauch gemäss, als Gegenüber Griechenlands aufgefasst wird). Die neugriechische Gesellschaft ist wie ihre Nachbarn auf dem Balkan im Wesentlichen aus Strukturen des Osmanischen Reiches hervorgegangen. Das verbreitete Misstrauen der Gesellschaft gegenüber dem Staat, die Hemmung staatlicher Einrichtungen durch Klientelismus und Korruption, die Bedeutung persönlicher Beziehungen bei der Wahrnehmung sozialer Interessen, eine nicht gleichmässig akzeptierte Übernahme europäischer Normsysteme (Verfassung, Recht), eine geringe Konsensfähigkeit im politischen Leben, eine gewisse Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft, die bisweilen verbunden ist mit kollektivistisch ausgerichteten Gesellschaftsidealen – all dies findet sich in den Staaten der Region, in Teilelementen notabene aber auch ausserhalb derselben, etwa in Süditalien.
Um die griechische Krise historisch zu verorten, scheint aber ein Vergleich mit den strukturverwandten Staaten des Balkans hilfreich. Von deren Entwicklungsweg entfernte sich Griechenland nach 1945, da es als einziges Balkanland nicht unter kommunistische Herrschaft geriet. Doch auch die grosszügige Finanzhilfe der EG bzw. der EU seit 1981 hat langlebige Strukturelemente nicht grundlegend verändert, vor allem, da diese Mittel erheblich zum Erhalt und Ausbau von Klientelsystemen verwendet wurden, die von den beiden grossen politischen Parteien abhängen.
Heftigere Reaktionen
Die Reaktionen auf die griechische Finanzkrise sind in Europa heftiger als im Falle Portugals oder Islands. Geschichte und Kultur erscheinen plötzlich als Teil einer eigentlich finanztechnischen Debatte, wenn deutsche Magazine griechische Statuen als Symbol bemühen und griechische Politiker ihre zivilisatorische Überlegenheit gegenüber deutschen Kritikern hervorheben.
Wie ist dies zu erklären? Griechenland dient «Europa» als Projektionsfläche, die ihrerseits das Projizierte zum Selbstbild gemacht hat. Im neuzeitlichen Griechenland sahen antikebegeisterte europäische Intellektuelle das antike Hellas, die Wiege europäischer Kultur und Demokratie. Viele Anführer der orthodoxen Aufständischen, die seit 1821 für eine Sezession als eigener Staat am Rande des Osmanischen Reichs kämpften, übernahmen diese Vorstellung. Die Antike bildete fortan das wichtigste symbolische Kapital des 1830 gegründeten Kleinstaates, der stets viel mehr europäische Sympathie genoss als seine allmählich entstehenden nördlichen Nachbarstaaten auf dem Balkan.
Das wiedererstandene Hellas sollte zum Musterland im Orient werden. Die bayrischen Wittelsbacher übernahmen die Krone und schickten bayrische Beamte, die das Staatswesen aufbauen sollten. Der junge Staat und seine Eliten verschrieben sich ganz dem Antikekult. Mit Bezug auf die Kontinuität zum antiken Hellas entwickelte die griechische Elite eine ausgeprägte Überlegenheitshaltung gegenüber den slawischen, albanischen und türkischen Nachbarn, aber auch bisweilen gegenüber Europa, dem sich das Land wiederholt als Wiege europäischer Werte in Erinnerung brachte. Die griechische mission civilisatrice führte zu Angriffen auf das Osmanische Reich (1897, 1912, 1919), die letztlich in die Niederlage gegen Kemal Atatürks Türkei und in das Ende des kleinasiatischen Griechentums mündeten. Erst angesichts der Katastrophe wurden in Griechenlands weltlicher Elite kritische Stimmen lauter, die den inneren Landesaufbau über nationalen Expansionismus stellten und organisch gewachsene kulturelle Traditionen aus byzantinischer und nachbyzantinischer Zeit dem Antikekult entgegensetzten.
Doch zeitigte die Selbstdarstellung als wiedererstandenes Hellas in Europa bis heute wesentliche Vorteile: Griechenland wurde als Mittelmeerland, als Teil des Westens, nicht des Balkans empfunden. Nach 1923 finanzierte der westlich dominierte Völkerbund die Integration der 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Kleinasien – und trug damit die Kosten des gescheiterten Traums von einem Grossgriechenland. Rund zwanzig Jahre später trugen diese besonderen Sympathien – gewiss nicht ausschliesslich, viel gewichtiger war die strategische Lage des Landes – dazu bei, dass Griechenland nicht unter die Herrschaft Stalins gelangte wie die meisten anderen Balkanländer.
Als erstes Balkanland wurde Griechenland in die EG aufgenommen, die damit den Demokratisierungsprozess nach dem Ende der Obristendiktatur (1974) unterstützte. Dass damit Deutschland über seine Beiträge an die EG/EU die Hauptlast der Modernisierung des Landes trug – die Griechenland heute so stark von seinen Nachbarn in der Region unterscheidet –, scheinen griechische Politiker heute ebenso zu vergessen wie die bisher herrschende Langmut der EU, die Griechenlands Obstruktion in der Makedonienfrage oder sein Junktim zwischen der EU-Osterweiterung und der Aufnahme des geteilten Zypern hinnahm.
Sturz vom hohen Podest
Griechenland verlangt Anerkennung und auch Sympathie für seine Stellung als Mutterland der europäischen Kultur. Wer auf ein hohes Podest steigt, stürzt tiefer als andere. Die Empörung über Griechenland stammt in Europa zumeist aus enttäuschter Zuneigung. Und derart desillusionierte Liebe kennzeichnet seit langem das Verhältnis zwischen Hellas und Europa. Schon viele Philhellenen des 19. Jahrhunderts reagierten verbittert, als sie in Griechenland keinen antiken Hellenen, sondern einer orthodoxen postosmanischen Gesellschaft griechischer, albanischer und aromunischer Sprache begegneten. Immer wenn die enorme Spannung zwischen Anspruch und soziokultureller Wirklichkeit abfiel, entluden sich heftige identitäre Gewitter, in Griechenland selbst, noch stärker aber bei jenen im Ausland, die sich in ihren Projektionen betrogen fühlten.
Man täte daher gut daran, die Finanzkrise und ihre kulturelle Metaebene – den heftigen Umgang mit derselben – in zwei grössere Zusammenhänge zu stellen. Zum einen in einen gesellschaftlichen Vergleichsrahmen, innerhalb dessen Griechenland als Teil Südosteuropas betrachtet und damit an seinem Entwicklungsgang in den letzten Jahrhunderten gemessen wird – ein Griechenland ohne Säulen sozusagen, dessen nördliche Provinzen vor 100 Jahren mit einer von der heutigen ganz verschiedenen ethnischen Struktur Teil des Osmanischen Reiches gewesen waren. Zum anderen sollte bedacht werden, dass diese Säulen zu Griechenland gehören, aber eben zu einem imaginierten Griechenland, zu dem die neugriechische Elite ebenso beigetragen hat wie die europäische Griechenschwärmerei.
Prof. Dr. Oliver Jens Schmitt lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Vor kurzem erschien bei Pustet der vielbeachtete Band: «Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan».
18. März 2010
Griechenland ohne Säulen
Eine Krise, die historisch zu verorten ist – statt Realitäten wahrzunehmen, pflegte Europa allzu lange ein Wunschbild
Jahrelang sah Europa zu, wie Griechenland grobfahrlässig in eine Krise schlitterte, die nun die EU bedroht. Dabei hat man der Illusion von der Wiege der europäischen Kultur nachgehangen und übersehen, dass Griechenland von den Strukturen und den damit verbundenen Problemen her ein Balkanland ist.
Oliver Jens Schmitt
Im Athener Parlament wurde heftig diskutiert. Die Budgetnöte liessen den beiden grossen Parteien nur wenig Spielraum. Verflogen war der nationale Taumel nach den Olympischen Spielen, die soeben in Athen stattgefunden hatten. Für die Modernisierung der Infrastruktur und die Rüstungsausgaben war ebenso wenig Geld vorhanden wie für geplante Steuererleichterungen. Beide grossen Parteien erwogen aber den Abbau von Sozialleistungen und der Pensionszahlungen, die das Budget massiv belasteten. Gläubiger bedrängten das Land. Bauern und Wirtschaftstreibende klagten über die ausufernde und unfähige Bürokratie. Unzufriedene Jugendliche erschütterten mit ihren Demonstrationen Athen. Die Krise endete mit dem Bankrott des griechischen Staates, der der Aufsicht ausländischer Gläubiger unterstellt wurde.
Nicht die Lage Griechenlands im Jahre 2010 wird hier beschrieben, sondern Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Geschichte wiederholt sich glücklicherweise nicht. Denn 1897 liess sich die griechische Regierung mitten in schwersten Haushaltnöten von einer erregten Athener Volksmenge in einen Krieg gegen das militärisch weit überlegene....
NZZ Online
18. März 2010
Griechenland ohne Säulen
Eine Krise, die historisch zu verorten ist – statt Realitäten wahrzunehmen, pflegte Europa allzu lange ein Wunschbild
Jahrelang sah Europa zu, wie Griechenland grobfahrlässig in eine Krise schlitterte, die nun die EU bedroht. Dabei hat man der Illusion von der Wiege der europäischen Kultur nachgehangen und übersehen, dass Griechenland von den Strukturen und den damit verbundenen Problemen her ein Balkanland ist.
Oliver Jens Schmitt
Im Athener Parlament wurde heftig diskutiert. Die Budgetnöte liessen den beiden grossen Parteien nur wenig Spielraum. Verflogen war der nationale Taumel nach den Olympischen Spielen, die soeben in Athen stattgefunden hatten. Für die Modernisierung der Infrastruktur und die Rüstungsausgaben war ebenso wenig Geld vorhanden wie für geplante Steuererleichterungen. Beide grossen Parteien erwogen aber den Abbau von Sozialleistungen und der Pensionszahlungen, die das Budget massiv belasteten. Gläubiger bedrängten das Land. Bauern und Wirtschaftstreibende klagten über die ausufernde und unfähige Bürokratie. Unzufriedene Jugendliche erschütterten mit ihren Demonstrationen Athen. Die Krise endete mit dem Bankrott des griechischen Staates, der der Aufsicht ausländischer Gläubiger unterstellt wurde.
Nicht die Lage Griechenlands im Jahre 2010 wird hier beschrieben, sondern Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Geschichte wiederholt sich glücklicherweise nicht. Denn 1897 liess sich die griechische Regierung mitten in schwersten Haushaltnöten von einer erregten Athener Volksmenge in einen Krieg gegen das militärisch weit überlegene Osmanische Reich treiben. Dass osmanische Truppen nicht in Athen einmarschierten, verdankte das Land einzig dem Eingreifen der Grossmächte.
Auf osmanischen Strukturen
Geschichte wiederholt sich nicht, Strukturen aber verändern sich bisweilen nur langsam. Und dies gilt für das neugriechische Staats- und Gesellschaftsmodell ebenso wie für die Reaktionen in Europa (das hier, dem neugriechischen Sprachgebrauch gemäss, als Gegenüber Griechenlands aufgefasst wird). Die neugriechische Gesellschaft ist wie ihre Nachbarn auf dem Balkan im Wesentlichen aus Strukturen des Osmanischen Reiches hervorgegangen. Das verbreitete Misstrauen der Gesellschaft gegenüber dem Staat, die Hemmung staatlicher Einrichtungen durch Klientelismus und Korruption, die Bedeutung persönlicher Beziehungen bei der Wahrnehmung sozialer Interessen, eine nicht gleichmässig akzeptierte Übernahme europäischer Normsysteme (Verfassung, Recht), eine geringe Konsensfähigkeit im politischen Leben, eine gewisse Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft, die bisweilen verbunden ist mit kollektivistisch ausgerichteten Gesellschaftsidealen – all dies findet sich in den Staaten der Region, in Teilelementen notabene aber auch ausserhalb derselben, etwa in Süditalien.
Um die griechische Krise historisch zu verorten, scheint aber ein Vergleich mit den strukturverwandten Staaten des Balkans hilfreich. Von deren Entwicklungsweg entfernte sich Griechenland nach 1945, da es als einziges Balkanland nicht unter kommunistische Herrschaft geriet. Doch auch die grosszügige Finanzhilfe der EG bzw. der EU seit 1981 hat langlebige Strukturelemente nicht grundlegend verändert, vor allem, da diese Mittel erheblich zum Erhalt und Ausbau von Klientelsystemen verwendet wurden, die von den beiden grossen politischen Parteien abhängen.
Heftigere Reaktionen
Die Reaktionen auf die griechische Finanzkrise sind in Europa heftiger als im Falle Portugals oder Islands. Geschichte und Kultur erscheinen plötzlich als Teil einer eigentlich finanztechnischen Debatte, wenn deutsche Magazine griechische Statuen als Symbol bemühen und griechische Politiker ihre zivilisatorische Überlegenheit gegenüber deutschen Kritikern hervorheben.
Wie ist dies zu erklären? Griechenland dient «Europa» als Projektionsfläche, die ihrerseits das Projizierte zum Selbstbild gemacht hat. Im neuzeitlichen Griechenland sahen antikebegeisterte europäische Intellektuelle das antike Hellas, die Wiege europäischer Kultur und Demokratie. Viele Anführer der orthodoxen Aufständischen, die seit 1821 für eine Sezession als eigener Staat am Rande des Osmanischen Reichs kämpften, übernahmen diese Vorstellung. Die Antike bildete fortan das wichtigste symbolische Kapital des 1830 gegründeten Kleinstaates, der stets viel mehr europäische Sympathie genoss als seine allmählich entstehenden nördlichen Nachbarstaaten auf dem Balkan.
Das wiedererstandene Hellas sollte zum Musterland im Orient werden. Die bayrischen Wittelsbacher übernahmen die Krone und schickten bayrische Beamte, die das Staatswesen aufbauen sollten. Der junge Staat und seine Eliten verschrieben sich ganz dem Antikekult. Mit Bezug auf die Kontinuität zum antiken Hellas entwickelte die griechische Elite eine ausgeprägte Überlegenheitshaltung gegenüber den slawischen, albanischen und türkischen Nachbarn, aber auch bisweilen gegenüber Europa, dem sich das Land wiederholt als Wiege europäischer Werte in Erinnerung brachte. Die griechische mission civilisatrice führte zu Angriffen auf das Osmanische Reich (1897, 1912, 1919), die letztlich in die Niederlage gegen Kemal Atatürks Türkei und in das Ende des kleinasiatischen Griechentums mündeten. Erst angesichts der Katastrophe wurden in Griechenlands weltlicher Elite kritische Stimmen lauter, die den inneren Landesaufbau über nationalen Expansionismus stellten und organisch gewachsene kulturelle Traditionen aus byzantinischer und nachbyzantinischer Zeit dem Antikekult entgegensetzten.
Doch zeitigte die Selbstdarstellung als wiedererstandenes Hellas in Europa bis heute wesentliche Vorteile: Griechenland wurde als Mittelmeerland, als Teil des Westens, nicht des Balkans empfunden. Nach 1923 finanzierte der westlich dominierte Völkerbund die Integration der 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Kleinasien – und trug damit die Kosten des gescheiterten Traums von einem Grossgriechenland. Rund zwanzig Jahre später trugen diese besonderen Sympathien – gewiss nicht ausschliesslich, viel gewichtiger war die strategische Lage des Landes – dazu bei, dass Griechenland nicht unter die Herrschaft Stalins gelangte wie die meisten anderen Balkanländer.
Als erstes Balkanland wurde Griechenland in die EG aufgenommen, die damit den Demokratisierungsprozess nach dem Ende der Obristendiktatur (1974) unterstützte. Dass damit Deutschland über seine Beiträge an die EG/EU die Hauptlast der Modernisierung des Landes trug – die Griechenland heute so stark von seinen Nachbarn in der Region unterscheidet –, scheinen griechische Politiker heute ebenso zu vergessen wie die bisher herrschende Langmut der EU, die Griechenlands Obstruktion in der Makedonienfrage oder sein Junktim zwischen der EU-Osterweiterung und der Aufnahme des geteilten Zypern hinnahm.
Sturz vom hohen Podest
Griechenland verlangt Anerkennung und auch Sympathie für seine Stellung als Mutterland der europäischen Kultur. Wer auf ein hohes Podest steigt, stürzt tiefer als andere. Die Empörung über Griechenland stammt in Europa zumeist aus enttäuschter Zuneigung. Und derart desillusionierte Liebe kennzeichnet seit langem das Verhältnis zwischen Hellas und Europa. Schon viele Philhellenen des 19. Jahrhunderts reagierten verbittert, als sie in Griechenland keinen antiken Hellenen, sondern einer orthodoxen postosmanischen Gesellschaft griechischer, albanischer und aromunischer Sprache begegneten. Immer wenn die enorme Spannung zwischen Anspruch und soziokultureller Wirklichkeit abfiel, entluden sich heftige identitäre Gewitter, in Griechenland selbst, noch stärker aber bei jenen im Ausland, die sich in ihren Projektionen betrogen fühlten.
Man täte daher gut daran, die Finanzkrise und ihre kulturelle Metaebene – den heftigen Umgang mit derselben – in zwei grössere Zusammenhänge zu stellen. Zum einen in einen gesellschaftlichen Vergleichsrahmen, innerhalb dessen Griechenland als Teil Südosteuropas betrachtet und damit an seinem Entwicklungsgang in den letzten Jahrhunderten gemessen wird – ein Griechenland ohne Säulen sozusagen, dessen nördliche Provinzen vor 100 Jahren mit einer von der heutigen ganz verschiedenen ethnischen Struktur Teil des Osmanischen Reiches gewesen waren. Zum anderen sollte bedacht werden, dass diese Säulen zu Griechenland gehören, aber eben zu einem imaginierten Griechenland, zu dem die neugriechische Elite ebenso beigetragen hat wie die europäische Griechenschwärmerei.
Prof. Dr. Oliver Jens Schmitt lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Vor kurzem erschien bei Pustet der vielbeachtete Band: «Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan».
Labels:
Bildung/Education,
Deutsch,
economy,
Europe,
world
Dienstag, März 16, 2010
Die kontrollierte Kindheit
15. März 2010, Neue Zürcher Zeitung
Die kontrollierte Kindheit
Warum ein zu behütetes Aufwachsen negative Konsequenzen für das Leben hat
Indem sie sich mit der wirklichen Welt auseinandersetzen, lernen Jugendliche, mit den Tücken des Lebens umzugehen. Diese Erfahrungen können sie jedoch nicht in abgeschotteten Räumen machen.
Allan Guggenbühl
Siehe hier das Interview mit dem Kinderarzt Remo Largo
Die höheren Kletterstangen wurden abmontiert, der Teich zur Pfütze reduziert, und ein hoher Gitterzaun hält Hunde fern. Eine Schar Mütter und Väter stehen oder sitzen herum, die Blicke stets auf ihren Kleinen. Ein Knabe, mit einem Helm auf dem Kopf, wagt sich an eine Schaukel. Sofort springt jemand herbei, es könnte ja etwas passieren.
Die Kindheit ist eine Lebensphase, in der der junge Mensch seine Grundfähigkeiten entwickeln, soziale Kompetenzen erwerben und sich selber kennenlernen muss. Das Aufwachsen ist eine Entdeckungsreise zu sich selber und dem Umfeld, in das man hineingeboren wurde. Neben den Bezugspersonen entscheiden die Herausforderungen, Anregungen und Probleme, mit denen man konfrontiert wird, ob diese Menschwerdung gelingt. Damit dieser Prozess nicht gestört wird, wollen wir unseren Kindern eine jugendgerechte Umgebung bieten, unnötige Gefahren sollen eliminiert, traumatische Erlebnisse verhindert werden. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, Lehrpersonen und auch Politiker, Kinder vor..........
15. März 2010, Neue Zürcher Zeitung
Die kontrollierte Kindheit
Warum ein zu behütetes Aufwachsen negative Konsequenzen für das Leben hat
Das Aufwachsen ist eine Entdeckungsreise zu sich selber. Kinder in einer Waldspielgruppe.
Indem sie sich mit der wirklichen Welt auseinandersetzen, lernen Jugendliche, mit den Tücken des Lebens umzugehen. Diese Erfahrungen können sie jedoch nicht in abgeschotteten Räumen machen.
Allan Guggenbühl
Die höheren Kletterstangen wurden abmontiert, der Teich zur Pfütze reduziert, und ein hoher Gitterzaun hält Hunde fern. Eine Schar Mütter und Väter stehen oder sitzen herum, die Blicke stets auf ihren Kleinen. Ein Knabe, mit einem Helm auf dem Kopf, wagt sich an eine Schaukel. Sofort springt jemand herbei, es könnte ja etwas passieren.
Die Kindheit ist eine Lebensphase, in der der junge Mensch seine Grundfähigkeiten entwickeln, soziale Kompetenzen erwerben und sich selber kennenlernen muss. Das Aufwachsen ist eine Entdeckungsreise zu sich selber und dem Umfeld, in das man hineingeboren wurde. Neben den Bezugspersonen entscheiden die Herausforderungen, Anregungen und Probleme, mit denen man konfrontiert wird, ob diese Menschwerdung gelingt. Damit dieser Prozess nicht gestört wird, wollen wir unseren Kindern eine jugendgerechte Umgebung bieten, unnötige Gefahren sollen eliminiert, traumatische Erlebnisse verhindert werden. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, Lehrpersonen und auch Politiker, Kinder vor schlechten Einflüssen und Gefahren zu schützen. Aus psychologischer Sicht stellt sich jedoch die Frage der Grenze zwischen Hilfe und Einengung.
Unheilige Allianzen
Ein Care-Team wurde aufgeboten, der Lehrer suspendiert. Einige Schüler einer Sekundarschulklasse hatten auf dem Laptop des Lehrers eine Nacktfoto entdeckt. Peinlich war, dass es sich um ihren Lehrer handelte. Das «Trauma» der Schüler wurde durch Aussenpersonen professionell aufgearbeitet.
Natürlich müssen wir Jugendlichen beistehen. Keine Mutter setzt ihr Kind alleine dem Strassenverkehr aus. Ist es aber sinnvoll, Kinder auf Spielplätzen streng zu observieren oder jede körperliche Auseinandersetzung zu verbieten? Ist es richtig, bei Vorfällen routinemässig Care-Teams aufzubieten? Meistens dienen tragische, doch seltene Unfälle oder hypostasierte Zusammenhänge als Begründung für ein neues Verbot oder eine neue Massnahme. Wenn im Jura ein Knabe sein Sackmesser als Waffe gegen einen Kollegen einsetzt, dann wird schweizweit ein generelles Verbot von Sackmessern gefordert. Die Tendenz von Fachpersonen und Präventionsspezialisten, sich über dramatische Einzelfälle zu legitimieren, führt zu einer unheiligen Allianz zwischen Experten, Praktikern und Politikern. Aus Angst, unverantwortlich zu handeln, neigen wir zur Überreaktion. Wir führen Massnahmen ein, die vorab der Bewältigung eigener Befürchtungen dienen, entwicklungspsychologisch aber unnötig oder gar problematisch sind.
Killerspiele sollen generell verboten werden, obwohl sie für die überwiegende Zahl der Jugendlichen lediglich eine neue Form des Schachspiels sind und ihre moralischen Sensibilitäten auch stärken können. Betrachtet man das Aggressionspotenzial, dann müsste man auch Slapstick am Fernsehen, den Strassenverkehr und Pannen am Computer verbieten. In einem realitätsfernen Raum werden Argumente konstruiert, die keinen Zusammenhang mit der Lebenswelt der Jugendlichen haben. Fachpersonen wittern zudem eine Chance, ihren Einfluss auszuweiten.
Interessant sind die Auswirkungen. Im Gegensatz zur naiven Auffassung, dass diese Anordnungen befolgt werden, drohen Trotzreaktionen. Das Thema wird doppelt interessant und suspendiert die Jugendlichen von der Eigenverantwortung. So führte die sinnvolle Pflicht, Velohelme zu tragen, auch dazu, dass Kinder frecher fahren.
Fatal hat sich das Alkoholverbot bei Jugendlichen unter sechzehn ausgewirkt. Heimliche Saufgelage wurden populär: Eine Flasche Wodka, eine sturmfreie Bude, und man lässt sich zusammen mit Kollegen volllaufen, bevor man in den Ausgang geht. Der amerikanische Psychiater Richard Louv ist der Überzeugung, dass diese Abschottung und Hyperbetreuung zu einer Generation unselbständiger Menschen führen wird, denen Erfahrungen mit der Natur («nature deficit disorder») fehlen, die keine Selbstinitiative zeigen werden. Sie wachsen mit dem Gefühl auf, dass für Probleme, Trauer oder Streitigkeiten Aussen-Instanzen zuständig sind.
«Zwei Stunden fesselten mich meine Kollegen an einen Baum im Wald und drohten mich zu martern!», erinnert sich ein älterer Mann. Dank einer guten Ausrede und seiner Geschicklichkeit im Umgang mit Seilen ist er freigekommen. Er hat viel gelernt. Heute hätte dieser Vorfall massive elterliche Interventionen und Therapien zur Folge.
Schwierige soziale Situationen, Risiken, Gefahren und Konflikte gehören auch zur Kindheit und Jugend. Meistens wachsen Kinder an den Problemen, die sie bewältigen müssen. Den Grossteil der sozialen Kompetenzen und des Wissens eignen sie sich ohne Beihilfe und nicht unter Aufsicht der Erwachsenen an. Die selbständige Bewältigung von Krisen setzt oft neue Kräfte frei und stärkt die Widerstandskraft. Jugendliche brauchen dazu Freiräume und Zeit, die nicht mit Aufgaben, Angeboten und Lernprogrammen vollgestopft sind.
Kein Kontrollwahn
Oft sind Momente der Langeweile der Ausgangspunkt neuer Antworten und Ideen. Kinder und Jugendliche wollen sich nicht nur nach den Vorgaben der Erwachsenen richten, sondern ihr Umfeld auch selber erforschen. Sie wollen Wälder durchstreifen, streiten und Grenzerfahrungen machen. Um Risiken abschätzen zu können und schlechte Einflüsse zu erkennen, brauchen sie jedoch Bezugspersonen, mit denen sie in einem permanenten Dialog über die Schattenseiten des Lebens stehen.
Nicht jeder Streit auf dem Pausenplatz muss geschlichtet, nicht jedes tragische Ereignis von einem Care-Team bearbeitet werden. Entscheidend ist, dass man sich an eine Person wenden kann, der man vertraut. Vielfach handelt es sich auch um Gleichaltrige. Damit diese Lernprozesse möglich sind, müssen Erwachsene loslassen können, als Bezugspersonen zur Verfügung stehen, doch nicht über alle Taten der Jugendlichen informiert sein. Hyperbetreuung und Kontrollwahn können zur Folge haben, dass den Kindern und Jugendlichen wichtige Erfahrungen vorenthalten werden und sie infantilisiert werden.
«Um Jugendliche vor den Gefahren des übermässigen Alkoholkonsums zu schützen, müsste man ihnen in den Beizen gratis ein Glas Wein anbieten», schlägt der Vater einer kinderreichen Familie vor. In den Tempeln der Trinksucht entwickle man Abwehrkräfte und werde durch das Verhalten der anderen Gäste mit den fatalen Folgen übermässigen Wein- oder Bierkonsums konfrontiert und abgeschreckt. Obwohl nicht ganz ernst gemeint, enthält der Vorschlag eine tiefere Wahrheit: Dank der Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt werden die Jugendlichen gestärkt und können eher mit den Tücken des Lebens fertig werden. Diese Erfahrungen können nicht in abgeschotteten Räumen gemacht werden.
Die kontrollierte Kindheit
Warum ein zu behütetes Aufwachsen negative Konsequenzen für das Leben hat
Indem sie sich mit der wirklichen Welt auseinandersetzen, lernen Jugendliche, mit den Tücken des Lebens umzugehen. Diese Erfahrungen können sie jedoch nicht in abgeschotteten Räumen machen.
Allan Guggenbühl
Siehe hier das Interview mit dem Kinderarzt Remo Largo
Die höheren Kletterstangen wurden abmontiert, der Teich zur Pfütze reduziert, und ein hoher Gitterzaun hält Hunde fern. Eine Schar Mütter und Väter stehen oder sitzen herum, die Blicke stets auf ihren Kleinen. Ein Knabe, mit einem Helm auf dem Kopf, wagt sich an eine Schaukel. Sofort springt jemand herbei, es könnte ja etwas passieren.
Die Kindheit ist eine Lebensphase, in der der junge Mensch seine Grundfähigkeiten entwickeln, soziale Kompetenzen erwerben und sich selber kennenlernen muss. Das Aufwachsen ist eine Entdeckungsreise zu sich selber und dem Umfeld, in das man hineingeboren wurde. Neben den Bezugspersonen entscheiden die Herausforderungen, Anregungen und Probleme, mit denen man konfrontiert wird, ob diese Menschwerdung gelingt. Damit dieser Prozess nicht gestört wird, wollen wir unseren Kindern eine jugendgerechte Umgebung bieten, unnötige Gefahren sollen eliminiert, traumatische Erlebnisse verhindert werden. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, Lehrpersonen und auch Politiker, Kinder vor..........
15. März 2010, Neue Zürcher Zeitung
Die kontrollierte Kindheit
Warum ein zu behütetes Aufwachsen negative Konsequenzen für das Leben hat
Das Aufwachsen ist eine Entdeckungsreise zu sich selber. Kinder in einer Waldspielgruppe.
Indem sie sich mit der wirklichen Welt auseinandersetzen, lernen Jugendliche, mit den Tücken des Lebens umzugehen. Diese Erfahrungen können sie jedoch nicht in abgeschotteten Räumen machen.
Allan Guggenbühl
Die höheren Kletterstangen wurden abmontiert, der Teich zur Pfütze reduziert, und ein hoher Gitterzaun hält Hunde fern. Eine Schar Mütter und Väter stehen oder sitzen herum, die Blicke stets auf ihren Kleinen. Ein Knabe, mit einem Helm auf dem Kopf, wagt sich an eine Schaukel. Sofort springt jemand herbei, es könnte ja etwas passieren.
Die Kindheit ist eine Lebensphase, in der der junge Mensch seine Grundfähigkeiten entwickeln, soziale Kompetenzen erwerben und sich selber kennenlernen muss. Das Aufwachsen ist eine Entdeckungsreise zu sich selber und dem Umfeld, in das man hineingeboren wurde. Neben den Bezugspersonen entscheiden die Herausforderungen, Anregungen und Probleme, mit denen man konfrontiert wird, ob diese Menschwerdung gelingt. Damit dieser Prozess nicht gestört wird, wollen wir unseren Kindern eine jugendgerechte Umgebung bieten, unnötige Gefahren sollen eliminiert, traumatische Erlebnisse verhindert werden. Es liegt in der Verantwortung der Eltern, Lehrpersonen und auch Politiker, Kinder vor schlechten Einflüssen und Gefahren zu schützen. Aus psychologischer Sicht stellt sich jedoch die Frage der Grenze zwischen Hilfe und Einengung.
Unheilige Allianzen
Ein Care-Team wurde aufgeboten, der Lehrer suspendiert. Einige Schüler einer Sekundarschulklasse hatten auf dem Laptop des Lehrers eine Nacktfoto entdeckt. Peinlich war, dass es sich um ihren Lehrer handelte. Das «Trauma» der Schüler wurde durch Aussenpersonen professionell aufgearbeitet.
Natürlich müssen wir Jugendlichen beistehen. Keine Mutter setzt ihr Kind alleine dem Strassenverkehr aus. Ist es aber sinnvoll, Kinder auf Spielplätzen streng zu observieren oder jede körperliche Auseinandersetzung zu verbieten? Ist es richtig, bei Vorfällen routinemässig Care-Teams aufzubieten? Meistens dienen tragische, doch seltene Unfälle oder hypostasierte Zusammenhänge als Begründung für ein neues Verbot oder eine neue Massnahme. Wenn im Jura ein Knabe sein Sackmesser als Waffe gegen einen Kollegen einsetzt, dann wird schweizweit ein generelles Verbot von Sackmessern gefordert. Die Tendenz von Fachpersonen und Präventionsspezialisten, sich über dramatische Einzelfälle zu legitimieren, führt zu einer unheiligen Allianz zwischen Experten, Praktikern und Politikern. Aus Angst, unverantwortlich zu handeln, neigen wir zur Überreaktion. Wir führen Massnahmen ein, die vorab der Bewältigung eigener Befürchtungen dienen, entwicklungspsychologisch aber unnötig oder gar problematisch sind.
Killerspiele sollen generell verboten werden, obwohl sie für die überwiegende Zahl der Jugendlichen lediglich eine neue Form des Schachspiels sind und ihre moralischen Sensibilitäten auch stärken können. Betrachtet man das Aggressionspotenzial, dann müsste man auch Slapstick am Fernsehen, den Strassenverkehr und Pannen am Computer verbieten. In einem realitätsfernen Raum werden Argumente konstruiert, die keinen Zusammenhang mit der Lebenswelt der Jugendlichen haben. Fachpersonen wittern zudem eine Chance, ihren Einfluss auszuweiten.
Interessant sind die Auswirkungen. Im Gegensatz zur naiven Auffassung, dass diese Anordnungen befolgt werden, drohen Trotzreaktionen. Das Thema wird doppelt interessant und suspendiert die Jugendlichen von der Eigenverantwortung. So führte die sinnvolle Pflicht, Velohelme zu tragen, auch dazu, dass Kinder frecher fahren.
Fatal hat sich das Alkoholverbot bei Jugendlichen unter sechzehn ausgewirkt. Heimliche Saufgelage wurden populär: Eine Flasche Wodka, eine sturmfreie Bude, und man lässt sich zusammen mit Kollegen volllaufen, bevor man in den Ausgang geht. Der amerikanische Psychiater Richard Louv ist der Überzeugung, dass diese Abschottung und Hyperbetreuung zu einer Generation unselbständiger Menschen führen wird, denen Erfahrungen mit der Natur («nature deficit disorder») fehlen, die keine Selbstinitiative zeigen werden. Sie wachsen mit dem Gefühl auf, dass für Probleme, Trauer oder Streitigkeiten Aussen-Instanzen zuständig sind.
«Zwei Stunden fesselten mich meine Kollegen an einen Baum im Wald und drohten mich zu martern!», erinnert sich ein älterer Mann. Dank einer guten Ausrede und seiner Geschicklichkeit im Umgang mit Seilen ist er freigekommen. Er hat viel gelernt. Heute hätte dieser Vorfall massive elterliche Interventionen und Therapien zur Folge.
Schwierige soziale Situationen, Risiken, Gefahren und Konflikte gehören auch zur Kindheit und Jugend. Meistens wachsen Kinder an den Problemen, die sie bewältigen müssen. Den Grossteil der sozialen Kompetenzen und des Wissens eignen sie sich ohne Beihilfe und nicht unter Aufsicht der Erwachsenen an. Die selbständige Bewältigung von Krisen setzt oft neue Kräfte frei und stärkt die Widerstandskraft. Jugendliche brauchen dazu Freiräume und Zeit, die nicht mit Aufgaben, Angeboten und Lernprogrammen vollgestopft sind.
Kein Kontrollwahn
Oft sind Momente der Langeweile der Ausgangspunkt neuer Antworten und Ideen. Kinder und Jugendliche wollen sich nicht nur nach den Vorgaben der Erwachsenen richten, sondern ihr Umfeld auch selber erforschen. Sie wollen Wälder durchstreifen, streiten und Grenzerfahrungen machen. Um Risiken abschätzen zu können und schlechte Einflüsse zu erkennen, brauchen sie jedoch Bezugspersonen, mit denen sie in einem permanenten Dialog über die Schattenseiten des Lebens stehen.
Nicht jeder Streit auf dem Pausenplatz muss geschlichtet, nicht jedes tragische Ereignis von einem Care-Team bearbeitet werden. Entscheidend ist, dass man sich an eine Person wenden kann, der man vertraut. Vielfach handelt es sich auch um Gleichaltrige. Damit diese Lernprozesse möglich sind, müssen Erwachsene loslassen können, als Bezugspersonen zur Verfügung stehen, doch nicht über alle Taten der Jugendlichen informiert sein. Hyperbetreuung und Kontrollwahn können zur Folge haben, dass den Kindern und Jugendlichen wichtige Erfahrungen vorenthalten werden und sie infantilisiert werden.
«Um Jugendliche vor den Gefahren des übermässigen Alkoholkonsums zu schützen, müsste man ihnen in den Beizen gratis ein Glas Wein anbieten», schlägt der Vater einer kinderreichen Familie vor. In den Tempeln der Trinksucht entwickle man Abwehrkräfte und werde durch das Verhalten der anderen Gäste mit den fatalen Folgen übermässigen Wein- oder Bierkonsums konfrontiert und abgeschreckt. Obwohl nicht ganz ernst gemeint, enthält der Vorschlag eine tiefere Wahrheit: Dank der Auseinandersetzung mit der wirklichen Welt werden die Jugendlichen gestärkt und können eher mit den Tücken des Lebens fertig werden. Diese Erfahrungen können nicht in abgeschotteten Räumen gemacht werden.
Sonntag, März 14, 2010
Exponential Funktion erklärt / exponential function explained parts 4 / 6 / 7 / 8
Energy consumption and population growth explained!
Parts One / Two / three
click here
Part four of 8
Part five of 8
Part six of 8
Part seven of 8
Part eight of 8
Parts One / Two / three
click here
Part four of 8
Part five of 8
Part six of 8
Part seven of 8
Part eight of 8
Donnerstag, März 11, 2010
Exponential Funktion erklärt / exponential function explained
Energy consumption and population growth explained!
Part One of 8
Part Two of 8
Part Three of 8
Parts 4 / 5 / 6 / 7 / 8
follow this coming Sunday.
Part One of 8
Part Two of 8
Part Three of 8
Parts 4 / 5 / 6 / 7 / 8
follow this coming Sunday.
Dienstag, März 09, 2010
Der flexible Mann
NZZ Online
8. März 2010
Der flexible Mann
Wie behauptet sich heute das starke Geschlecht?
Unter den Bedingungen der freiheitlich-modernen Gesellschaft hat sich auch das Verhältnis von Männern und Frauen kompliziert. Der Notwendigkeit, dass sich beide Geschlechter mehr aufeinander zubewegen, stehen nicht nur archaische Verhaltensmuster, sondern auch die feministische Opfer-Ideologie entgegen.
Von Gerhard Amendt
Der Titel «Der flexible Mann» ist nicht nur mit der Vermutung des Gegenteils behaftet, sondern er enthält eine stillschweigende Vergleichung mit einer vermeintlich grösseren Flexibilität von Frauen. Wer aber männliche Flexibilität erörtern will, der muss gleichzeitig deren Grenzen sehen. Das wiederum weist uns darauf hin, dass Flexibilität im Verhältnis von Männern und Frauen etwas Wechselseitiges ist. Wer Flexibilität erwartet, meint die Dynamik der Beziehungen zwischen Männern und Frauen im privaten wie im öffentlichen Leben. Im Gegensatz dazu steht die weitverbreitete Zweiteilung der Welt in weibliche Opfer und männliche Täter. Diese Weltsicht kennt Flexibilität nicht mehr, denn sie geht von unversöhnlichen Gegensätzen zwischen Männern und Frauen aus. Sie verzichtet darauf, nach Lösungen für Konflikte zu suchen. Wer sich hingegen flexibel verhält, der hat sich entschieden, die Interessen des anderen anzuerkennen und die Konflikte wahrzunehmen, die damit verbunden sein können. Denn er glaubt an eine beziehungsreiche Welt, in der Männer und Frauen ihre.......
NZZ Online
8. März 2010
Der flexible Mann
Wie behauptet sich heute das starke Geschlecht?
Unter den Bedingungen der freiheitlich-modernen Gesellschaft hat sich auch das Verhältnis von Männern und Frauen kompliziert. Der Notwendigkeit, dass sich beide Geschlechter mehr aufeinander zubewegen, stehen nicht nur archaische Verhaltensmuster, sondern auch die feministische Opfer-Ideologie entgegen.
Von Gerhard Amendt
Der Titel «Der flexible Mann» ist nicht nur mit der Vermutung des Gegenteils behaftet, sondern er enthält eine stillschweigende Vergleichung mit einer vermeintlich grösseren Flexibilität von Frauen. Wer aber männliche Flexibilität erörtern will, der muss gleichzeitig deren Grenzen sehen. Das wiederum weist uns darauf hin, dass Flexibilität im Verhältnis von Männern und Frauen etwas Wechselseitiges ist. Wer Flexibilität erwartet, meint die Dynamik der Beziehungen zwischen Männern und Frauen im privaten wie im öffentlichen Leben. Im Gegensatz dazu steht die weitverbreitete Zweiteilung der Welt in weibliche Opfer und männliche Täter. Diese Weltsicht kennt Flexibilität nicht mehr, denn sie geht von unversöhnlichen Gegensätzen zwischen Männern und Frauen aus. Sie verzichtet darauf, nach Lösungen für Konflikte zu suchen. Wer sich hingegen flexibel verhält, der hat sich entschieden, die Interessen des anderen anzuerkennen und die Konflikte wahrzunehmen, die damit verbunden sein können. Denn er glaubt an eine beziehungsreiche Welt, in der Männer und Frauen ihre Konflikte gemeinsam lösen müssen.
Stolz und selbstgewiss
Historisch betrachtet sind Männer der Inbegriff von Flexibilität. Denn sie wollten Frauen und Kinder vor den Unbilden der äusseren Welt bewahren. Das haben die Frauen mit Anerkennung belohnt und mit der Zuschreibung von sexueller Attraktivität. Das macht Männer nicht anders als in der Vergangenheit noch immer stolz und selbstgewiss. So zeigt männliche Flexibilität sich noch immer darin, dass sie sich alles Mögliche einfallen lassen, um das Überleben und den Fortschritt zu sichern. Sie haben mit Erfindergeist, Technikbegeisterung und Tatendrang das Unbekannte zu enträtseln versucht. Sie haben Waffen entwickelt, damit andere getötet werden, und sich töten lassen. Sie haben damit den unstillbaren Wunsch nach besserem Leben, nach Sicherheit, Gesundheit und Einsichten in die menschliche wie nichtmenschliche Natur erfüllt. Dabei haben sie den eigenen Kopf und Kragen riskiert, aber zugleich den Erwartungen der Frauen nach erleichterter Hausarbeit entsprochen.
Aber Männlichkeit würde missverstanden, wenn man sie darauf beschränken würde, allein das tägliche Brot zu erarbeiten. Es würde die Lebenswelt von Produktion und Technik verdecken, die sie ausserhalb der Familie geschaffen haben, damit der Lohnzettel zufriedenstellend gerät. Und es würde ausser acht lassen, dass es Männer im Allgemeinen nicht gibt, sondern dass sie immer aufgeteilt waren in solche, die das Sagen und den Reichtum hatten, und die, die Befehlen gehorchen mussten. Die augenfällige Flexibilität der Männer ausserhalb der Familie lässt sich deshalb auch nicht als eine verselbständigte Sphäre beschreiben. Die leidenschaftliche Zuständigkeit der Männer für die ausserfamiliäre Arbeit wird vom Wunsch getragen, die Familie auf hohem Niveau zu erhalten.
Anders gesagt: Arbeit ist für Männer kein Selbstzweck, sondern sinnvolles Handeln, eingebettet in die Vereinbarung, Ehefrau und Kinder gut zu versorgen und die Familie als Raum der Erholung sich selber zu sichern. Optimistische Zeichen dafür sind die Überstunden anlässlich der Geburt eines Kindes wie beruflicher Weiterbildung, die auf lebenslange Berufstätigkeit angelegt ist. Ein pessimistisches Zeichen ist hingegen die Scheidung, die vielen und besonders bildungsfernen Männern ihren Lebenssinn raubt. Die Forschung zeigt allerdings, dass unter hochgebildeten jungen Männern Arbeit und Familienorientierung sich zu entkoppeln beginnen. Arbeit wird zum Selbstzweck. Deshalb heiraten sie auch immer seltener.
Die Ambivalenz der Frauen
In sichtbarem Gegensatz zur Flexibilität von Männern ausserhalb der Familie regt sich passiver Widerstand unter Männern, wenn mehr Arbeit von ihnen im Hause erwartet wird. Das monieren vor allem die beruflich flexiblen Frauen. Allerdings ist die Flexibilität, die Frauen von ihren Partnern erwarten, von einem augenfälligen Widerspruch geprägt. Frauen sind nämlich nicht so ohne weiteres bereit, ihre Ambivalenz einzugestehen, dass sie den Mann zu Hause durchaus wünschen, dass sie aber erwarten, dass er ihre alles beherrschende Mütterlichkeit nicht durch eigenmächtiges Gestalten über den Haufen wirft. Wer über den Widerstand der Männer gegen Hausarbeit und Kinderpflege reden will, der kommt nicht umhin, dieses zu thematisieren. Zumal es ein bedeutsames Hindernis für wechselseitige Flexibilität darstellt.
An der Aussengrenze des Mütterlichen
Welche anderen Alltagserfahrungen könnten es sein, die uns verstehen lassen, warum Männer angesichts flexibilisierter Weiblichkeit die Hausarbeit meiden? Wenn wir uns ansehen, woran Flexibilität der Männer gemessen wird, dann fällt Folgendes auf. Seit gut dreissig Jahren wird in Deutschland von einer Frauenzeitschrift die Familienarbeit von Ehemännern erforscht. Dabei geht es beständig um die Häufigkeit des «Windelnwechselns» und des «Müllentsorgens» durch Väter. Daran sei Flexibilität zuvörderst zu bemessen. Zeugen diese Fragen aber nicht ebenso von grosser Ambivalenz gegenüber der väterlichen Präsenz im Familienalltag? Frauen lassen den Mann den «Dreck» wegmachen und rücken ihn symbolisch an die «Ausscheidungen» des Familienlebens heran. Solange der Mann «Brot verdient und Müll entsorgt», so lange ändert sich aber an der klassischen Rollenteilung nichts. Er darf nur bis zu den Aussengrenzen des Mütterlichen herantreten. Die eigenständige Gestaltung der Familie bleibt ihm versagt.
Das wird männliche Flexibilität für häusliche Tätigkeiten weder lichterloh entflammen lassen, noch den Unmut beseitigen, dass die Ehefrau ihr bereits Grenzen setzt, bevor eigenständige Väterlichkeit überhaupt praktiziert wird. Das steht nicht nur der väterlichen Bindungsgestaltung gegenüber seinen Kindern im Wege. Es verhindert ebenso die Flexibilität, die die Ehefrau von ihm erhofft, um ihr eigenes berufliches Leben freier zu gestalten. Die Schlüsse, die Männer daraus ziehen, sind folgenreich. Sie entwickeln nämlich Zweifel, ob die Partnerin ihre Berufstätigkeit wirklich ernsthaft verfolgt. Oder wird doch alles an ihm hängen bleiben, wenn die Härte des Berufs und der Arbeitslosigkeit sie einmal trifft? So ergänzen sich seine Befürchtungen über ihre Ernsthaftigkeit mit ihrer halbherzigen Zulassung bei der Familiengestaltung zu einem Zustand, der Flexibilität erschwert und allenfalls zu gegenseitigen Vorwürfen führt.
Zusätzlich zu dieser Erfahrung in der Partnerschaft werden Männer Zeugen einer widersprüchlichen Rhetorik im Alltag und in den Medien. Zwar sehen sie, dass entschlossene Frauen mit guter Bildung extrem erfolgreich sind und ihr Leben recht frei gestalten können. Absurderweise werden sie trotz ihrem Erstarken ständig als Opfer beschrieben und Männer als schuldig dafür erklärt. Ohne Ansehen von Herkunft, Bildung und Einkommen werden Männer pauschal damit in die Position von Allmächtigen gerückt. Dem entspricht eine unterschwellige Idealisierung von Männern als die ewig Starken mit den breiteren Schultern. Und das trotz der negativen Zuschreibung als Täter.
Im Gegensatz dazu war es doch gerade die moderne Frauenbewegung, die Selbstbefähigung von Frauen gefordert und erfolgreich praktiziert hatte. Widersprüchliche Interessen zwischen Männern und Frauen sollten als Konflikte ausgetragen werden. Das entsprach dem Selbstverständnis dieser sozialen Bewegung. Mit dem Zerfall der 68er Bewegung hat das allerdings ein jähes Ende gefunden. Was übrig blieb, waren feministische Zirkel. Anstelle von Selbstbefähigung machte sich eine Welten-Teilung in Opfer und Täter, eben Machtvolle und Machtlose, breit. Eine elitäre Ideologie enteignete Männer wie Frauen ihrer Individualität. Paradoxerweise in einer Epoche, in der jeder seinen Lebensstil selber gestalten sollte. Diesem Verlust von Individualität entsprach die Aufrüstung des Staates zum alles umfassenden Versorger und Kontrolleur.
So wurde die Welt im mittelalterlichen Sinne in die Mächte des Bösen und des Guten getrennt. Im Feminismus führte das letztlich zu einer abermaligen Wesensbestimmung der Geschlechter nach dem anatomischen Geschlecht. Eben das, was die Frauenbewegung überwinden wollte, stellte sich abermals ein. Letztlich leitete das zur traditionellen Essenzialisierung nach der Genitalanatomie über. Männer sind böse, weil sie einen Penis haben. Frauen sind gut, weil sie keinen haben. Die Flexibilisierung in den gegenseitigen Wahrnehmungen war zumindest in den meisten Feminismusvarianten damit zusammengebrochen. Und weil die genderfeministische Ideologie Männer als die Schuldigen der Weltgeschichte sieht, sollte ihnen auch die Väterlichkeit genommen werden.
Das Schweigen der Männer
Auf diese schwerwiegenden Kränkungen haben fast alle Männer mit Schweigen reagiert. Der Terror der politischen Correctness an nicht wenigen deutschen Universitäten und in politischen Parteien hat die Empörung erschwert. Die männliche Flexibilität setzt offenbar aus, wenn ihr Selbstwertgefühl massiv verletzt wird. Sie erstarren vor lauter Schrecken. Womit lässt sich das erklären? Sicher spielt das eiserne Korsett, ein «zuverlässiges Brotverdienersyndrom» sein zu müssen, gerade in den Unterschichten eine ungebrochene Rolle. Jedes Unbehagen der Frauen wird als Kritik erlebt, als Schuld und Versagen. Und darüber schweigen die meisten Männer beschämt.
Jenseits davon hat Aktuelles im öffentlichen Raum männliche Flexibilität erstarren lassen. So wird seit dreissig Jahren ein öffentlicher Diskurs geführt, der Männer für die Bedürfnisse von Frauen sensibilisieren will. Einen ähnlichen Bedarf für Männer scheint es nicht zu geben. Dieser Diskurs ist für Männer noch immer mit der Zuweisung von Schuld für alle Probleme der Menschheit verbunden. Das reichte von der beschädigten Umwelt über die Gottlosigkeit, den Antisemitismus bis zum Holocaust. Frauen hingegen wurden von jeglicher Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen, selbst für die kindliche Erziehung freigestellt. So wurde die Zuweisung von Schuld an die Adresse der Männer zu einer Voraussetzung für die weibliche Unschuld. Diese Schuldzuweisung wird in Deutschland seit drei Jahrzehnten mit Unterstützung von Ministerien, Frauen- und Genderforschung wie Kirchen praktiziert. Diese charakterisieren die Männer, ohne diese selber zu befragen. Wenn von Männern Flexibilität erwartet wird, sie aber zeitgleich mit Schuldzuweisungen überflutet werden, dann befinden sie sich in einer verzwickten Lage, die Flexibilisierung lähmt.
Dass Frauen sich in dieser oder jener Form als Feministin beschreiben, ist weniger ein Problem als das Gebräu feministischer Ideologien, das die Dämonisierung von Männern verfestigen konnte. Indem Männer dazu schwiegen, haben sie möglich gemacht, dass die genderfeministische Ideologie eine mächtige Phalanx von Behörden, Frauenhäusern, Forschungsinstituten, Fachzeitschriften und Frauenförderung aus dem Boden stampfen konnte. Viele Institutionen ausserhalb politischer, fiskalischer und wissenschaftlicher Kontrolle verbreiten die Ideologie von der schwachen Frau.
So hat der Genderfeminismus Frauen letztlich kollektiv zu Wesen ohne Willen und Durchsetzungskraft erniedrigt. Das ähnelt dem Diktum, das Paul Justus Möbius mit dem «physiologischen Schwachsinn des Weibes» 1900 in die Welt setzte, um Frauen aus der Berufswelt fernzuhalten. Ähnliches soll heute gelten: Frauen schaffen es alleine nicht. Sie brauchen einen Retter. Damals sollte die Rettung der heimische Herd sein, heute ist es ein nach Massgabe feministischer Vorgaben umgestalteter Staat. Weil Frauen Opfer seien, kann Erfolg nur durch Bevorzugung entstehen. So werden Befreiung und Wettbewerb zur Unmöglichkeit.
Die Verteufelung der Männer zu Tätern hat dazu geführt, dass sie diskriminiert werden. Dazu gehört, dass Knaben in Schule und Freizeit beigebracht wird, dass das Männliche nicht erstrebenswert sei und dem Weiblichen als dem Überlegenen weichen müsse. Obendrein entfremdet feministische Scheidungsförderung Väter von den Kindern. Das trifft vor allem unverheiratete Väter. Und die damit einhergehende Verherrlichung des Alleinerziehens garantiert, dass Mütter selbstherrlich über Kinder verfügen können. Zugleich begünstigt die staatlich alimentierte Ideologie des Alleinerziehens Frauen beim Ausagieren von Rachegefühlen und Enttäuschungen.
Unausgetragene Konflikte
Für die Flexibilitätsbereitschaft unter Männern hat das ungeahnte Folgen. Denn solange Frauen als Opfer vorgeführt werden, sollen sie diese in der Kavalierstradition weiterhin als Hilfsbedürftige wahrnehmen. Männer sehen dann die weibliche Berufstätigkeit mehr als Ausflug in die ausserfamiliäre Welt, die das Einkommen des Brotverdieners aufbessert, der aber keine entschlossene Perspektive innewohnt. Männer sehen sich dann in ihrer lebenslangen Vollzeitorientierung ausser Haus bestätigt. Die Frauen wiederum sehen sich, wie Umfragen zeigen, letztlich doch im Haus verankert.
Darüber hinaus hat feministische Politik den demokratischen Prozess geschwächt. Denn was als Konflikt ausgetragen werden müsste, endet in der Zuschreibung von Wesensmerkmalen. Einmal Täter, immer Täter – eben ein Mann! Männer wie Frauen stehen sich dann nur noch im Wege, Flexibilisierung wird schier unmöglich. Da der Feminismus keine Konfliktlösung anstrebt, soll der Staat zugunsten der Frauen tief in die Privatsphäre und das Geschlechterarrangement eingreifen.
Solange diese Opferbesessenheit die Interessen von Frauen einer Ideologie unterordnet, bleibt nur der Ruf nach dem starken Staat. An der Erstarrung der Männer wird sich deshalb nichts ändern. Denn für die männliche Gefühlswelt sind unzufriedene Frauen ein Hinweis auf verfehlte Pflichten. Sie folgern daraus, dass sie sich noch mehr Mühe als bisher geben müssen. Denn das kann ihre Schuldgefühle beschwichtigen. Aber vielleicht schweigen die Männer zu alledem, weil sie auch die Angst ahnen, die sich unter Frauen angesichts ihrer neu gewonnenen Freiheiten ausgebreitet hat. Und diese Freiheiten dürften vielen Männern ebenso grosse Angst bereiten. Flexibilisierung ist offenbar ein voraussetzungsreiches Projekt.
Gerhard Amendt ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Gründer des dortigen Instituts für Geschlechter- und Generationenforschung. – Beim abgedruckten Text handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung des Vortrags, den er am vergangenen Donnerstag am NZZ-Podium «Der flexible Mann» gehalten hat.
8. März 2010
Der flexible Mann
Wie behauptet sich heute das starke Geschlecht?
Unter den Bedingungen der freiheitlich-modernen Gesellschaft hat sich auch das Verhältnis von Männern und Frauen kompliziert. Der Notwendigkeit, dass sich beide Geschlechter mehr aufeinander zubewegen, stehen nicht nur archaische Verhaltensmuster, sondern auch die feministische Opfer-Ideologie entgegen.
Von Gerhard Amendt
Der Titel «Der flexible Mann» ist nicht nur mit der Vermutung des Gegenteils behaftet, sondern er enthält eine stillschweigende Vergleichung mit einer vermeintlich grösseren Flexibilität von Frauen. Wer aber männliche Flexibilität erörtern will, der muss gleichzeitig deren Grenzen sehen. Das wiederum weist uns darauf hin, dass Flexibilität im Verhältnis von Männern und Frauen etwas Wechselseitiges ist. Wer Flexibilität erwartet, meint die Dynamik der Beziehungen zwischen Männern und Frauen im privaten wie im öffentlichen Leben. Im Gegensatz dazu steht die weitverbreitete Zweiteilung der Welt in weibliche Opfer und männliche Täter. Diese Weltsicht kennt Flexibilität nicht mehr, denn sie geht von unversöhnlichen Gegensätzen zwischen Männern und Frauen aus. Sie verzichtet darauf, nach Lösungen für Konflikte zu suchen. Wer sich hingegen flexibel verhält, der hat sich entschieden, die Interessen des anderen anzuerkennen und die Konflikte wahrzunehmen, die damit verbunden sein können. Denn er glaubt an eine beziehungsreiche Welt, in der Männer und Frauen ihre.......
NZZ Online
8. März 2010
Der flexible Mann
Wie behauptet sich heute das starke Geschlecht?
Unter den Bedingungen der freiheitlich-modernen Gesellschaft hat sich auch das Verhältnis von Männern und Frauen kompliziert. Der Notwendigkeit, dass sich beide Geschlechter mehr aufeinander zubewegen, stehen nicht nur archaische Verhaltensmuster, sondern auch die feministische Opfer-Ideologie entgegen.
Von Gerhard Amendt
Der Titel «Der flexible Mann» ist nicht nur mit der Vermutung des Gegenteils behaftet, sondern er enthält eine stillschweigende Vergleichung mit einer vermeintlich grösseren Flexibilität von Frauen. Wer aber männliche Flexibilität erörtern will, der muss gleichzeitig deren Grenzen sehen. Das wiederum weist uns darauf hin, dass Flexibilität im Verhältnis von Männern und Frauen etwas Wechselseitiges ist. Wer Flexibilität erwartet, meint die Dynamik der Beziehungen zwischen Männern und Frauen im privaten wie im öffentlichen Leben. Im Gegensatz dazu steht die weitverbreitete Zweiteilung der Welt in weibliche Opfer und männliche Täter. Diese Weltsicht kennt Flexibilität nicht mehr, denn sie geht von unversöhnlichen Gegensätzen zwischen Männern und Frauen aus. Sie verzichtet darauf, nach Lösungen für Konflikte zu suchen. Wer sich hingegen flexibel verhält, der hat sich entschieden, die Interessen des anderen anzuerkennen und die Konflikte wahrzunehmen, die damit verbunden sein können. Denn er glaubt an eine beziehungsreiche Welt, in der Männer und Frauen ihre Konflikte gemeinsam lösen müssen.
Stolz und selbstgewiss
Historisch betrachtet sind Männer der Inbegriff von Flexibilität. Denn sie wollten Frauen und Kinder vor den Unbilden der äusseren Welt bewahren. Das haben die Frauen mit Anerkennung belohnt und mit der Zuschreibung von sexueller Attraktivität. Das macht Männer nicht anders als in der Vergangenheit noch immer stolz und selbstgewiss. So zeigt männliche Flexibilität sich noch immer darin, dass sie sich alles Mögliche einfallen lassen, um das Überleben und den Fortschritt zu sichern. Sie haben mit Erfindergeist, Technikbegeisterung und Tatendrang das Unbekannte zu enträtseln versucht. Sie haben Waffen entwickelt, damit andere getötet werden, und sich töten lassen. Sie haben damit den unstillbaren Wunsch nach besserem Leben, nach Sicherheit, Gesundheit und Einsichten in die menschliche wie nichtmenschliche Natur erfüllt. Dabei haben sie den eigenen Kopf und Kragen riskiert, aber zugleich den Erwartungen der Frauen nach erleichterter Hausarbeit entsprochen.
Aber Männlichkeit würde missverstanden, wenn man sie darauf beschränken würde, allein das tägliche Brot zu erarbeiten. Es würde die Lebenswelt von Produktion und Technik verdecken, die sie ausserhalb der Familie geschaffen haben, damit der Lohnzettel zufriedenstellend gerät. Und es würde ausser acht lassen, dass es Männer im Allgemeinen nicht gibt, sondern dass sie immer aufgeteilt waren in solche, die das Sagen und den Reichtum hatten, und die, die Befehlen gehorchen mussten. Die augenfällige Flexibilität der Männer ausserhalb der Familie lässt sich deshalb auch nicht als eine verselbständigte Sphäre beschreiben. Die leidenschaftliche Zuständigkeit der Männer für die ausserfamiliäre Arbeit wird vom Wunsch getragen, die Familie auf hohem Niveau zu erhalten.
Anders gesagt: Arbeit ist für Männer kein Selbstzweck, sondern sinnvolles Handeln, eingebettet in die Vereinbarung, Ehefrau und Kinder gut zu versorgen und die Familie als Raum der Erholung sich selber zu sichern. Optimistische Zeichen dafür sind die Überstunden anlässlich der Geburt eines Kindes wie beruflicher Weiterbildung, die auf lebenslange Berufstätigkeit angelegt ist. Ein pessimistisches Zeichen ist hingegen die Scheidung, die vielen und besonders bildungsfernen Männern ihren Lebenssinn raubt. Die Forschung zeigt allerdings, dass unter hochgebildeten jungen Männern Arbeit und Familienorientierung sich zu entkoppeln beginnen. Arbeit wird zum Selbstzweck. Deshalb heiraten sie auch immer seltener.
Die Ambivalenz der Frauen
In sichtbarem Gegensatz zur Flexibilität von Männern ausserhalb der Familie regt sich passiver Widerstand unter Männern, wenn mehr Arbeit von ihnen im Hause erwartet wird. Das monieren vor allem die beruflich flexiblen Frauen. Allerdings ist die Flexibilität, die Frauen von ihren Partnern erwarten, von einem augenfälligen Widerspruch geprägt. Frauen sind nämlich nicht so ohne weiteres bereit, ihre Ambivalenz einzugestehen, dass sie den Mann zu Hause durchaus wünschen, dass sie aber erwarten, dass er ihre alles beherrschende Mütterlichkeit nicht durch eigenmächtiges Gestalten über den Haufen wirft. Wer über den Widerstand der Männer gegen Hausarbeit und Kinderpflege reden will, der kommt nicht umhin, dieses zu thematisieren. Zumal es ein bedeutsames Hindernis für wechselseitige Flexibilität darstellt.
An der Aussengrenze des Mütterlichen
Welche anderen Alltagserfahrungen könnten es sein, die uns verstehen lassen, warum Männer angesichts flexibilisierter Weiblichkeit die Hausarbeit meiden? Wenn wir uns ansehen, woran Flexibilität der Männer gemessen wird, dann fällt Folgendes auf. Seit gut dreissig Jahren wird in Deutschland von einer Frauenzeitschrift die Familienarbeit von Ehemännern erforscht. Dabei geht es beständig um die Häufigkeit des «Windelnwechselns» und des «Müllentsorgens» durch Väter. Daran sei Flexibilität zuvörderst zu bemessen. Zeugen diese Fragen aber nicht ebenso von grosser Ambivalenz gegenüber der väterlichen Präsenz im Familienalltag? Frauen lassen den Mann den «Dreck» wegmachen und rücken ihn symbolisch an die «Ausscheidungen» des Familienlebens heran. Solange der Mann «Brot verdient und Müll entsorgt», so lange ändert sich aber an der klassischen Rollenteilung nichts. Er darf nur bis zu den Aussengrenzen des Mütterlichen herantreten. Die eigenständige Gestaltung der Familie bleibt ihm versagt.
Das wird männliche Flexibilität für häusliche Tätigkeiten weder lichterloh entflammen lassen, noch den Unmut beseitigen, dass die Ehefrau ihr bereits Grenzen setzt, bevor eigenständige Väterlichkeit überhaupt praktiziert wird. Das steht nicht nur der väterlichen Bindungsgestaltung gegenüber seinen Kindern im Wege. Es verhindert ebenso die Flexibilität, die die Ehefrau von ihm erhofft, um ihr eigenes berufliches Leben freier zu gestalten. Die Schlüsse, die Männer daraus ziehen, sind folgenreich. Sie entwickeln nämlich Zweifel, ob die Partnerin ihre Berufstätigkeit wirklich ernsthaft verfolgt. Oder wird doch alles an ihm hängen bleiben, wenn die Härte des Berufs und der Arbeitslosigkeit sie einmal trifft? So ergänzen sich seine Befürchtungen über ihre Ernsthaftigkeit mit ihrer halbherzigen Zulassung bei der Familiengestaltung zu einem Zustand, der Flexibilität erschwert und allenfalls zu gegenseitigen Vorwürfen führt.
Zusätzlich zu dieser Erfahrung in der Partnerschaft werden Männer Zeugen einer widersprüchlichen Rhetorik im Alltag und in den Medien. Zwar sehen sie, dass entschlossene Frauen mit guter Bildung extrem erfolgreich sind und ihr Leben recht frei gestalten können. Absurderweise werden sie trotz ihrem Erstarken ständig als Opfer beschrieben und Männer als schuldig dafür erklärt. Ohne Ansehen von Herkunft, Bildung und Einkommen werden Männer pauschal damit in die Position von Allmächtigen gerückt. Dem entspricht eine unterschwellige Idealisierung von Männern als die ewig Starken mit den breiteren Schultern. Und das trotz der negativen Zuschreibung als Täter.
Im Gegensatz dazu war es doch gerade die moderne Frauenbewegung, die Selbstbefähigung von Frauen gefordert und erfolgreich praktiziert hatte. Widersprüchliche Interessen zwischen Männern und Frauen sollten als Konflikte ausgetragen werden. Das entsprach dem Selbstverständnis dieser sozialen Bewegung. Mit dem Zerfall der 68er Bewegung hat das allerdings ein jähes Ende gefunden. Was übrig blieb, waren feministische Zirkel. Anstelle von Selbstbefähigung machte sich eine Welten-Teilung in Opfer und Täter, eben Machtvolle und Machtlose, breit. Eine elitäre Ideologie enteignete Männer wie Frauen ihrer Individualität. Paradoxerweise in einer Epoche, in der jeder seinen Lebensstil selber gestalten sollte. Diesem Verlust von Individualität entsprach die Aufrüstung des Staates zum alles umfassenden Versorger und Kontrolleur.
So wurde die Welt im mittelalterlichen Sinne in die Mächte des Bösen und des Guten getrennt. Im Feminismus führte das letztlich zu einer abermaligen Wesensbestimmung der Geschlechter nach dem anatomischen Geschlecht. Eben das, was die Frauenbewegung überwinden wollte, stellte sich abermals ein. Letztlich leitete das zur traditionellen Essenzialisierung nach der Genitalanatomie über. Männer sind böse, weil sie einen Penis haben. Frauen sind gut, weil sie keinen haben. Die Flexibilisierung in den gegenseitigen Wahrnehmungen war zumindest in den meisten Feminismusvarianten damit zusammengebrochen. Und weil die genderfeministische Ideologie Männer als die Schuldigen der Weltgeschichte sieht, sollte ihnen auch die Väterlichkeit genommen werden.
Das Schweigen der Männer
Auf diese schwerwiegenden Kränkungen haben fast alle Männer mit Schweigen reagiert. Der Terror der politischen Correctness an nicht wenigen deutschen Universitäten und in politischen Parteien hat die Empörung erschwert. Die männliche Flexibilität setzt offenbar aus, wenn ihr Selbstwertgefühl massiv verletzt wird. Sie erstarren vor lauter Schrecken. Womit lässt sich das erklären? Sicher spielt das eiserne Korsett, ein «zuverlässiges Brotverdienersyndrom» sein zu müssen, gerade in den Unterschichten eine ungebrochene Rolle. Jedes Unbehagen der Frauen wird als Kritik erlebt, als Schuld und Versagen. Und darüber schweigen die meisten Männer beschämt.
Jenseits davon hat Aktuelles im öffentlichen Raum männliche Flexibilität erstarren lassen. So wird seit dreissig Jahren ein öffentlicher Diskurs geführt, der Männer für die Bedürfnisse von Frauen sensibilisieren will. Einen ähnlichen Bedarf für Männer scheint es nicht zu geben. Dieser Diskurs ist für Männer noch immer mit der Zuweisung von Schuld für alle Probleme der Menschheit verbunden. Das reichte von der beschädigten Umwelt über die Gottlosigkeit, den Antisemitismus bis zum Holocaust. Frauen hingegen wurden von jeglicher Verantwortung für gesellschaftliche Entwicklungen, selbst für die kindliche Erziehung freigestellt. So wurde die Zuweisung von Schuld an die Adresse der Männer zu einer Voraussetzung für die weibliche Unschuld. Diese Schuldzuweisung wird in Deutschland seit drei Jahrzehnten mit Unterstützung von Ministerien, Frauen- und Genderforschung wie Kirchen praktiziert. Diese charakterisieren die Männer, ohne diese selber zu befragen. Wenn von Männern Flexibilität erwartet wird, sie aber zeitgleich mit Schuldzuweisungen überflutet werden, dann befinden sie sich in einer verzwickten Lage, die Flexibilisierung lähmt.
Dass Frauen sich in dieser oder jener Form als Feministin beschreiben, ist weniger ein Problem als das Gebräu feministischer Ideologien, das die Dämonisierung von Männern verfestigen konnte. Indem Männer dazu schwiegen, haben sie möglich gemacht, dass die genderfeministische Ideologie eine mächtige Phalanx von Behörden, Frauenhäusern, Forschungsinstituten, Fachzeitschriften und Frauenförderung aus dem Boden stampfen konnte. Viele Institutionen ausserhalb politischer, fiskalischer und wissenschaftlicher Kontrolle verbreiten die Ideologie von der schwachen Frau.
So hat der Genderfeminismus Frauen letztlich kollektiv zu Wesen ohne Willen und Durchsetzungskraft erniedrigt. Das ähnelt dem Diktum, das Paul Justus Möbius mit dem «physiologischen Schwachsinn des Weibes» 1900 in die Welt setzte, um Frauen aus der Berufswelt fernzuhalten. Ähnliches soll heute gelten: Frauen schaffen es alleine nicht. Sie brauchen einen Retter. Damals sollte die Rettung der heimische Herd sein, heute ist es ein nach Massgabe feministischer Vorgaben umgestalteter Staat. Weil Frauen Opfer seien, kann Erfolg nur durch Bevorzugung entstehen. So werden Befreiung und Wettbewerb zur Unmöglichkeit.
Die Verteufelung der Männer zu Tätern hat dazu geführt, dass sie diskriminiert werden. Dazu gehört, dass Knaben in Schule und Freizeit beigebracht wird, dass das Männliche nicht erstrebenswert sei und dem Weiblichen als dem Überlegenen weichen müsse. Obendrein entfremdet feministische Scheidungsförderung Väter von den Kindern. Das trifft vor allem unverheiratete Väter. Und die damit einhergehende Verherrlichung des Alleinerziehens garantiert, dass Mütter selbstherrlich über Kinder verfügen können. Zugleich begünstigt die staatlich alimentierte Ideologie des Alleinerziehens Frauen beim Ausagieren von Rachegefühlen und Enttäuschungen.
Unausgetragene Konflikte
Für die Flexibilitätsbereitschaft unter Männern hat das ungeahnte Folgen. Denn solange Frauen als Opfer vorgeführt werden, sollen sie diese in der Kavalierstradition weiterhin als Hilfsbedürftige wahrnehmen. Männer sehen dann die weibliche Berufstätigkeit mehr als Ausflug in die ausserfamiliäre Welt, die das Einkommen des Brotverdieners aufbessert, der aber keine entschlossene Perspektive innewohnt. Männer sehen sich dann in ihrer lebenslangen Vollzeitorientierung ausser Haus bestätigt. Die Frauen wiederum sehen sich, wie Umfragen zeigen, letztlich doch im Haus verankert.
Darüber hinaus hat feministische Politik den demokratischen Prozess geschwächt. Denn was als Konflikt ausgetragen werden müsste, endet in der Zuschreibung von Wesensmerkmalen. Einmal Täter, immer Täter – eben ein Mann! Männer wie Frauen stehen sich dann nur noch im Wege, Flexibilisierung wird schier unmöglich. Da der Feminismus keine Konfliktlösung anstrebt, soll der Staat zugunsten der Frauen tief in die Privatsphäre und das Geschlechterarrangement eingreifen.
Solange diese Opferbesessenheit die Interessen von Frauen einer Ideologie unterordnet, bleibt nur der Ruf nach dem starken Staat. An der Erstarrung der Männer wird sich deshalb nichts ändern. Denn für die männliche Gefühlswelt sind unzufriedene Frauen ein Hinweis auf verfehlte Pflichten. Sie folgern daraus, dass sie sich noch mehr Mühe als bisher geben müssen. Denn das kann ihre Schuldgefühle beschwichtigen. Aber vielleicht schweigen die Männer zu alledem, weil sie auch die Angst ahnen, die sich unter Frauen angesichts ihrer neu gewonnenen Freiheiten ausgebreitet hat. Und diese Freiheiten dürften vielen Männern ebenso grosse Angst bereiten. Flexibilisierung ist offenbar ein voraussetzungsreiches Projekt.
Gerhard Amendt ist Professor für Soziologie an der Universität Bremen und Gründer des dortigen Instituts für Geschlechter- und Generationenforschung. – Beim abgedruckten Text handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung des Vortrags, den er am vergangenen Donnerstag am NZZ-Podium «Der flexible Mann» gehalten hat.
Montag, März 08, 2010
Samstag, März 06, 2010
Freitag, März 05, 2010
Mamablog: «Der Feminismus vergiftet das Klima»
Tages Anzeiger - Mamablog
Nicole Althaus am Mittwoch den 3. März 2010
«Der Feminismus vergiftet das Klima»
(Kommtare zum Beitrag finden sich auf dem "Mamablog" des Tages-Anzeigers:
Klick hier)
Der bekannte Bremer Soziologe Gerhard Amendt sorgt regelmässig für Wirbel im gängigen Geschlechter-Diskurs: Er hat 2004 mit seiner grossen Scheidungsväterstudie die juristische Diskriminierung der Männer in der Familie zum Thema gemacht und letztes Jahr mit seiner Forderung, sämtliche Frauenhäuser zu schliessen, in Deutschland eine politische Debatte ausgelöst. Anlässlich seines Auftritts am NZZ-Podium morgen Donnerstag, sprach der Mamablog mit Gerhard Amendt über Feminismus, Gender und das neue Arrangement der Geschlechter.
Gerhard Amendt, was ist das grösste Missverständnis zwischen Mann und Frau?
Gerhard Amendt: Dass Männer meinen, sie müssten weiterhin die Frau versorgen. Und dass Frauen glauben, der Mann sei nur ein guter Vater, wenn er sich so verhält, wie sie sich als Mutter verhalten. An diesen Missverständnissen reibt sich vieles. Untersuchungen zeigen, dass Männer Frauen nicht diskriminieren wollen, sondern meinen, sie beschützen zu müssen. Wenn Frauen stets als Opfer beschrieben werden, setzt das paradoxerweise die tradierte Versorgermentalität von Neuem in Bewegung.
Ist an allem die Emanzipation schuld?
Man muss klar zwischen der.....
Tages Anzeiger - Mamablog
Nicole Althaus am Mittwoch den 3. März 2010
«Der Feminismus vergiftet das Klima»
(Kommtare zum Beitrag finden sich auf dem "Mamablog" des Tages-Anzeigers:
Klick hier)
Der bekannte Bremer Soziologe Gerhard Amendt sorgt regelmässig für Wirbel im gängigen Geschlechter-Diskurs: Er hat 2004 mit seiner grossen Scheidungsväterstudie die juristische Diskriminierung der Männer in der Familie zum Thema gemacht und letztes Jahr mit seiner Forderung, sämtliche Frauenhäuser zu schliessen, in Deutschland eine politische Debatte ausgelöst. Anlässlich seines Auftritts am NZZ-Podium morgen Donnerstag, sprach der Mamablog mit Gerhard Amendt über Feminismus, Gender und das neue Arrangement der Geschlechter.
Gerhard Amendt, was ist das grösste Missverständnis zwischen Mann und Frau?
Gerhard Amendt: Dass Männer meinen, sie müssten weiterhin die Frau versorgen. Und dass Frauen glauben, der Mann sei nur ein guter Vater, wenn er sich so verhält, wie sie sich als Mutter verhalten. An diesen Missverständnissen reibt sich vieles. Untersuchungen zeigen, dass Männer Frauen nicht diskriminieren wollen, sondern meinen, sie beschützen zu müssen. Wenn Frauen stets als Opfer beschrieben werden, setzt das paradoxerweise die tradierte Versorgermentalität von Neuem in Bewegung.
Ist an allem die Emanzipation schuld?
Man muss klar zwischen der Frauenbewegung und dem Feminismus unterscheiden. Die Frauenbewegung stand für die Selbstermächtigung der Frau. Der Feminismus steht für das Gegenteil: Er macht alle Frauen zu Opfern und Männer kollektiv zu Henkern. Der Feminismus hat das Klima zwischen den Geschlechtern vergiftet. Diese Vergiftung können wir uns gesellschaftlich nicht mehr leisten. Wenn wir nur noch in Feindkategorien denken, wird der Wunsch nach Familie permanent desavouiert.
Wie kommt der Geschlechterdiskurs aus dieser Fixierung heraus?
Man muss aufhören in der biologischen Kategorie von Mann und Frau zu denken. Frau und Mann sind vielmehr soziale und psychologische Kategorien. Der Unterschied zwischen der Lebensrealität von Frauen und Männern in der Oberschicht und jenen in der Unterschicht sind heute viel grösser als der Unterschied zwischen der Lebensrealität der Geschlechter. Der Diskurs muss also die Probleme der Geschlechter schichtsspezifisch ins Auge fassen.
Was ist politisch zu tun?
Als Erstes muss man die Gelder für Genderstudies streichen. Diese Forschungsrichtung betreibt bloss Selbstbespiegelung, sie vermittelt keine Berufsqualifikation und trägt zur Problemlösung nichts bei. Die Geisteswissenschaften müssen vielmehr wieder zur Lösung von konkreten Problemen wie früher üblich zurückkehren. Zweitens sollen schrittweise sämtliche Frauenhäuser geschlossen und die Gelder in Zentren für Familien mit Gewaltproblemen investiert werden. Das habe ich den erfolgreichen Organisatoren des ersten Männerhauses der Schweiz als erstrebenswerte Perspektive vorgeschlagen. In Amerika setzen sich diese Familieninstitutionen durch, seit Untersuchungen bewiesen haben, dass Frauenhäuser den Frauen und Männern nicht helfen, im Gegenteil: Sie haben eine höhere Rückfälligkeit an Gewalthandlungen als andere neu entwickelte Institutionen mit neu konzipierten Hilfeverfahren.
Wie begegnen sich Frauen und Männer konstruktiv?
Beide müssen aus dem Zustand der Kränkung herauskommen. Und dann muss sich jedes Paar ganz konkret über Perspektiven unterhalten. Und zwar zu Beginn einer Beziehung. Darüber,ob man eine Familie gründen will und wie diese dann organisiert werden soll. Männer müssen sich fragen, ob sie es aushalten, wenn die Partnerin nicht nur ein bisschen zuverdient, sondern Karriere macht. Frauen müssen sich ehrlich hinterfragen, ob sie wirklich bereit sind, Verantwortung für das Einkommen zu übernehmen. Veränderungen können nur gemeinsam gemacht werden. Und Vereinbarungen nur individuell und abhängig von den konkreten Optionen des Paares getroffen werden. Das ist ein guter Anfang!
Nicole Althaus am Mittwoch den 3. März 2010
«Der Feminismus vergiftet das Klima»
(Kommtare zum Beitrag finden sich auf dem "Mamablog" des Tages-Anzeigers:
Klick hier)
Der bekannte Bremer Soziologe Gerhard Amendt sorgt regelmässig für Wirbel im gängigen Geschlechter-Diskurs: Er hat 2004 mit seiner grossen Scheidungsväterstudie die juristische Diskriminierung der Männer in der Familie zum Thema gemacht und letztes Jahr mit seiner Forderung, sämtliche Frauenhäuser zu schliessen, in Deutschland eine politische Debatte ausgelöst. Anlässlich seines Auftritts am NZZ-Podium morgen Donnerstag, sprach der Mamablog mit Gerhard Amendt über Feminismus, Gender und das neue Arrangement der Geschlechter.
Gerhard Amendt, was ist das grösste Missverständnis zwischen Mann und Frau?
Gerhard Amendt: Dass Männer meinen, sie müssten weiterhin die Frau versorgen. Und dass Frauen glauben, der Mann sei nur ein guter Vater, wenn er sich so verhält, wie sie sich als Mutter verhalten. An diesen Missverständnissen reibt sich vieles. Untersuchungen zeigen, dass Männer Frauen nicht diskriminieren wollen, sondern meinen, sie beschützen zu müssen. Wenn Frauen stets als Opfer beschrieben werden, setzt das paradoxerweise die tradierte Versorgermentalität von Neuem in Bewegung.
Ist an allem die Emanzipation schuld?
Man muss klar zwischen der.....
Tages Anzeiger - Mamablog
Nicole Althaus am Mittwoch den 3. März 2010
«Der Feminismus vergiftet das Klima»
(Kommtare zum Beitrag finden sich auf dem "Mamablog" des Tages-Anzeigers:
Klick hier)
Der bekannte Bremer Soziologe Gerhard Amendt sorgt regelmässig für Wirbel im gängigen Geschlechter-Diskurs: Er hat 2004 mit seiner grossen Scheidungsväterstudie die juristische Diskriminierung der Männer in der Familie zum Thema gemacht und letztes Jahr mit seiner Forderung, sämtliche Frauenhäuser zu schliessen, in Deutschland eine politische Debatte ausgelöst. Anlässlich seines Auftritts am NZZ-Podium morgen Donnerstag, sprach der Mamablog mit Gerhard Amendt über Feminismus, Gender und das neue Arrangement der Geschlechter.
Gerhard Amendt, was ist das grösste Missverständnis zwischen Mann und Frau?
Gerhard Amendt: Dass Männer meinen, sie müssten weiterhin die Frau versorgen. Und dass Frauen glauben, der Mann sei nur ein guter Vater, wenn er sich so verhält, wie sie sich als Mutter verhalten. An diesen Missverständnissen reibt sich vieles. Untersuchungen zeigen, dass Männer Frauen nicht diskriminieren wollen, sondern meinen, sie beschützen zu müssen. Wenn Frauen stets als Opfer beschrieben werden, setzt das paradoxerweise die tradierte Versorgermentalität von Neuem in Bewegung.
Ist an allem die Emanzipation schuld?
Man muss klar zwischen der Frauenbewegung und dem Feminismus unterscheiden. Die Frauenbewegung stand für die Selbstermächtigung der Frau. Der Feminismus steht für das Gegenteil: Er macht alle Frauen zu Opfern und Männer kollektiv zu Henkern. Der Feminismus hat das Klima zwischen den Geschlechtern vergiftet. Diese Vergiftung können wir uns gesellschaftlich nicht mehr leisten. Wenn wir nur noch in Feindkategorien denken, wird der Wunsch nach Familie permanent desavouiert.
Wie kommt der Geschlechterdiskurs aus dieser Fixierung heraus?
Man muss aufhören in der biologischen Kategorie von Mann und Frau zu denken. Frau und Mann sind vielmehr soziale und psychologische Kategorien. Der Unterschied zwischen der Lebensrealität von Frauen und Männern in der Oberschicht und jenen in der Unterschicht sind heute viel grösser als der Unterschied zwischen der Lebensrealität der Geschlechter. Der Diskurs muss also die Probleme der Geschlechter schichtsspezifisch ins Auge fassen.
Was ist politisch zu tun?
Als Erstes muss man die Gelder für Genderstudies streichen. Diese Forschungsrichtung betreibt bloss Selbstbespiegelung, sie vermittelt keine Berufsqualifikation und trägt zur Problemlösung nichts bei. Die Geisteswissenschaften müssen vielmehr wieder zur Lösung von konkreten Problemen wie früher üblich zurückkehren. Zweitens sollen schrittweise sämtliche Frauenhäuser geschlossen und die Gelder in Zentren für Familien mit Gewaltproblemen investiert werden. Das habe ich den erfolgreichen Organisatoren des ersten Männerhauses der Schweiz als erstrebenswerte Perspektive vorgeschlagen. In Amerika setzen sich diese Familieninstitutionen durch, seit Untersuchungen bewiesen haben, dass Frauenhäuser den Frauen und Männern nicht helfen, im Gegenteil: Sie haben eine höhere Rückfälligkeit an Gewalthandlungen als andere neu entwickelte Institutionen mit neu konzipierten Hilfeverfahren.
Wie begegnen sich Frauen und Männer konstruktiv?
Beide müssen aus dem Zustand der Kränkung herauskommen. Und dann muss sich jedes Paar ganz konkret über Perspektiven unterhalten. Und zwar zu Beginn einer Beziehung. Darüber,ob man eine Familie gründen will und wie diese dann organisiert werden soll. Männer müssen sich fragen, ob sie es aushalten, wenn die Partnerin nicht nur ein bisschen zuverdient, sondern Karriere macht. Frauen müssen sich ehrlich hinterfragen, ob sie wirklich bereit sind, Verantwortung für das Einkommen zu übernehmen. Veränderungen können nur gemeinsam gemacht werden. Und Vereinbarungen nur individuell und abhängig von den konkreten Optionen des Paares getroffen werden. Das ist ein guter Anfang!
Labels:
Bildung/Education,
Deutsch,
Fundamentalism
Donnerstag, März 04, 2010
Wer zu spät kommt, dem fehlt es an Stil
Tages Anzeiger 02.03.2010
Wer zu spät kommt, dem fehlt es an Stil
Von Bettina Weber.
Die wichtigste Frau der Mode ist nie zu spät. Anna Wintour, Chefredaktorin der US-«Vogue», sitzt jeweils pünktlich auf ihrem Platz in der ersten Reihe und wartet mit unbeweglicher Miene auf den Beginn der Fashion-Show. Der verzögert sich in der Regel um mindestens eine halbe Stunde, hauptsächlich deswegen, weil die vom Designer extra zu diesem Zweck eingeflogene Prominenz zu spät kommt. Meist handelt es sich dabei um Schauspielerinnen und Popstars von Weltformat, oft aber auch um Starlets der mittleren bis unteren Chargen. Beiden gemeinsam ist, dass sie zu spät kommen, weil sie sich für wichtig halten. Beziehungsweise: Sie denken, dass ihr Zuspätkommen ihre Wichtigkeit unterstreichen würde. Sie speziell mache. Extraordinär. Man ist schliesslich jemand und kann sich da nicht um solche Nebensächlichkeiten wie Pünktlichkeit kümmern.
Dieses Denken ist salonfähig geworden. Und Unpünktlichkeit zu einer Art Tugend. Es gilt als chic, überall mit Verspätung zu erscheinen, denn pünktlich sind ja nur die Biedermänner, die Buchhalter und Kleinkrämer. Der hippe Mensch hingegen, der ist da toleranter. Der sagt geradeheraus, ich bin immer zu spät, und hält das für total bohémien und sich selbst für wahnsinnig locker und lässig. Dies ist nun aber ein schwerer Irrtum. Zu spät zu kommen, zeugt nicht von Wichtigkeit. Und schon gar nicht von Coolness oder von Weltgewandtheit. Sondern bloss von fehlendem Stil. Von fehlender Höflichkeit. Von fehlendem Respekt. Und von einer schlechten Erziehung. Solche Menschen halten sich beim Gähnen die Hand nicht vor den Mund. Und sind eben gerade das, was sie so gar nicht sein wollen: provinziell. .........
Tages Anzeiger 02.03.2010
Wer zu spät kommt, dem fehlt es an Stil
Von Bettina Weber.
Die wichtigste Frau der Mode ist nie zu spät. Anna Wintour, Chefredaktorin der US-«Vogue», sitzt jeweils pünktlich auf ihrem Platz in der ersten Reihe und wartet mit unbeweglicher Miene auf den Beginn der Fashion-Show. Der verzögert sich in der Regel um mindestens eine halbe Stunde, hauptsächlich deswegen, weil die vom Designer extra zu diesem Zweck eingeflogene Prominenz zu spät kommt. Meist handelt es sich dabei um Schauspielerinnen und Popstars von Weltformat, oft aber auch um Starlets der mittleren bis unteren Chargen. Beiden gemeinsam ist, dass sie zu spät kommen, weil sie sich für wichtig halten. Beziehungsweise: Sie denken, dass ihr Zuspätkommen ihre Wichtigkeit unterstreichen würde. Sie speziell mache. Extraordinär. Man ist schliesslich jemand und kann sich da nicht um solche Nebensächlichkeiten wie Pünktlichkeit kümmern.
Dieses Denken ist salonfähig geworden. Und Unpünktlichkeit zu einer Art Tugend. Es gilt als chic, überall mit Verspätung zu erscheinen, denn pünktlich sind ja nur die Biedermänner, die Buchhalter und Kleinkrämer. Der hippe Mensch hingegen, der ist da toleranter. Der sagt geradeheraus, ich bin immer zu spät, und hält das für total bohémien und sich selbst für wahnsinnig locker und lässig. Dies ist nun aber ein schwerer Irrtum. Zu spät zu kommen, zeugt nicht von Wichtigkeit. Und schon gar nicht von Coolness oder von Weltgewandtheit. Sondern bloss von fehlendem Stil. Von fehlender Höflichkeit. Von fehlendem Respekt. Und von einer schlechten Erziehung. Solche Menschen halten sich beim Gähnen die Hand nicht vor den Mund. Und sind eben gerade das, was sie so gar nicht sein wollen: provinziell.
Banale Entschuldigungen
Das Handy hat die Situation drastisch verschlimmert. Nichts ist mehr verbindlich, sondern alles fliessend, ewig provisorisch, auch eine genaue Zeitangabe wird so zur Manövriermasse, zu einem Zirka. Und so piept dann zur verabredeten Zeit verlässlich das Handy mit dem gewohnten SMS «13 min!», wobei mich besonders die Zahlenangabe irritiert, denn wie kann jemand, der ganz offenbar Mühe hat mit dem Lesen der Uhr, seine Ankunft auf dreizehn Minuten genau angeben?
Wobei es ja die leichteren Fälle unter den notorisch Verspäteten sind, die sich per SMS dafür entschuldigen. Weitaus schlimmer sind Fall 2 und Fall 3: Fall 2 erscheint gestikulierend und schildert wortreich, weshalb es zur halbstündigen Verspätung gekommen ist. Meist ist die Geschichte sehr banal (das Tram ist mir vor der Nase abgefahren) oder sehr bizarr (mir fiel ein Bundesordner auf den Kopf). Fall 3 hingegen erscheint und tut, wie wenn nichts wäre. Fall 3 hat es nicht nötig, sich zu entschuldigen, und nicht einmal, sein Zuspätkommen mit einer amüsanten Anekdote wiedergutzumachen. Fall 3 ist überzeugt, dass allein seine Präsenz das Gegenüber vor Ergriffenheit erstarren und ihm seine Nachlässigkeit verzeihen lässt.
Bei Fall 3 handelt es sich interessanterweise oft um Frauen. Das scheint daran zu liegen, dass Frauen noch immer denken, es mache sich irgendwie gut, einen Mann warten zu lassen, weil sich dessen Begehren dann quasi ins Unermessliche steigere. Abgesehen davon, dass ich das als Mann für durchschaubares KleinmädchenDenken und die Frau damit für komplett uninteressant halten würde: Geschlechtsgenossinnen aus dieser Haltung heraus warten zu lassen, funktioniert erst recht nicht. Die «plangen» da mitnichten glühend vor Verlangen, sondern bekommen irgendwann einfach schlechte Laune.
An den Modeschauen ist es so, dass die Show irgendwann doch beginnt, selbst wenn die Prominenz noch nicht vollzählig eingetrudelt ist. Das musste Janet Jackson vor ein paar Jahren bei einer Dior-Show erfahren, als sie mitsamt Entourage derart zu spät kam, dass ihr der Zutritt verwehrt wurde. Es war ziemlich uncool, wie sie dann dastand und nicht hineindurfte und die Wirkung des vermeintlich grossen Auftritts einfach so verpuffte, weil ihr stattdessen vor aller Augen demonstriert wurde, wie kolossal unwichtig sie letzten Endes ist. (Tages-Anzeiger)
Wer zu spät kommt, dem fehlt es an Stil
Von Bettina Weber.
Die wichtigste Frau der Mode ist nie zu spät. Anna Wintour, Chefredaktorin der US-«Vogue», sitzt jeweils pünktlich auf ihrem Platz in der ersten Reihe und wartet mit unbeweglicher Miene auf den Beginn der Fashion-Show. Der verzögert sich in der Regel um mindestens eine halbe Stunde, hauptsächlich deswegen, weil die vom Designer extra zu diesem Zweck eingeflogene Prominenz zu spät kommt. Meist handelt es sich dabei um Schauspielerinnen und Popstars von Weltformat, oft aber auch um Starlets der mittleren bis unteren Chargen. Beiden gemeinsam ist, dass sie zu spät kommen, weil sie sich für wichtig halten. Beziehungsweise: Sie denken, dass ihr Zuspätkommen ihre Wichtigkeit unterstreichen würde. Sie speziell mache. Extraordinär. Man ist schliesslich jemand und kann sich da nicht um solche Nebensächlichkeiten wie Pünktlichkeit kümmern.
Dieses Denken ist salonfähig geworden. Und Unpünktlichkeit zu einer Art Tugend. Es gilt als chic, überall mit Verspätung zu erscheinen, denn pünktlich sind ja nur die Biedermänner, die Buchhalter und Kleinkrämer. Der hippe Mensch hingegen, der ist da toleranter. Der sagt geradeheraus, ich bin immer zu spät, und hält das für total bohémien und sich selbst für wahnsinnig locker und lässig. Dies ist nun aber ein schwerer Irrtum. Zu spät zu kommen, zeugt nicht von Wichtigkeit. Und schon gar nicht von Coolness oder von Weltgewandtheit. Sondern bloss von fehlendem Stil. Von fehlender Höflichkeit. Von fehlendem Respekt. Und von einer schlechten Erziehung. Solche Menschen halten sich beim Gähnen die Hand nicht vor den Mund. Und sind eben gerade das, was sie so gar nicht sein wollen: provinziell. .........
Tages Anzeiger 02.03.2010
Wer zu spät kommt, dem fehlt es an Stil
Von Bettina Weber.
Die wichtigste Frau der Mode ist nie zu spät. Anna Wintour, Chefredaktorin der US-«Vogue», sitzt jeweils pünktlich auf ihrem Platz in der ersten Reihe und wartet mit unbeweglicher Miene auf den Beginn der Fashion-Show. Der verzögert sich in der Regel um mindestens eine halbe Stunde, hauptsächlich deswegen, weil die vom Designer extra zu diesem Zweck eingeflogene Prominenz zu spät kommt. Meist handelt es sich dabei um Schauspielerinnen und Popstars von Weltformat, oft aber auch um Starlets der mittleren bis unteren Chargen. Beiden gemeinsam ist, dass sie zu spät kommen, weil sie sich für wichtig halten. Beziehungsweise: Sie denken, dass ihr Zuspätkommen ihre Wichtigkeit unterstreichen würde. Sie speziell mache. Extraordinär. Man ist schliesslich jemand und kann sich da nicht um solche Nebensächlichkeiten wie Pünktlichkeit kümmern.
Dieses Denken ist salonfähig geworden. Und Unpünktlichkeit zu einer Art Tugend. Es gilt als chic, überall mit Verspätung zu erscheinen, denn pünktlich sind ja nur die Biedermänner, die Buchhalter und Kleinkrämer. Der hippe Mensch hingegen, der ist da toleranter. Der sagt geradeheraus, ich bin immer zu spät, und hält das für total bohémien und sich selbst für wahnsinnig locker und lässig. Dies ist nun aber ein schwerer Irrtum. Zu spät zu kommen, zeugt nicht von Wichtigkeit. Und schon gar nicht von Coolness oder von Weltgewandtheit. Sondern bloss von fehlendem Stil. Von fehlender Höflichkeit. Von fehlendem Respekt. Und von einer schlechten Erziehung. Solche Menschen halten sich beim Gähnen die Hand nicht vor den Mund. Und sind eben gerade das, was sie so gar nicht sein wollen: provinziell.
Banale Entschuldigungen
Das Handy hat die Situation drastisch verschlimmert. Nichts ist mehr verbindlich, sondern alles fliessend, ewig provisorisch, auch eine genaue Zeitangabe wird so zur Manövriermasse, zu einem Zirka. Und so piept dann zur verabredeten Zeit verlässlich das Handy mit dem gewohnten SMS «13 min!», wobei mich besonders die Zahlenangabe irritiert, denn wie kann jemand, der ganz offenbar Mühe hat mit dem Lesen der Uhr, seine Ankunft auf dreizehn Minuten genau angeben?
Wobei es ja die leichteren Fälle unter den notorisch Verspäteten sind, die sich per SMS dafür entschuldigen. Weitaus schlimmer sind Fall 2 und Fall 3: Fall 2 erscheint gestikulierend und schildert wortreich, weshalb es zur halbstündigen Verspätung gekommen ist. Meist ist die Geschichte sehr banal (das Tram ist mir vor der Nase abgefahren) oder sehr bizarr (mir fiel ein Bundesordner auf den Kopf). Fall 3 hingegen erscheint und tut, wie wenn nichts wäre. Fall 3 hat es nicht nötig, sich zu entschuldigen, und nicht einmal, sein Zuspätkommen mit einer amüsanten Anekdote wiedergutzumachen. Fall 3 ist überzeugt, dass allein seine Präsenz das Gegenüber vor Ergriffenheit erstarren und ihm seine Nachlässigkeit verzeihen lässt.
Bei Fall 3 handelt es sich interessanterweise oft um Frauen. Das scheint daran zu liegen, dass Frauen noch immer denken, es mache sich irgendwie gut, einen Mann warten zu lassen, weil sich dessen Begehren dann quasi ins Unermessliche steigere. Abgesehen davon, dass ich das als Mann für durchschaubares KleinmädchenDenken und die Frau damit für komplett uninteressant halten würde: Geschlechtsgenossinnen aus dieser Haltung heraus warten zu lassen, funktioniert erst recht nicht. Die «plangen» da mitnichten glühend vor Verlangen, sondern bekommen irgendwann einfach schlechte Laune.
An den Modeschauen ist es so, dass die Show irgendwann doch beginnt, selbst wenn die Prominenz noch nicht vollzählig eingetrudelt ist. Das musste Janet Jackson vor ein paar Jahren bei einer Dior-Show erfahren, als sie mitsamt Entourage derart zu spät kam, dass ihr der Zutritt verwehrt wurde. Es war ziemlich uncool, wie sie dann dastand und nicht hineindurfte und die Wirkung des vermeintlich grossen Auftritts einfach so verpuffte, weil ihr stattdessen vor aller Augen demonstriert wurde, wie kolossal unwichtig sie letzten Endes ist. (Tages-Anzeiger)
Mittwoch, März 03, 2010
TA - Magazin: Ein gutes Leben für Alle
Das Magazin 27.02.2010
Ein gutes Leben für Alle
Was hindert uns daran, den sterbenden Kindern in Entwicklungsländern zu helfen? Was sollte jeder Einzelne gegen die Armut tun? Ein Gespräch mit dem umstrittenen Philosophen Peter Singer über Elend und Luxus und die Wiederkehr der Moral.
Peter Haffner
Der Kasino-Kapitalismus hat ausgespielt, Banker müssen sich ihrer Boni schämen, und was wirklich zählt im Leben, steht wieder hoch im Kurs: Zeit, an die Armen zu denken.
Der australische Philosoph Peter Singer hat seine Karriere darauf aufgebaut, unser Unwohlsein zu wecken. Sein erster Bestseller, «Animal Liberation», 1975, war ein Angriff auf den «Speziezismus»: Der Mensch kann nicht auf seinen Status als «Krone der Schöpfung» pochen, wenn er Tieren Leid zufügt oder sie tötet. Das Buch ist zur Bibel der Tierrechtsbewegung geworden und sorgt noch heute für erregte Debatten, wie auch Singers Positionen in der Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener oder der Legitimität der Folter im Fall des «Tickende-Zeitbombe-Szenarios». Der Sohn von Wiener Juden, dessen Grosseltern im Holocaust umkamen, ist bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz heftig attackiert und am Reden gehindert worden — vorab von Leuten, die seine Bücher nur in Form aus dem Zusammenhang gerissener Zitate kennen.
Peter Singer ist ein Moralist. Im Zentrum seines Denkens steht das Leiden, nicht nur das von Menschen, sondern das aller Lebewesen, die fähig sind, Glück und Schmerz zu empfinden. Als Vertreter des Utilitarismus beschäftigt ihn die Frage, mit welchen Mitteln man Leid am wirksamsten vermindern kann. Singers Schlussfolgerungen sind provokativ, weil sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand oft widersprechen. Sie zwingen uns dazu, unser moralisches Tun und Lassen zu überprüfen.
Singers neustes Buch heisst «The Life You Can Save». Der Philosoph zieht uns darin zur Verantwortung für das Leben und Sterben jener Menschen, die selbst die Opfer der Wirtschaftskrise in unseren Breiten reich und privilegiert erscheinen lassen. Wir sind, sagt er, nicht die, die wir zu sein glauben, weder unschuldig noch machtlos.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der Anteil der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, ist geringer als je zuvor. Und da Reich und Arm dank moderner Technik im «globalen Dorf» miteinander verbunden sind wie noch nie, gibt es auch mehr Möglichkeiten, effizient zu helfen und der Weltarmut ein Ende zu bereiten. Wir sind als Privatpersonen dazu aufgerufen. Dies, weil auch die Schweiz das von der Uno beschlossene Entwicklungshilfe-Soll — 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens — mit knapp 0,4 Prozent immer noch nicht erfüllt.
Singers Buch kommt zur rechten Zeit. Mit dem Kasino-Kapitalismus hat auch der Hedonismus an Attraktivität eingebüsst — wer nur nach materiellem Genuss strebt, findet selten das Glück, das er sucht. Im Glücklichsein liegt aber auch für Singer der Sinn eines moralisch guten Lebens begründet. Der 63-jährige Professor für Bioethik lehrt am Center for Human Values der Princeton University. ......
Das Magazin 27.02.2010
Ein gutes Leben für Alle
Was hindert uns daran, den sterbenden Kindern in Entwicklungsländern zu helfen? Was sollte jeder Einzelne gegen die Armut tun? Ein Gespräch mit dem umstrittenen Philosophen Peter Singer über Elend und Luxus und die Wiederkehr der Moral.
Peter Haffner
Der Kasino-Kapitalismus hat ausgespielt, Banker müssen sich ihrer Boni schämen, und was wirklich zählt im Leben, steht wieder hoch im Kurs: Zeit, an die Armen zu denken.
Der australische Philosoph Peter Singer hat seine Karriere darauf aufgebaut, unser Unwohlsein zu wecken. Sein erster Bestseller, «Animal Liberation», 1975, war ein Angriff auf den «Speziezismus»: Der Mensch kann nicht auf seinen Status als «Krone der Schöpfung» pochen, wenn er Tieren Leid zufügt oder sie tötet. Das Buch ist zur Bibel der Tierrechtsbewegung geworden und sorgt noch heute für erregte Debatten, wie auch Singers Positionen in der Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener oder der Legitimität der Folter im Fall des «Tickende-Zeitbombe-Szenarios». Der Sohn von Wiener Juden, dessen Grosseltern im Holocaust umkamen, ist bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz heftig attackiert und am Reden gehindert worden — vorab von Leuten, die seine Bücher nur in Form aus dem Zusammenhang gerissener Zitate kennen.
Peter Singer ist ein Moralist. Im Zentrum seines Denkens steht das Leiden, nicht nur das von Menschen, sondern das aller Lebewesen, die fähig sind, Glück und Schmerz zu empfinden. Als Vertreter des Utilitarismus beschäftigt ihn die Frage, mit welchen Mitteln man Leid am wirksamsten vermindern kann. Singers Schlussfolgerungen sind provokativ, weil sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand oft widersprechen. Sie zwingen uns dazu, unser moralisches Tun und Lassen zu überprüfen.
Singers neustes Buch heisst «The Life You Can Save». Der Philosoph zieht uns darin zur Verantwortung für das Leben und Sterben jener Menschen, die selbst die Opfer der Wirtschaftskrise in unseren Breiten reich und privilegiert erscheinen lassen. Wir sind, sagt er, nicht die, die wir zu sein glauben, weder unschuldig noch machtlos.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der Anteil der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, ist geringer als je zuvor. Und da Reich und Arm dank moderner Technik im «globalen Dorf» miteinander verbunden sind wie noch nie, gibt es auch mehr Möglichkeiten, effizient zu helfen und der Weltarmut ein Ende zu bereiten. Wir sind als Privatpersonen dazu aufgerufen. Dies, weil auch die Schweiz das von der Uno beschlossene Entwicklungshilfe-Soll — 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens — mit knapp 0,4 Prozent immer noch nicht erfüllt.
Singers Buch kommt zur rechten Zeit. Mit dem Kasino-Kapitalismus hat auch der Hedonismus an Attraktivität eingebüsst — wer nur nach materiellem Genuss strebt, findet selten das Glück, das er sucht. Im Glücklichsein liegt aber auch für Singer der Sinn eines moralisch guten Lebens begründet. Der 63-jährige Professor für Bioethik lehrt am Center for Human Values der Princeton University.
Das Magazin: Herr Professor Singer, 27 000 Kinder sterben Tag für Tag an Hunger und Krankheit. Warum sollten wir ihr Leben retten?
PETER SINGER: Weil der Tod eines Kindes eine Tragödie ist. Wir sollten Mitgefühl haben. Sollten uns vorstellen, wie es ist, das eigene Kind zu verlieren. Wie es ist, wenn man ein Kind ist, krank und im Sterben liegend.
Das Magazin: Viele dieser Kinder würden auch sonst nie ein gutes Leben führen können.
SINGER: Ein Kind, das an Durchfall zu sterben droht, hat nicht ein so miserables Leben, dass es besser wäre, man würde es nicht retten. Es ist falsch zu glauben, ein Leben in Armut sei so elend, dass es nicht der Rettung wert ist.
Das Magazin: Sie spenden seit Jahrzehnten einen wachsenden Teil Ihres Einkommens für die Armen, mittlerweile ein Viertel, wenn ich richtig orientiert bin.
SINGER: Etwas mehr.
Das Magazin: Geben Sie Obdachlosen etwas, welche Sie auf der Strasse anbetteln?
SINGER: Im Allgemeinen nicht. Ich kaufe ihnen etwas zu essen, wenn sie danach fragen. Ich gebe kein Geld, weil ich denke, die geben das im Spirituosenladen aus. Das steigert nur dessen Profite und tut ihnen selber nicht gut.
Das Magazin: Kritiker argumentieren, Entwicklungshilfe bewirke dasselbe wie Bargeld für Alkoholiker: Sie schade mehr, als sie nütze, indem sie abhängig mache. Martin Wolf, der Chefökonom der «Financial Times», meint, es sei sinnvoller, die Handelsbarrieren wegzuräumen und mit der Globalisierung Ernst zu machen, sodass die armen Länder ihre Produkte auf den Weltmarkt bringen können.
SINGER: Wachstum um des Wachstums willen ist sinnlos. Es geht um das Ziel, um dessentwillen man Wachstum fördern will. Und das ist es, Leben zu retten, das Elend zu lindern und die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Das Magazin: Der Ökonom William Easterly beklagt, der Westen habe in den vergangenen fünf Jahrzehnten 2,3 Billionen Dollar für Entwicklungshilfe ausgegeben und es immer noch nicht fertig¬gebracht, Kinder mit Medikamenten ge¬gen Malaria zu versorgen, die 12 Cent kosten. Was die Malaria-Todesfälle halbieren würde.»
SINGER: Die Zahl sieht beeindruckend aus, ist es aber nicht. Rechnet man das herunter, sind es 0,3 Prozent des Totaleinkommens der begüterten Nationen, 30 Cent auf 100 Dollar. Ein grosser Teil dieser Hilfe wurde weniger für humanitäre als für politische und militärische Zwecke verwendet. Hunderte von Millionen Dollar, die in Easterlys Zahl inbegriffen sind, gingen beispielsweise auf die Schweizer Bankkonten des kongolesischen Diktators Mobutu Sese Seko.
Das Magazin: Leben denn nicht jetzt schon zu viele Menschen auf unserem Planeten? Werden am Ende nicht noch mehr an Hunger sterben, wenn wir die Ärmsten retten? Weil es keine Nahrung, kein Wasser für so viele gibt?
SINGER: Wir verfüttern jährlich 756 Millionen Tonnen Getreide an Tiere zur Fleischgewinnung. Das macht für die 1,4 Milliarden Menschen, die in extremer Armut leben, drei Pfund pro Tag. Wir produzieren genug Nahrung, um drei Milliarden Menschen mehr zu ernähren, als heute auf der Erde sind. Die einzige Gefahr, die uns droht, ist ein Massenvegetarismus.
Das Magazin: Wogegen Sie als Veganer natürlich nichts hätten.
SINGER: (Lacht) Nein. Überdies ist die hohe Geburtenrate auch das Resultat der hohen Säuglingssterblichkeit. Wenn die Kinder sterben, haben die Leute noch mehr Kinder. Geben wir ihnen das Vertrauen, dass sie überleben, werden sie weniger haben.
Das Magazin: Müssten Sie sich als Utilitarist nicht fragen, womit man die beste Wirkung erzielt? Gibt jemand, der bereit ist, Geld zu spenden, es nicht besser aus, wenn er Arbeitsplätze schafft, zum Beispiel mittels Mikrofinanzierung? Niedrige Darlehen an Kleinunternehmen, die Menschen helfen, sich aus der Armut hochzuarbeiten?
SINGER: Mikrofinanzierung ist ein Weg, Armut zu reduzieren. Wenn jemand sagt, ich investiere in Afrika, statt mein Geld einer Hilfsorganisation zu geben — grossartig!
Das Magazin: Doch Sie halten es nicht für den besseren Weg, Leben zu retten?
SINGER:Für mich ist es eine empirische Frage, ob man die Wirtschaft sinnvoll mit den Mitteln fördern kann, die uns zur Verfügung stehen. Oder ob wir nicht lieber direkt den Ärmsten helfen und sie mit den Mitteln für eine gute Gesundheitsversorgung und bessere Ernährung ausstatten. Man investiert seine Energie da, wo man das Gefühl hat, am meisten erreichen zu können. Den «komparativen Vorteil» geniesst, wie Geschäftsleute sagen.
Das Magazin: In Ihrem Buch erörtern Sie eines der unter Ethikern beliebten Fallbeispiele: Ein Kleinkind steht in einem knietiefen Teich. Weder Eltern noch Babysitter sind zu sehen. Strauchelt es, droht es zu ertrinken. Wird man es retten, auch wenn man dabei seine neuen Schuhe ruiniert, den Anzug verschmutzt und zu spät zur Arbeit kommt? Wer das als seine Pflicht ansieht, sagen Sie, sei ebenso verpflichtet, ein Kind in Afrika zu retten, das ohne Hilfe sterben wird. Aber das ist doch nicht dasselbe?
SINGER: Natürlich nicht. Doch ist der Unterschied moralisch relevant? Er ist psychologischer Natur. Unser moralisches Urteilsvermögen sollte das nicht beeinträchtigen.
Das Magazin: Ist das Argument nicht vielmehr ein logisches — nämlich, dass die Distanz nicht zählt? Die Tatsache irrelevant ist, dass es sich um jemanden handelt, den wir weder sehen noch kennen, der in einem Land lebt, in dem wir nie waren, und an dessen Schicksal wir nicht schuld sind?
SINGER: Es ist keine Sache der reinen Logik. Ich frage, ob die Distanz wirklich von Bedeutung ist. Ich meine, sie ist es nicht. Wenn ein Kind in Ghana an den Masern stirbt, weil die Eltern kein Geld für den Arzt und für Medikamente haben, ist es nicht ein Opfer der Krankheit, sondern der Armut. Daran sterben jährlich gegen zehn Millionen Kinder unter fünf Jahren, eine ungeheure Tragödie. Wir wissen davon, und es steht in unserer Macht, sie zu verhindern.
Das Magazin: Offensichtlich sinddie meisten Leute weniger rational und mehr emotional, was solche Fragen betrifft. Sieht man ein Kind ertrinken, eilt man selbstverständlich zu Hilfe. Hernach weiss man, dass man es gerettet hat. Spendet man Geld, hofft man, damit ein Kind zu retten, das einem unbekannt bleibt.
SINGER: Wenn man seriösen Organisationen Geld spendet, darf man darauf vertrauen, dass sie damit wirksame Hilfe leisten. Die Spenden kommen in einen Topf, mit dem Inhalt wird eine gewisse Anzahl Leben gerettet. Natürlich kann man nicht sagen: «Ich habe genau diese Person ge¬rettet.» Emotional macht das einen Unterschied, richtig.
Das Magazin: Nur emotional? Die Moral hat sich in Stämmen entwickelt, in kleinen Gruppen, Familien. Vielleicht gibt es so was wie eine absolute Moral nicht.
SINGER: Damit bin ich nicht einverstanden. Mit der evolutionären Herleitung der Ursprünge der Moral schon, aber nicht mit der Schlussfolgerung. Die Evolution erklärt die unterschiedlichen Gefühle, die wir gegenüber Individuen und Massen hegen, gegenüber Nahestehenden und Entfernten. Aber sie rechtfertigt diese Gefühle nicht. Denn wir haben auch die Vernunft entwickelt, die uns befähigt zu erkennen, dass die moralischen Urteile, die wir fällen, implizit universell sind.
Das Magazin: Die kulturelle Evolution erlaubt uns, die Grenzen unserer soziobiologischen Konditionierung zu überwinden?
SINGER: Genau. Und das ist kein neues Argument. Das geht auf Kants Ideen zu¬rück über den Menschen als rationales Wesen.
Das Magazin: So rational ist er in der Praxis nicht. Wie sagte Stalin: Der Tod eines Menschen ist eine Tragödie, der Tod von Millionen Statistik.
SINGER: Psychologisch, ja. Wir bringen eher Gefühle auf für das «identifizierbare Opfer» als für das «statistische». Wir reagieren mehr auf Bilder und Geschichten, die unsere Emotionen wecken, als auf abstrakte Tatsachen, auf Worte und Zahlen.
Das Magazin: Viele fühlen sich machtlos, sagen, Entwicklungshilfe sei ein Fass ohne Boden, und man könne ja doch nicht allen helfen.
SINGER: Der Sinn der Hilfe wird nicht vermindert dadurch, dass es mehr Bedürftige gibt, denen man nicht helfen kann, als solche, denen man helfen kann.
Das Magazin: Wie könnte man die psychologischen Barrieren abbauen, die uns hindern, Unbekannten zu helfen?
SINGER: Oft braucht es nur einen kleinen Schubs. Wie beim Organspenden. In Deutschland sind lediglich zwölf Prozent der Bevölkerung als Organspender registriert, in Österreich 99,98 Prozent. Der Grund ist einfach: In Österreich ist man automatisch Organspender. Will man es nicht sein, muss man dies ausdrücklich kundtun. In Deutschland ist es genau umgekehrt.
Das Magazin: Also eine Art obligatorische Entwicklungshilfe, ein Lohnabzug oder eine Steuer?
SINGER: Manche Banker machen das — Bear Stearns etwa, bevor das Institut in der Finanzkrise an JPMorgan ging. Rund tausend der höchstbezahlten Angestellten waren verpflichtet, vier Prozent ihres Einkommens und Bonus an Non-Profit-Organisationen zu spenden. Sie mussten ihre Steuererklärung vorlegen zum Beweis, dass sie es getan hatten. Es war Teil der Unternehmenskultur — 2006 gingen so 45 Millionen Dollar an die Wohlfahrt. Goldman Sachs macht etwas Ähnliches, Google ebenso.
Das Magazin: So werden Banker plötzlich zu Vorbildern.
SINGER: Wenn aus Grossunternehmen, Universitäten und anderen Institutionen ein Prozent der Saläre Organisationen gespendet würden, welche die Weltarmut bekämpfen, würde das nicht nur Milliarden von Dollar bereitstellen. Es würde auch die Angestellten zu mehr Generosität bewegen. Wer nicht mitmachen will, muss nicht. Doch es sollte als normales Verhalten gelten, dass man spendet — und nicht, dass man es nicht tut.
Das Magazin: Wie viel sollte denn jeder von uns geben?
SINGER: Ein Prozent im Mindesten. Fünf Prozent diejenigen, die finanziell auf gutem Fuss stehen. Weit mehr jene, die reich sind.
Das Magazin: Was nach Ihnen hiesse, ein moralisch gutes Leben zu führen.
SINGER: Ja. Wir tun das nicht, solange wir nicht viel mehr geben, als die meisten für realistisch halten. Wer Mineralwasser in der Flasche kauft, obwohl das Wasser, das aus dem Hahn kommt, sauber ist, hat Geld übrig, das er nicht wirklich braucht. Über eine Milliarde Menschen muss mit weniger pro Tag leben, als eine einzige Flasche Mineralwasser kostet.
Das Magazin: Sind die Menschen altruistisch?
SINGER: Stärker, als sie glauben. Zwar gibt es viele wie Molières «Tartuffe», die vorgeben, altruistisch zu sein, in Wirklichkeit aber scheinheilig sind. Doch der Soziologe Robert Wuthnow hat herausgefunden, dass auch das Gegenteil sehr häufig ist — Leute, die Freiwilligenarbeit leisten, sagen, «Das gibt mir etwas zu tun» oder «Es bringt mich aus dem Haus». Es widerstrebt ihnen zu sagen, «Ich will helfen».
Das Magazin: Stecken nicht oft egoistische Motive dahinter?
SINGER:Das ist doch nebensächlich. Es gibt eine schöne Anekdote über den Philosophen Thomas Hobbes, der berühmt ist für seine These, Menschen handelten ausschliesslich aus Selbstinteresse. Ertappt dabei, wie er einem Bettler eine Münze gab, verteidigte er sich damit, dass er es nur um seiner Freude willen tue, den armen Mann glücklich zu sehen. Es wäre schön, wenn es mehr Leute auf der Welt gäbe, die es glücklich macht, andere glücklich zu sehen.
Das Magazin: Alle Weltreligionen legen grosses Gewicht auf die moralische Verpflichtung, den Armen zu helfen. Im Christentum beispielsweise ist es Voraussetzung für die Erlösung, ein Mittel, das ewige Leben zu erlangen und in den Himmel zu kommen. Das ist ein starkes Argument.
SINGER: Sicher, wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt. Christen haben wohl etwas mehr gegeben als Nicht-Christen, aber nicht so viel, wie man erwarten würde, wenn man in den Evangelien nachliest, was Jesus fordert.
Das Magazin: In den meisten entwickelten Ländern, mit der Ausnahme Amerikas, hat die Religion an Einfluss verloren. Damit entfällt ein Antrieb, Bedürftigen zu helfen — gerade bei denen, die es vermöchten.
SINGER: Wir sollten von einer neuen, säkularen Grundlage starten. Historisch könnte sich das als erfolgreicher erweisen.
Das Magazin: Wie denn?
SINGER: Vielleicht mittels moderner Technologie, die uns näher an die Leute in der sich entwickelnden Welt bringt. Sodass wir sie besser kennenlernen, mit ihnen kommunizieren können, sie auf dem Computerschirm sehen. Das kann Mitgefühl wecken.
Das Magazin: Eine Art von Facebook-Freundschaft?
SINGER: Ja.
Das Magazin: Sie selber sind ein Ungläubiger, verlangen jedoch nicht von anderen, sich zum Atheismus zu bekehren, wie etwa Richard Dawkins.
SINGER:
Nein. Mit Richard Stearns, dem Präsidenten von World Vision, der ein Evangelikaler ist, arbeite ich zusammen. Sein Buch «The Hole In Our Gospel» handelt davon, was Gott von uns erwartet, für die Armen zu tun. Auch mit Rick Warren bin ich in Kontakt, dem Pastor der Saddleback Church, einer Mega-Kirche. Ich arbeite gerne mit diesen Leuten für die gemeinsame Sache.
Das Magazin: Sie sind ein Politiker.
SINGER: Mag sein.
Das Magazin: Sie scheren sich auch nicht um Motive. Ob Celebrities wie Angelina Jolie oder die Finanzhaie von Goldman Sachs — solange die Leute spenden, sind sie für Sie in Ordnung.
SINGER: Ja, ich möchte da nicht zu tief bohren.
Das Magazin: Aber gerade die Banker stürzten doch viele ins Elend.
SINGER: Das verurteile ich. Wir solltennicht zulassen, dass sie sich von ihren Übeltaten reinwaschen, indem sie spenden. Aber wenn sie spenden, ohne es als Publicity zu nutzen, sollten wir das Geld nehmen, um damit Gutes zu tun.
Das Magazin: Celebrities sind aber auf Publicity aus.
SINGER: Wir vermuten zu rasch eigennützige Motive. Angelina Jolie und Madonna unterstützen beide Organisationen, die Armen helfen, und sie machen das gut.
Das Magazin: Was ist mit den Adoptionen?
SINGER: Wenn Madonnas Adoption des einjährigen David, den sie in einem Waisenhaus in Malawi fand, alles wäre, was sie tut, wäre es nicht gut. Das hilft die Armut nicht zu beseitigen, aus der diese Kinder kommen. Aber sie tut mehr. Sie hilft Waisenkindern im Land, fördert die Schulbildung von Mädchen und sammelt Geld für Jeffrey Sachs’ Millennium Villages Project. Auch Angelina Jolie macht das. Das ist mehr, als die meisten Film- und Popstars tun, und dafür sollte man sie loben.
Das Magazin: Und andere Reiche tadeln.
SINGER: Manche sicher, ja. Die extravaganten Milliardäre wie der Russe Roman Abramowitsch, der Amerikaner Larry Ellison, die Hoheiten aus Dubai und Saudiarabien, die miteinander wetteifern, wer die grösste Jacht hat. Es ist Zeit, dass wir aufhören, das als törichte, aber harmlose Zurschaustellung von Eitelkeiten zu betrachten. Wir brauchen eine ethische Kultur, welche die Konsequenzen dessen in Rechnung stellt, was jeder von uns für die Welt tut, in der wir leben. Und die dementsprechend urteilt. Was diese Leute machen, zeugt von einem schreienden Mangel an Sorge für andere.
Das Magazin: Die grössten Wohltäter der Welt sind Bill Gates und Warren Buffett. Gates hat 29 Milliarden Dollar in seine Stiftung gesteckt, für die er jetzt vollamtlich arbeitet, Buffett hat 31 Milliarden für wohltätige Zwecke zugesichert. Beide sind Amerikaner, wie viele andere Philanthropen — etwa die Mitglieder der «50% League», welche die Hälfte ihres Einkommens und Vermögens weggeben. Warum ist das so?
SINGER: Das geht zurück auf eine amerikanische Tradition, auf Philanthropen wie Carnegie und Rockefeller. Doch es gibt nun auch in Asien und Indien grosse Spender. In Europa ist man eher der Meinung, Entwicklungshilfe sei Sache des Staates.
Das Magazin: Wie definieren Sie Luxus? Schon allein die Tatsache, dass wir hier in Ihrem Büro in Princeton sitzen, ist ein Luxus im Vergleich zu den Lebensumständen der meisten Menschen.
SINGER: Gewiss. Doch was Luxus ist, steht im Verhältnis zur Frage, was man braucht, um zu funktionieren. Ein Büro zu haben, mit bequemen Stühlen, einem Schreibtisch, Computer und Telefon, ist für mich kein Luxus, weil ich das für meine Arbeit benötige. Luxus ist, was darüber hinausgeht. An gewissen Orten braucht man ein Auto, um herumzukommen. Hier habe ich keines, in Australien hatte ich eines.
Das Magazin: Aber keinen Hummer…
SINGER: …richtig, kein Auto, das teuer ist und den Planeten noch mehr verschmutzt. Die Frage ist: Gibt man Geld aus für Dinge, die nicht die Grundbedürfnisse decken, die einen befähigen, effektiver zu funktionieren?
Das Magazin: Geben Sie Geld aus für so etwas, also für Luxus?
SINGER: Ja.
Das Magazin: Wofür?
SINGER: Für Reisen zu den Kindern und Enkeln in Australien, die wir jedes Jahr besuchen. Streng genommen ist das nicht nötig. Aber ich hasse die Vorstellung, für meine Enkel ein Fremder zu sein, jemand, den sie nicht kennen. Wir gehen auch in die Ferien, gelegentlich in Restaurants, ins Theater.
Das Magazin: Sie haben das New Yorker Metropolitan Museum of Art kritisiert, weil es für 45 Millionen Dollar ein Gemälde gekauft hat, eine kleine Madonna mit Kind des italienischen Meisters Duccio.
SINGER: Mit dem Geld hätte man 45 000 Leben retten können — ein volles Fussballstadion. Wie kann ein Bild, wie schön und historisch bedeutsam es auch immer ist, wertvoller sein als das?
Das Magazin: Ist Kunst denn Luxus?
SINGER: Nicht immer. Doch die Prei¬se, die auf dem Kunstmarkt bezahlt werden für Werke, die historisch bedeutend oder in Mode sind — das ist Luxus. Wir sollten nicht Geld verschwenden für so etwas in einer Welt, in der jedes Jahr achtzehn Millionen Menschen unnötig sterben. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind das mehr als alle Toten aller Kriege und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zusammen. Die beiden Weltkriege, Hitlers, Stalins und Maos Opfer — was hätten wir dafür gegeben, diese Katastrophen zu verhindern!
Das Magazin: Kaufen Sie selber Kunst?
SINGER: Wenig. Wir haben ein paar australische Kunstwerke von Eingeborenen, aber nichts wirklich Teures.
Das Magazin: Ihr zweites ethisches Fallbeispiel stellt einen Mann vor die Frage, ob er ein ihm unbekanntes Kind, das von einem herannahenden, führerlosen Zug erfasst zu werden droht, retten soll im Wissen, dass er dabei sein Lieblingsauto, einen Bugatti, verliert. Es steht auf dem Parkplatz hinter dem Puffer des Abstellgleises, auf das er den Zug umlenken könnte, um das auf dem Hauptgleis spielende Kind ausser Gefahr zu bringen. Das Auto, ein Oldtimer, macht ihm nicht nur viel Freude, sondern ist auch seine Altersversicherung — er kann es teuer verkaufen, wenn er Geld braucht. Sie meinen, er sollte es dem Kind zuliebe opfern.
SINGER: Ja.
Das Magazin: Als Utilitarist müsste man aber sagen, er sollte den Bugatti retten und ihn dann verkaufen, um mit dem Erlös weit mehr Kinderleben retten zu können als nur das eine.
SINGER: (Lacht) Ja, das ist ein Argument.
Das Magazin: Bei einem Museumsbrand, sagen Sie, würde man nicht zögern bei der Wahl, ob man ein Kind oder ein Gemälde — zum Beispiel die Mona Lisa — retten sollte. Angesichts der Tatsache, dass tagtäglich so viele sterben — was wäre wirklich der grössere Verlust für die Menschheit, das einzigartige Gemälde oder das Leben irgendeines Kindes?
SINGER: Das Leben des Kindes. Dass wir die Mona Lisa haben und sie wertschätzen — schön und gut. Aber wäre die Welt wirklich schlechter, wenn wir sie nicht hätten? Nie gehabt hätten? Was für den Bugatti gilt, gilt vielleicht auch für die Mona Lisa: Der Louvre sollte sie verkaufen und das Geld gebrauchen, um Leben zu retten.
Das Magazin: Das ist doch ein Totschlag-Argument. Man kann es auf alles anwenden. Zum Beispiel Weltraumforschung — ist das ein Luxus, den wir uns nicht leisten sollten?
SINGER: Ja, das finde ich. Ich bin zwar neugierig, wie das Universum aussieht, aber ich denke, wir sollten zuerst das Problem der Weltarmut lösen.
Das Magazin: Das Bild unseres Planeten, aufgenommen aus dem Weltall, hat die Einsicht beflügelt, dass wir auf einem Raumschiff leben, dass wir nichts anderes haben als diese Erde, und dass wir dafür Sorge tragen müssen — alle miteinander. Vielleicht war das die Milliarden von Dollar wert?
SINGER: Ich weiss nicht. Sicher, das Bild ist ein Symbol geworden. Aber das war nicht das Ziel des Projektes. Wenn es wirklich so viel bewirkt hat, dass es die Ausgaben rechtfertigt, dann war es Glück.
Das Magazin: Ihre Kampagne, denArmen der Welt zu helfen, starteten Sie 1972 mit dem fulminanten Essay «Famine, Affluence, and Morality». Gibt es grundlegend neue Erkenntnisse bei dem Thema?
SINGER: Ja, in der psychologischen Forschung, zur Frage, unter welchen Umständen Leute eher geneigt sind zu spenden. Für mich persönlich war das sehr erhellend. Es half mir erklären, warum das Argument vom Kind im Teich so gut funktioniert. Es hat alle Faktoren, die bewirken, dass Leute helfen: eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht, die persönliche Verantwortlichkeit, aus der man sich nicht davonstehlen kann, die direkte Hilfeleistung, deren Resultat man sieht. Während die Hungersituation genau das Gegenteil ist: diese grosse, gesichtslose Masse, die Meinung, andere könnten helfen, das Problem des Geldes… Ich erkannte, dass logische Argumente nicht genügen, sondern dass wir auch die psychologischen Mechanismen entwickeln müssen, die Hemmnisse zu überwinden.
Das Magazin:
Mir scheint, Sie sind ohnehin ein bisschen milder geworden, was die Anerkennung der Grenzen der Rationalität betrifft.
SINGER: Mag sein. Das kam, als ich das Material aus der Psychologie studierte.
Das Magazin: Um nochmals auf Hobbes zurückzukommen: Vielleicht liefert er, der Philosoph des Egoismus, doch das stärkste Argument — Geben macht glücklich?
SINGER: Das lehrten schon Sokrates und Platon. Auch Epikur, den man als den Philosophen des Genusses kennt, sagte das, und Studien bestätigen es. Leute, die Geld für wohltätige Zwecke spenden oder Freiwilligenarbeit leisten, bezeichnen sich viel häufiger als «sehr glücklich» als solche, die das nicht tun.
Das Magazin: Das sind blosse Meinungsäusserungen.
SINGER: Die Verbindung zwischen Geben und Glücklichsein ist auch experimentell bewiesen. Probanden wurden je hundert Dollar gegeben, von denen sie, wenn sie wollten, einen Teil für die Lebensmittelhilfe für Arme spenden konnten. Sie wurden informiert, niemand, nicht einmal die Experimentatoren, wüssten, wer gespendet habe und wer nicht. Während des Experimentes wurde die Gehirnaktivität mittels Magnetresonanztomografie untersucht. Bei denen, welche spendeten, waren die «Belohnungszentren» aktiv, die Teile des Gehirns, die reagieren, wenn man etwas Süsses isst oder Geld bekommt. Das «warme Glühen», von dem hilfsbereite Menschen sprechen, hat also eine reale Basis im Hirn.
Das Magazin: Womit die Vernunft wieder in ihr Recht gesetzt wäre.
SINGER:
(Lacht) Ja.
Die deutsche Ausgabe von «The Life You Can Save» ist eben erschienen.
Peter Singer, «Leben retten. Wie sich die Armut abschaffen lässt — und warum wir es nicht tun»,Arche-Verlag, Zürich 2010
Peter Haffner ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins». Er lebt in Kalifornien.
p.haffner@sbcglobal.net
Ein gutes Leben für Alle
Was hindert uns daran, den sterbenden Kindern in Entwicklungsländern zu helfen? Was sollte jeder Einzelne gegen die Armut tun? Ein Gespräch mit dem umstrittenen Philosophen Peter Singer über Elend und Luxus und die Wiederkehr der Moral.
Peter Haffner
Der Kasino-Kapitalismus hat ausgespielt, Banker müssen sich ihrer Boni schämen, und was wirklich zählt im Leben, steht wieder hoch im Kurs: Zeit, an die Armen zu denken.
Der australische Philosoph Peter Singer hat seine Karriere darauf aufgebaut, unser Unwohlsein zu wecken. Sein erster Bestseller, «Animal Liberation», 1975, war ein Angriff auf den «Speziezismus»: Der Mensch kann nicht auf seinen Status als «Krone der Schöpfung» pochen, wenn er Tieren Leid zufügt oder sie tötet. Das Buch ist zur Bibel der Tierrechtsbewegung geworden und sorgt noch heute für erregte Debatten, wie auch Singers Positionen in der Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener oder der Legitimität der Folter im Fall des «Tickende-Zeitbombe-Szenarios». Der Sohn von Wiener Juden, dessen Grosseltern im Holocaust umkamen, ist bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz heftig attackiert und am Reden gehindert worden — vorab von Leuten, die seine Bücher nur in Form aus dem Zusammenhang gerissener Zitate kennen.
Peter Singer ist ein Moralist. Im Zentrum seines Denkens steht das Leiden, nicht nur das von Menschen, sondern das aller Lebewesen, die fähig sind, Glück und Schmerz zu empfinden. Als Vertreter des Utilitarismus beschäftigt ihn die Frage, mit welchen Mitteln man Leid am wirksamsten vermindern kann. Singers Schlussfolgerungen sind provokativ, weil sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand oft widersprechen. Sie zwingen uns dazu, unser moralisches Tun und Lassen zu überprüfen.
Singers neustes Buch heisst «The Life You Can Save». Der Philosoph zieht uns darin zur Verantwortung für das Leben und Sterben jener Menschen, die selbst die Opfer der Wirtschaftskrise in unseren Breiten reich und privilegiert erscheinen lassen. Wir sind, sagt er, nicht die, die wir zu sein glauben, weder unschuldig noch machtlos.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der Anteil der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, ist geringer als je zuvor. Und da Reich und Arm dank moderner Technik im «globalen Dorf» miteinander verbunden sind wie noch nie, gibt es auch mehr Möglichkeiten, effizient zu helfen und der Weltarmut ein Ende zu bereiten. Wir sind als Privatpersonen dazu aufgerufen. Dies, weil auch die Schweiz das von der Uno beschlossene Entwicklungshilfe-Soll — 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens — mit knapp 0,4 Prozent immer noch nicht erfüllt.
Singers Buch kommt zur rechten Zeit. Mit dem Kasino-Kapitalismus hat auch der Hedonismus an Attraktivität eingebüsst — wer nur nach materiellem Genuss strebt, findet selten das Glück, das er sucht. Im Glücklichsein liegt aber auch für Singer der Sinn eines moralisch guten Lebens begründet. Der 63-jährige Professor für Bioethik lehrt am Center for Human Values der Princeton University. ......
Das Magazin 27.02.2010
Ein gutes Leben für Alle
Was hindert uns daran, den sterbenden Kindern in Entwicklungsländern zu helfen? Was sollte jeder Einzelne gegen die Armut tun? Ein Gespräch mit dem umstrittenen Philosophen Peter Singer über Elend und Luxus und die Wiederkehr der Moral.
Peter Haffner
Der Kasino-Kapitalismus hat ausgespielt, Banker müssen sich ihrer Boni schämen, und was wirklich zählt im Leben, steht wieder hoch im Kurs: Zeit, an die Armen zu denken.
Der australische Philosoph Peter Singer hat seine Karriere darauf aufgebaut, unser Unwohlsein zu wecken. Sein erster Bestseller, «Animal Liberation», 1975, war ein Angriff auf den «Speziezismus»: Der Mensch kann nicht auf seinen Status als «Krone der Schöpfung» pochen, wenn er Tieren Leid zufügt oder sie tötet. Das Buch ist zur Bibel der Tierrechtsbewegung geworden und sorgt noch heute für erregte Debatten, wie auch Singers Positionen in der Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener oder der Legitimität der Folter im Fall des «Tickende-Zeitbombe-Szenarios». Der Sohn von Wiener Juden, dessen Grosseltern im Holocaust umkamen, ist bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz heftig attackiert und am Reden gehindert worden — vorab von Leuten, die seine Bücher nur in Form aus dem Zusammenhang gerissener Zitate kennen.
Peter Singer ist ein Moralist. Im Zentrum seines Denkens steht das Leiden, nicht nur das von Menschen, sondern das aller Lebewesen, die fähig sind, Glück und Schmerz zu empfinden. Als Vertreter des Utilitarismus beschäftigt ihn die Frage, mit welchen Mitteln man Leid am wirksamsten vermindern kann. Singers Schlussfolgerungen sind provokativ, weil sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand oft widersprechen. Sie zwingen uns dazu, unser moralisches Tun und Lassen zu überprüfen.
Singers neustes Buch heisst «The Life You Can Save». Der Philosoph zieht uns darin zur Verantwortung für das Leben und Sterben jener Menschen, die selbst die Opfer der Wirtschaftskrise in unseren Breiten reich und privilegiert erscheinen lassen. Wir sind, sagt er, nicht die, die wir zu sein glauben, weder unschuldig noch machtlos.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der Anteil der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, ist geringer als je zuvor. Und da Reich und Arm dank moderner Technik im «globalen Dorf» miteinander verbunden sind wie noch nie, gibt es auch mehr Möglichkeiten, effizient zu helfen und der Weltarmut ein Ende zu bereiten. Wir sind als Privatpersonen dazu aufgerufen. Dies, weil auch die Schweiz das von der Uno beschlossene Entwicklungshilfe-Soll — 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens — mit knapp 0,4 Prozent immer noch nicht erfüllt.
Singers Buch kommt zur rechten Zeit. Mit dem Kasino-Kapitalismus hat auch der Hedonismus an Attraktivität eingebüsst — wer nur nach materiellem Genuss strebt, findet selten das Glück, das er sucht. Im Glücklichsein liegt aber auch für Singer der Sinn eines moralisch guten Lebens begründet. Der 63-jährige Professor für Bioethik lehrt am Center for Human Values der Princeton University.
Das Magazin: Herr Professor Singer, 27 000 Kinder sterben Tag für Tag an Hunger und Krankheit. Warum sollten wir ihr Leben retten?
PETER SINGER: Weil der Tod eines Kindes eine Tragödie ist. Wir sollten Mitgefühl haben. Sollten uns vorstellen, wie es ist, das eigene Kind zu verlieren. Wie es ist, wenn man ein Kind ist, krank und im Sterben liegend.
Das Magazin: Viele dieser Kinder würden auch sonst nie ein gutes Leben führen können.
SINGER: Ein Kind, das an Durchfall zu sterben droht, hat nicht ein so miserables Leben, dass es besser wäre, man würde es nicht retten. Es ist falsch zu glauben, ein Leben in Armut sei so elend, dass es nicht der Rettung wert ist.
Das Magazin: Sie spenden seit Jahrzehnten einen wachsenden Teil Ihres Einkommens für die Armen, mittlerweile ein Viertel, wenn ich richtig orientiert bin.
SINGER: Etwas mehr.
Das Magazin: Geben Sie Obdachlosen etwas, welche Sie auf der Strasse anbetteln?
SINGER: Im Allgemeinen nicht. Ich kaufe ihnen etwas zu essen, wenn sie danach fragen. Ich gebe kein Geld, weil ich denke, die geben das im Spirituosenladen aus. Das steigert nur dessen Profite und tut ihnen selber nicht gut.
Das Magazin: Kritiker argumentieren, Entwicklungshilfe bewirke dasselbe wie Bargeld für Alkoholiker: Sie schade mehr, als sie nütze, indem sie abhängig mache. Martin Wolf, der Chefökonom der «Financial Times», meint, es sei sinnvoller, die Handelsbarrieren wegzuräumen und mit der Globalisierung Ernst zu machen, sodass die armen Länder ihre Produkte auf den Weltmarkt bringen können.
SINGER: Wachstum um des Wachstums willen ist sinnlos. Es geht um das Ziel, um dessentwillen man Wachstum fördern will. Und das ist es, Leben zu retten, das Elend zu lindern und die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen.
Das Magazin: Der Ökonom William Easterly beklagt, der Westen habe in den vergangenen fünf Jahrzehnten 2,3 Billionen Dollar für Entwicklungshilfe ausgegeben und es immer noch nicht fertig¬gebracht, Kinder mit Medikamenten ge¬gen Malaria zu versorgen, die 12 Cent kosten. Was die Malaria-Todesfälle halbieren würde.»
SINGER: Die Zahl sieht beeindruckend aus, ist es aber nicht. Rechnet man das herunter, sind es 0,3 Prozent des Totaleinkommens der begüterten Nationen, 30 Cent auf 100 Dollar. Ein grosser Teil dieser Hilfe wurde weniger für humanitäre als für politische und militärische Zwecke verwendet. Hunderte von Millionen Dollar, die in Easterlys Zahl inbegriffen sind, gingen beispielsweise auf die Schweizer Bankkonten des kongolesischen Diktators Mobutu Sese Seko.
Das Magazin: Leben denn nicht jetzt schon zu viele Menschen auf unserem Planeten? Werden am Ende nicht noch mehr an Hunger sterben, wenn wir die Ärmsten retten? Weil es keine Nahrung, kein Wasser für so viele gibt?
SINGER: Wir verfüttern jährlich 756 Millionen Tonnen Getreide an Tiere zur Fleischgewinnung. Das macht für die 1,4 Milliarden Menschen, die in extremer Armut leben, drei Pfund pro Tag. Wir produzieren genug Nahrung, um drei Milliarden Menschen mehr zu ernähren, als heute auf der Erde sind. Die einzige Gefahr, die uns droht, ist ein Massenvegetarismus.
Das Magazin: Wogegen Sie als Veganer natürlich nichts hätten.
SINGER: (Lacht) Nein. Überdies ist die hohe Geburtenrate auch das Resultat der hohen Säuglingssterblichkeit. Wenn die Kinder sterben, haben die Leute noch mehr Kinder. Geben wir ihnen das Vertrauen, dass sie überleben, werden sie weniger haben.
Das Magazin: Müssten Sie sich als Utilitarist nicht fragen, womit man die beste Wirkung erzielt? Gibt jemand, der bereit ist, Geld zu spenden, es nicht besser aus, wenn er Arbeitsplätze schafft, zum Beispiel mittels Mikrofinanzierung? Niedrige Darlehen an Kleinunternehmen, die Menschen helfen, sich aus der Armut hochzuarbeiten?
SINGER: Mikrofinanzierung ist ein Weg, Armut zu reduzieren. Wenn jemand sagt, ich investiere in Afrika, statt mein Geld einer Hilfsorganisation zu geben — grossartig!
Das Magazin: Doch Sie halten es nicht für den besseren Weg, Leben zu retten?
SINGER:Für mich ist es eine empirische Frage, ob man die Wirtschaft sinnvoll mit den Mitteln fördern kann, die uns zur Verfügung stehen. Oder ob wir nicht lieber direkt den Ärmsten helfen und sie mit den Mitteln für eine gute Gesundheitsversorgung und bessere Ernährung ausstatten. Man investiert seine Energie da, wo man das Gefühl hat, am meisten erreichen zu können. Den «komparativen Vorteil» geniesst, wie Geschäftsleute sagen.
Das Magazin: In Ihrem Buch erörtern Sie eines der unter Ethikern beliebten Fallbeispiele: Ein Kleinkind steht in einem knietiefen Teich. Weder Eltern noch Babysitter sind zu sehen. Strauchelt es, droht es zu ertrinken. Wird man es retten, auch wenn man dabei seine neuen Schuhe ruiniert, den Anzug verschmutzt und zu spät zur Arbeit kommt? Wer das als seine Pflicht ansieht, sagen Sie, sei ebenso verpflichtet, ein Kind in Afrika zu retten, das ohne Hilfe sterben wird. Aber das ist doch nicht dasselbe?
SINGER: Natürlich nicht. Doch ist der Unterschied moralisch relevant? Er ist psychologischer Natur. Unser moralisches Urteilsvermögen sollte das nicht beeinträchtigen.
Das Magazin: Ist das Argument nicht vielmehr ein logisches — nämlich, dass die Distanz nicht zählt? Die Tatsache irrelevant ist, dass es sich um jemanden handelt, den wir weder sehen noch kennen, der in einem Land lebt, in dem wir nie waren, und an dessen Schicksal wir nicht schuld sind?
SINGER: Es ist keine Sache der reinen Logik. Ich frage, ob die Distanz wirklich von Bedeutung ist. Ich meine, sie ist es nicht. Wenn ein Kind in Ghana an den Masern stirbt, weil die Eltern kein Geld für den Arzt und für Medikamente haben, ist es nicht ein Opfer der Krankheit, sondern der Armut. Daran sterben jährlich gegen zehn Millionen Kinder unter fünf Jahren, eine ungeheure Tragödie. Wir wissen davon, und es steht in unserer Macht, sie zu verhindern.
Das Magazin: Offensichtlich sinddie meisten Leute weniger rational und mehr emotional, was solche Fragen betrifft. Sieht man ein Kind ertrinken, eilt man selbstverständlich zu Hilfe. Hernach weiss man, dass man es gerettet hat. Spendet man Geld, hofft man, damit ein Kind zu retten, das einem unbekannt bleibt.
SINGER: Wenn man seriösen Organisationen Geld spendet, darf man darauf vertrauen, dass sie damit wirksame Hilfe leisten. Die Spenden kommen in einen Topf, mit dem Inhalt wird eine gewisse Anzahl Leben gerettet. Natürlich kann man nicht sagen: «Ich habe genau diese Person ge¬rettet.» Emotional macht das einen Unterschied, richtig.
Das Magazin: Nur emotional? Die Moral hat sich in Stämmen entwickelt, in kleinen Gruppen, Familien. Vielleicht gibt es so was wie eine absolute Moral nicht.
SINGER: Damit bin ich nicht einverstanden. Mit der evolutionären Herleitung der Ursprünge der Moral schon, aber nicht mit der Schlussfolgerung. Die Evolution erklärt die unterschiedlichen Gefühle, die wir gegenüber Individuen und Massen hegen, gegenüber Nahestehenden und Entfernten. Aber sie rechtfertigt diese Gefühle nicht. Denn wir haben auch die Vernunft entwickelt, die uns befähigt zu erkennen, dass die moralischen Urteile, die wir fällen, implizit universell sind.
Das Magazin: Die kulturelle Evolution erlaubt uns, die Grenzen unserer soziobiologischen Konditionierung zu überwinden?
SINGER: Genau. Und das ist kein neues Argument. Das geht auf Kants Ideen zu¬rück über den Menschen als rationales Wesen.
Das Magazin: So rational ist er in der Praxis nicht. Wie sagte Stalin: Der Tod eines Menschen ist eine Tragödie, der Tod von Millionen Statistik.
SINGER: Psychologisch, ja. Wir bringen eher Gefühle auf für das «identifizierbare Opfer» als für das «statistische». Wir reagieren mehr auf Bilder und Geschichten, die unsere Emotionen wecken, als auf abstrakte Tatsachen, auf Worte und Zahlen.
Das Magazin: Viele fühlen sich machtlos, sagen, Entwicklungshilfe sei ein Fass ohne Boden, und man könne ja doch nicht allen helfen.
SINGER: Der Sinn der Hilfe wird nicht vermindert dadurch, dass es mehr Bedürftige gibt, denen man nicht helfen kann, als solche, denen man helfen kann.
Das Magazin: Wie könnte man die psychologischen Barrieren abbauen, die uns hindern, Unbekannten zu helfen?
SINGER: Oft braucht es nur einen kleinen Schubs. Wie beim Organspenden. In Deutschland sind lediglich zwölf Prozent der Bevölkerung als Organspender registriert, in Österreich 99,98 Prozent. Der Grund ist einfach: In Österreich ist man automatisch Organspender. Will man es nicht sein, muss man dies ausdrücklich kundtun. In Deutschland ist es genau umgekehrt.
Das Magazin: Also eine Art obligatorische Entwicklungshilfe, ein Lohnabzug oder eine Steuer?
SINGER: Manche Banker machen das — Bear Stearns etwa, bevor das Institut in der Finanzkrise an JPMorgan ging. Rund tausend der höchstbezahlten Angestellten waren verpflichtet, vier Prozent ihres Einkommens und Bonus an Non-Profit-Organisationen zu spenden. Sie mussten ihre Steuererklärung vorlegen zum Beweis, dass sie es getan hatten. Es war Teil der Unternehmenskultur — 2006 gingen so 45 Millionen Dollar an die Wohlfahrt. Goldman Sachs macht etwas Ähnliches, Google ebenso.
Das Magazin: So werden Banker plötzlich zu Vorbildern.
SINGER: Wenn aus Grossunternehmen, Universitäten und anderen Institutionen ein Prozent der Saläre Organisationen gespendet würden, welche die Weltarmut bekämpfen, würde das nicht nur Milliarden von Dollar bereitstellen. Es würde auch die Angestellten zu mehr Generosität bewegen. Wer nicht mitmachen will, muss nicht. Doch es sollte als normales Verhalten gelten, dass man spendet — und nicht, dass man es nicht tut.
Das Magazin: Wie viel sollte denn jeder von uns geben?
SINGER: Ein Prozent im Mindesten. Fünf Prozent diejenigen, die finanziell auf gutem Fuss stehen. Weit mehr jene, die reich sind.
Das Magazin: Was nach Ihnen hiesse, ein moralisch gutes Leben zu führen.
SINGER: Ja. Wir tun das nicht, solange wir nicht viel mehr geben, als die meisten für realistisch halten. Wer Mineralwasser in der Flasche kauft, obwohl das Wasser, das aus dem Hahn kommt, sauber ist, hat Geld übrig, das er nicht wirklich braucht. Über eine Milliarde Menschen muss mit weniger pro Tag leben, als eine einzige Flasche Mineralwasser kostet.
Das Magazin: Sind die Menschen altruistisch?
SINGER: Stärker, als sie glauben. Zwar gibt es viele wie Molières «Tartuffe», die vorgeben, altruistisch zu sein, in Wirklichkeit aber scheinheilig sind. Doch der Soziologe Robert Wuthnow hat herausgefunden, dass auch das Gegenteil sehr häufig ist — Leute, die Freiwilligenarbeit leisten, sagen, «Das gibt mir etwas zu tun» oder «Es bringt mich aus dem Haus». Es widerstrebt ihnen zu sagen, «Ich will helfen».
Das Magazin: Stecken nicht oft egoistische Motive dahinter?
SINGER:Das ist doch nebensächlich. Es gibt eine schöne Anekdote über den Philosophen Thomas Hobbes, der berühmt ist für seine These, Menschen handelten ausschliesslich aus Selbstinteresse. Ertappt dabei, wie er einem Bettler eine Münze gab, verteidigte er sich damit, dass er es nur um seiner Freude willen tue, den armen Mann glücklich zu sehen. Es wäre schön, wenn es mehr Leute auf der Welt gäbe, die es glücklich macht, andere glücklich zu sehen.
Das Magazin: Alle Weltreligionen legen grosses Gewicht auf die moralische Verpflichtung, den Armen zu helfen. Im Christentum beispielsweise ist es Voraussetzung für die Erlösung, ein Mittel, das ewige Leben zu erlangen und in den Himmel zu kommen. Das ist ein starkes Argument.
SINGER: Sicher, wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt. Christen haben wohl etwas mehr gegeben als Nicht-Christen, aber nicht so viel, wie man erwarten würde, wenn man in den Evangelien nachliest, was Jesus fordert.
Das Magazin: In den meisten entwickelten Ländern, mit der Ausnahme Amerikas, hat die Religion an Einfluss verloren. Damit entfällt ein Antrieb, Bedürftigen zu helfen — gerade bei denen, die es vermöchten.
SINGER: Wir sollten von einer neuen, säkularen Grundlage starten. Historisch könnte sich das als erfolgreicher erweisen.
Das Magazin: Wie denn?
SINGER: Vielleicht mittels moderner Technologie, die uns näher an die Leute in der sich entwickelnden Welt bringt. Sodass wir sie besser kennenlernen, mit ihnen kommunizieren können, sie auf dem Computerschirm sehen. Das kann Mitgefühl wecken.
Das Magazin: Eine Art von Facebook-Freundschaft?
SINGER: Ja.
Das Magazin: Sie selber sind ein Ungläubiger, verlangen jedoch nicht von anderen, sich zum Atheismus zu bekehren, wie etwa Richard Dawkins.
SINGER:
Nein. Mit Richard Stearns, dem Präsidenten von World Vision, der ein Evangelikaler ist, arbeite ich zusammen. Sein Buch «The Hole In Our Gospel» handelt davon, was Gott von uns erwartet, für die Armen zu tun. Auch mit Rick Warren bin ich in Kontakt, dem Pastor der Saddleback Church, einer Mega-Kirche. Ich arbeite gerne mit diesen Leuten für die gemeinsame Sache.
Das Magazin: Sie sind ein Politiker.
SINGER: Mag sein.
Das Magazin: Sie scheren sich auch nicht um Motive. Ob Celebrities wie Angelina Jolie oder die Finanzhaie von Goldman Sachs — solange die Leute spenden, sind sie für Sie in Ordnung.
SINGER: Ja, ich möchte da nicht zu tief bohren.
Das Magazin: Aber gerade die Banker stürzten doch viele ins Elend.
SINGER: Das verurteile ich. Wir solltennicht zulassen, dass sie sich von ihren Übeltaten reinwaschen, indem sie spenden. Aber wenn sie spenden, ohne es als Publicity zu nutzen, sollten wir das Geld nehmen, um damit Gutes zu tun.
Das Magazin: Celebrities sind aber auf Publicity aus.
SINGER: Wir vermuten zu rasch eigennützige Motive. Angelina Jolie und Madonna unterstützen beide Organisationen, die Armen helfen, und sie machen das gut.
Das Magazin: Was ist mit den Adoptionen?
SINGER: Wenn Madonnas Adoption des einjährigen David, den sie in einem Waisenhaus in Malawi fand, alles wäre, was sie tut, wäre es nicht gut. Das hilft die Armut nicht zu beseitigen, aus der diese Kinder kommen. Aber sie tut mehr. Sie hilft Waisenkindern im Land, fördert die Schulbildung von Mädchen und sammelt Geld für Jeffrey Sachs’ Millennium Villages Project. Auch Angelina Jolie macht das. Das ist mehr, als die meisten Film- und Popstars tun, und dafür sollte man sie loben.
Das Magazin: Und andere Reiche tadeln.
SINGER: Manche sicher, ja. Die extravaganten Milliardäre wie der Russe Roman Abramowitsch, der Amerikaner Larry Ellison, die Hoheiten aus Dubai und Saudiarabien, die miteinander wetteifern, wer die grösste Jacht hat. Es ist Zeit, dass wir aufhören, das als törichte, aber harmlose Zurschaustellung von Eitelkeiten zu betrachten. Wir brauchen eine ethische Kultur, welche die Konsequenzen dessen in Rechnung stellt, was jeder von uns für die Welt tut, in der wir leben. Und die dementsprechend urteilt. Was diese Leute machen, zeugt von einem schreienden Mangel an Sorge für andere.
Das Magazin: Die grössten Wohltäter der Welt sind Bill Gates und Warren Buffett. Gates hat 29 Milliarden Dollar in seine Stiftung gesteckt, für die er jetzt vollamtlich arbeitet, Buffett hat 31 Milliarden für wohltätige Zwecke zugesichert. Beide sind Amerikaner, wie viele andere Philanthropen — etwa die Mitglieder der «50% League», welche die Hälfte ihres Einkommens und Vermögens weggeben. Warum ist das so?
SINGER: Das geht zurück auf eine amerikanische Tradition, auf Philanthropen wie Carnegie und Rockefeller. Doch es gibt nun auch in Asien und Indien grosse Spender. In Europa ist man eher der Meinung, Entwicklungshilfe sei Sache des Staates.
Das Magazin: Wie definieren Sie Luxus? Schon allein die Tatsache, dass wir hier in Ihrem Büro in Princeton sitzen, ist ein Luxus im Vergleich zu den Lebensumständen der meisten Menschen.
SINGER: Gewiss. Doch was Luxus ist, steht im Verhältnis zur Frage, was man braucht, um zu funktionieren. Ein Büro zu haben, mit bequemen Stühlen, einem Schreibtisch, Computer und Telefon, ist für mich kein Luxus, weil ich das für meine Arbeit benötige. Luxus ist, was darüber hinausgeht. An gewissen Orten braucht man ein Auto, um herumzukommen. Hier habe ich keines, in Australien hatte ich eines.
Das Magazin: Aber keinen Hummer…
SINGER: …richtig, kein Auto, das teuer ist und den Planeten noch mehr verschmutzt. Die Frage ist: Gibt man Geld aus für Dinge, die nicht die Grundbedürfnisse decken, die einen befähigen, effektiver zu funktionieren?
Das Magazin: Geben Sie Geld aus für so etwas, also für Luxus?
SINGER: Ja.
Das Magazin: Wofür?
SINGER: Für Reisen zu den Kindern und Enkeln in Australien, die wir jedes Jahr besuchen. Streng genommen ist das nicht nötig. Aber ich hasse die Vorstellung, für meine Enkel ein Fremder zu sein, jemand, den sie nicht kennen. Wir gehen auch in die Ferien, gelegentlich in Restaurants, ins Theater.
Das Magazin: Sie haben das New Yorker Metropolitan Museum of Art kritisiert, weil es für 45 Millionen Dollar ein Gemälde gekauft hat, eine kleine Madonna mit Kind des italienischen Meisters Duccio.
SINGER: Mit dem Geld hätte man 45 000 Leben retten können — ein volles Fussballstadion. Wie kann ein Bild, wie schön und historisch bedeutsam es auch immer ist, wertvoller sein als das?
Das Magazin: Ist Kunst denn Luxus?
SINGER: Nicht immer. Doch die Prei¬se, die auf dem Kunstmarkt bezahlt werden für Werke, die historisch bedeutend oder in Mode sind — das ist Luxus. Wir sollten nicht Geld verschwenden für so etwas in einer Welt, in der jedes Jahr achtzehn Millionen Menschen unnötig sterben. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind das mehr als alle Toten aller Kriege und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zusammen. Die beiden Weltkriege, Hitlers, Stalins und Maos Opfer — was hätten wir dafür gegeben, diese Katastrophen zu verhindern!
Das Magazin: Kaufen Sie selber Kunst?
SINGER: Wenig. Wir haben ein paar australische Kunstwerke von Eingeborenen, aber nichts wirklich Teures.
Das Magazin: Ihr zweites ethisches Fallbeispiel stellt einen Mann vor die Frage, ob er ein ihm unbekanntes Kind, das von einem herannahenden, führerlosen Zug erfasst zu werden droht, retten soll im Wissen, dass er dabei sein Lieblingsauto, einen Bugatti, verliert. Es steht auf dem Parkplatz hinter dem Puffer des Abstellgleises, auf das er den Zug umlenken könnte, um das auf dem Hauptgleis spielende Kind ausser Gefahr zu bringen. Das Auto, ein Oldtimer, macht ihm nicht nur viel Freude, sondern ist auch seine Altersversicherung — er kann es teuer verkaufen, wenn er Geld braucht. Sie meinen, er sollte es dem Kind zuliebe opfern.
SINGER: Ja.
Das Magazin: Als Utilitarist müsste man aber sagen, er sollte den Bugatti retten und ihn dann verkaufen, um mit dem Erlös weit mehr Kinderleben retten zu können als nur das eine.
SINGER: (Lacht) Ja, das ist ein Argument.
Das Magazin: Bei einem Museumsbrand, sagen Sie, würde man nicht zögern bei der Wahl, ob man ein Kind oder ein Gemälde — zum Beispiel die Mona Lisa — retten sollte. Angesichts der Tatsache, dass tagtäglich so viele sterben — was wäre wirklich der grössere Verlust für die Menschheit, das einzigartige Gemälde oder das Leben irgendeines Kindes?
SINGER: Das Leben des Kindes. Dass wir die Mona Lisa haben und sie wertschätzen — schön und gut. Aber wäre die Welt wirklich schlechter, wenn wir sie nicht hätten? Nie gehabt hätten? Was für den Bugatti gilt, gilt vielleicht auch für die Mona Lisa: Der Louvre sollte sie verkaufen und das Geld gebrauchen, um Leben zu retten.
Das Magazin: Das ist doch ein Totschlag-Argument. Man kann es auf alles anwenden. Zum Beispiel Weltraumforschung — ist das ein Luxus, den wir uns nicht leisten sollten?
SINGER: Ja, das finde ich. Ich bin zwar neugierig, wie das Universum aussieht, aber ich denke, wir sollten zuerst das Problem der Weltarmut lösen.
Das Magazin: Das Bild unseres Planeten, aufgenommen aus dem Weltall, hat die Einsicht beflügelt, dass wir auf einem Raumschiff leben, dass wir nichts anderes haben als diese Erde, und dass wir dafür Sorge tragen müssen — alle miteinander. Vielleicht war das die Milliarden von Dollar wert?
SINGER: Ich weiss nicht. Sicher, das Bild ist ein Symbol geworden. Aber das war nicht das Ziel des Projektes. Wenn es wirklich so viel bewirkt hat, dass es die Ausgaben rechtfertigt, dann war es Glück.
Das Magazin: Ihre Kampagne, denArmen der Welt zu helfen, starteten Sie 1972 mit dem fulminanten Essay «Famine, Affluence, and Morality». Gibt es grundlegend neue Erkenntnisse bei dem Thema?
SINGER: Ja, in der psychologischen Forschung, zur Frage, unter welchen Umständen Leute eher geneigt sind zu spenden. Für mich persönlich war das sehr erhellend. Es half mir erklären, warum das Argument vom Kind im Teich so gut funktioniert. Es hat alle Faktoren, die bewirken, dass Leute helfen: eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht, die persönliche Verantwortlichkeit, aus der man sich nicht davonstehlen kann, die direkte Hilfeleistung, deren Resultat man sieht. Während die Hungersituation genau das Gegenteil ist: diese grosse, gesichtslose Masse, die Meinung, andere könnten helfen, das Problem des Geldes… Ich erkannte, dass logische Argumente nicht genügen, sondern dass wir auch die psychologischen Mechanismen entwickeln müssen, die Hemmnisse zu überwinden.
Das Magazin:
Mir scheint, Sie sind ohnehin ein bisschen milder geworden, was die Anerkennung der Grenzen der Rationalität betrifft.
SINGER: Mag sein. Das kam, als ich das Material aus der Psychologie studierte.
Das Magazin: Um nochmals auf Hobbes zurückzukommen: Vielleicht liefert er, der Philosoph des Egoismus, doch das stärkste Argument — Geben macht glücklich?
SINGER: Das lehrten schon Sokrates und Platon. Auch Epikur, den man als den Philosophen des Genusses kennt, sagte das, und Studien bestätigen es. Leute, die Geld für wohltätige Zwecke spenden oder Freiwilligenarbeit leisten, bezeichnen sich viel häufiger als «sehr glücklich» als solche, die das nicht tun.
Das Magazin: Das sind blosse Meinungsäusserungen.
SINGER: Die Verbindung zwischen Geben und Glücklichsein ist auch experimentell bewiesen. Probanden wurden je hundert Dollar gegeben, von denen sie, wenn sie wollten, einen Teil für die Lebensmittelhilfe für Arme spenden konnten. Sie wurden informiert, niemand, nicht einmal die Experimentatoren, wüssten, wer gespendet habe und wer nicht. Während des Experimentes wurde die Gehirnaktivität mittels Magnetresonanztomografie untersucht. Bei denen, welche spendeten, waren die «Belohnungszentren» aktiv, die Teile des Gehirns, die reagieren, wenn man etwas Süsses isst oder Geld bekommt. Das «warme Glühen», von dem hilfsbereite Menschen sprechen, hat also eine reale Basis im Hirn.
Das Magazin: Womit die Vernunft wieder in ihr Recht gesetzt wäre.
SINGER:
(Lacht) Ja.
Die deutsche Ausgabe von «The Life You Can Save» ist eben erschienen.
Peter Singer, «Leben retten. Wie sich die Armut abschaffen lässt — und warum wir es nicht tun»,Arche-Verlag, Zürich 2010
Peter Haffner ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins». Er lebt in Kalifornien.
p.haffner@sbcglobal.net
Dienstag, März 02, 2010
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer
Blick Online - 02.03.2010
Frank A. Meyer
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer
Hans-Hermann Tiedje, ehemaliger Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, spricht in einem Kommentar für eben jenes Blatt vollmundig im Namen aller Deutschen: «Wir lieben dieses kleine, kämpferische, tüchtige, leider nicht immer richtig Deutsch sprechende, aber dennoch kulturell hochstehende, inzwischen sogar recht gut Fussball spielende Bergvolk.»
Das ist das eine Bild der Schweiz.
Das andere malt die Illustrierte «Stern». Sie schildert die Schweizer als skrupellose «Alpenpiraten», für die eine Abschaffung des Bankgeheimnisses «eine existenzielle Bedrohung» bedeuten würde, weil sie ja nicht allein «von Chalet-Romantik, Schokolade und Präzisionsuhren» leben möchten.
Die Schweiz hat 330 Banken, 20 davon akquirieren vorwiegend Kunden im Ausland, betreiben mithin das Geschäft der Beihilfe zum Steuerbetrug.
Die Schweiz hat 290 000 Unternehmen. Das Kreditgewerbe erwirtschaftete vor der Finanzkrise neun Prozent des Bruttoinlandprodukts, aktuell sind es noch sieben. Um 0,5 bis ein Prozent dürfte der Anteil schrumpfen, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbetrüger liquidiert wird.
Die Finanzinstitute beschäftigten vor der Krise etwa 140 000 Menschen, 3,2 Prozent aller Arbeitsplätze.
Die Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie gibt....
Blick Online - 02.03.2010
Frank A. Meyer
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer
Hans-Hermann Tiedje, ehemaliger Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, spricht in einem Kommentar für eben jenes Blatt vollmundig im Namen aller Deutschen: «Wir lieben dieses kleine, kämpferische, tüchtige, leider nicht immer richtig Deutsch sprechende, aber dennoch kulturell hochstehende, inzwischen sogar recht gut Fussball spielende Bergvolk.»
Das ist das eine Bild der Schweiz.
Das andere malt die Illustrierte «Stern». Sie schildert die Schweizer als skrupellose «Alpenpiraten», für die eine Abschaffung des Bankgeheimnisses «eine existenzielle Bedrohung» bedeuten würde, weil sie ja nicht allein «von Chalet-Romantik, Schokolade und Präzisionsuhren» leben möchten.
Die Schweiz hat 330 Banken, 20 davon akquirieren vorwiegend Kunden im Ausland, betreiben mithin das Geschäft der Beihilfe zum Steuerbetrug.
Die Schweiz hat 290 000 Unternehmen. Das Kreditgewerbe erwirtschaftete vor der Finanzkrise neun Prozent des Bruttoinlandprodukts, aktuell sind es noch sieben. Um 0,5 bis ein Prozent dürfte der Anteil schrumpfen, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbetrüger liquidiert wird.
Die Finanzinstitute beschäftigten vor der Krise etwa 140 000 Menschen, 3,2 Prozent aller Arbeitsplätze.
Die Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie gibt 280 000 Menschen Arbeit, der Gross- und Einzelhandel 560 000, das Gesundheitswesen 540 000.
«Bergvolk»? «Alpenpiraten»?
Unter den 14 weltweit führenden Industrieländern ist die Schweiz im Rating der Hochtechnologie auf Rang 1 mit ihrem Maschinenbau, darunter Textil- und Werkzeugmaschinen, Automaten und Roboter; auf Rang 1 mit ihren wissenschaftlichen Präzisionsinstrumenten; auf Rang 1 mit ihrer Pharmaindustrie; auf Rang 2 mit ihrer Chemieproduktion.
Allein die Warenexporte der Schweiz pro Kopf der Bevölkerung betragen 26 000 Dollar. Deutschland exportiert pro Kopf für 18 000 Dollar, die USA für 4200 und China für 1700 Dollar. «Bergvolk»? «Alpenpiraten»?
Die Schweiz ist das kompetitivste aller Industrieländer, mit einer Facharbeiterschaft, deren Performance im Weltvergleich als unübertroffen gilt.
Auch Swissbanking, sofern es sich des Investment-Hütchenspiels enthält und auf Hehlerei mit Steuerfluchtgeldern verzichtet, ist Weltspitze: Notenbanken, Geschäftsbanken, multinationale Konzerne, Entwicklungsländer und Pensionskassen rund um den Globus schätzen es, ihre Kapitalien von Schweizer Banken verwalten zu lassen. Das alles muss einmal gesagt sein.
Gerade jetzt. Und gerade den Deutschen.
Es muss vor allem deshalb endlich einmal gesagt sein, weil die Schweiz über sich selbst das Allerdümmste erzählt. Gerade jetzt. Und gerade den Deutschen.
Angela Merkel erscheint in der Schweiz auf dem Titelbild einer rechtspopulistischen Wochenzeitung als peitschenbewehrte Reiterin des Schweizer Finanzministers Hans-Rudolf Merz, im Hintergrund streckt Wolfgang Schäuble den Kopf aus einem feldgrauen Panzer. Ist die Schweiz tatsächlich so verblödet?
Es macht leider ganz den Anschein: Die jungfreisinnige Partei, das Schweizer Pendant zu Deutschlands «Julis», publiziert ein «Wanted»-Plakat mit den Köpfen von Merkel und Schäuble. Politiker und Publizisten der rechtspopulistischen SVP, immerhin der grössten Schweizer Partei, diffamieren die Regierung in Berlin als kriminell und fordern die Verhaftung jedes deutschen Ministers, der es wagt, Schweizer Boden zu betreten.
Der helvetische Populist Christoph Blocher, seit Jahren Wortführer der äusseren Rechten, verunglimpft die Kanzlerin des Nachbarlandes: «Leider fehlt ihr das Unrechtsbewusstsein. Frau Merkel hat aufgrund ihrer Geschichte – sie stammt aus der DDR – ein anderes Verständnis vom Verhältnis Staat– Bürger.»
Den deutschen Medien behagt das Gelärm aus der Schweiz.
Sie führen das «Bergvolk» vor: zum Belächeln. Sie präsentieren die «Alpenpiraten»: zum Beschimpfen.
Die Schweiz ist das nicht. Ein Teil der Schweiz allerdings schon. Nämlich der kleine Teil des Landes, der sich in den vergangenen dreissig Jahren sukzessive der übrigen Schweiz und ihrer politischen Instanzen bemächtigt hat: die Bankenschweiz, die Spekulantenschweiz, die Geldschweiz.
Diese mächtige Minderheit verfolgt ein langfristiges Projekt: Das «Bergvolk» soll Statist spielen in einem Alpen-Monaco oder Alpen-Singapur, dem Wohlfühlresort für die Oligarchen einer unsicher gewordenen Welt. Wie im Zweiten Weltkrieg der Schweizer Heerführer General Henri Guisan das Réduit, seine Alpenfestung, in den Granit treiben liess, so träumen die Banker von einer Luxusfestung für die Reichen und Reichsten.
Teilweise ist der Bau schon fortgeschritten, virtuell und ganz konkret: durch Pauschalsteuern und Niedrigststeuern, durch Luxuswohnzonen, ja durch ganze Regionen, in denen das Leben nur noch für sehr gut Betuchte erschwinglich ist – von St. Moritz im Oberengadin über die Gold- und Silberküste am Zürichsee bis zu den grandiosen Gestaden des Genfersees.
Die weltweite Finanzkrise und der daraus folgende Druck auf das Bankgeheimnis haben die Vollendung dieser Monaco-Schweiz ins Stocken gebracht: Europa fordert auch von ihr europäische Fairness und europäischen Anstand.
Die Schweizer Politik lernt derzeit von Tag zu Tag, dass die globale Vernetzung des Landes nicht ohne globale Regeln funktioniert. Die Schweizer Bürger lernen derzeit von Tag zu Tag, das zu sein, was sie längst sind: Das «Bergvolk» ist ein Weltvolk. Ob es will oder nicht.
Frank A. Meyer
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer
Hans-Hermann Tiedje, ehemaliger Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, spricht in einem Kommentar für eben jenes Blatt vollmundig im Namen aller Deutschen: «Wir lieben dieses kleine, kämpferische, tüchtige, leider nicht immer richtig Deutsch sprechende, aber dennoch kulturell hochstehende, inzwischen sogar recht gut Fussball spielende Bergvolk.»
Das ist das eine Bild der Schweiz.
Das andere malt die Illustrierte «Stern». Sie schildert die Schweizer als skrupellose «Alpenpiraten», für die eine Abschaffung des Bankgeheimnisses «eine existenzielle Bedrohung» bedeuten würde, weil sie ja nicht allein «von Chalet-Romantik, Schokolade und Präzisionsuhren» leben möchten.
Die Schweiz hat 330 Banken, 20 davon akquirieren vorwiegend Kunden im Ausland, betreiben mithin das Geschäft der Beihilfe zum Steuerbetrug.
Die Schweiz hat 290 000 Unternehmen. Das Kreditgewerbe erwirtschaftete vor der Finanzkrise neun Prozent des Bruttoinlandprodukts, aktuell sind es noch sieben. Um 0,5 bis ein Prozent dürfte der Anteil schrumpfen, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbetrüger liquidiert wird.
Die Finanzinstitute beschäftigten vor der Krise etwa 140 000 Menschen, 3,2 Prozent aller Arbeitsplätze.
Die Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie gibt....
Blick Online - 02.03.2010
Frank A. Meyer
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer
Hans-Hermann Tiedje, ehemaliger Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, spricht in einem Kommentar für eben jenes Blatt vollmundig im Namen aller Deutschen: «Wir lieben dieses kleine, kämpferische, tüchtige, leider nicht immer richtig Deutsch sprechende, aber dennoch kulturell hochstehende, inzwischen sogar recht gut Fussball spielende Bergvolk.»
Das ist das eine Bild der Schweiz.
Das andere malt die Illustrierte «Stern». Sie schildert die Schweizer als skrupellose «Alpenpiraten», für die eine Abschaffung des Bankgeheimnisses «eine existenzielle Bedrohung» bedeuten würde, weil sie ja nicht allein «von Chalet-Romantik, Schokolade und Präzisionsuhren» leben möchten.
Die Schweiz hat 330 Banken, 20 davon akquirieren vorwiegend Kunden im Ausland, betreiben mithin das Geschäft der Beihilfe zum Steuerbetrug.
Die Schweiz hat 290 000 Unternehmen. Das Kreditgewerbe erwirtschaftete vor der Finanzkrise neun Prozent des Bruttoinlandprodukts, aktuell sind es noch sieben. Um 0,5 bis ein Prozent dürfte der Anteil schrumpfen, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbetrüger liquidiert wird.
Die Finanzinstitute beschäftigten vor der Krise etwa 140 000 Menschen, 3,2 Prozent aller Arbeitsplätze.
Die Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie gibt 280 000 Menschen Arbeit, der Gross- und Einzelhandel 560 000, das Gesundheitswesen 540 000.
«Bergvolk»? «Alpenpiraten»?
Unter den 14 weltweit führenden Industrieländern ist die Schweiz im Rating der Hochtechnologie auf Rang 1 mit ihrem Maschinenbau, darunter Textil- und Werkzeugmaschinen, Automaten und Roboter; auf Rang 1 mit ihren wissenschaftlichen Präzisionsinstrumenten; auf Rang 1 mit ihrer Pharmaindustrie; auf Rang 2 mit ihrer Chemieproduktion.
Allein die Warenexporte der Schweiz pro Kopf der Bevölkerung betragen 26 000 Dollar. Deutschland exportiert pro Kopf für 18 000 Dollar, die USA für 4200 und China für 1700 Dollar. «Bergvolk»? «Alpenpiraten»?
Die Schweiz ist das kompetitivste aller Industrieländer, mit einer Facharbeiterschaft, deren Performance im Weltvergleich als unübertroffen gilt.
Auch Swissbanking, sofern es sich des Investment-Hütchenspiels enthält und auf Hehlerei mit Steuerfluchtgeldern verzichtet, ist Weltspitze: Notenbanken, Geschäftsbanken, multinationale Konzerne, Entwicklungsländer und Pensionskassen rund um den Globus schätzen es, ihre Kapitalien von Schweizer Banken verwalten zu lassen. Das alles muss einmal gesagt sein.
Gerade jetzt. Und gerade den Deutschen.
Es muss vor allem deshalb endlich einmal gesagt sein, weil die Schweiz über sich selbst das Allerdümmste erzählt. Gerade jetzt. Und gerade den Deutschen.
Angela Merkel erscheint in der Schweiz auf dem Titelbild einer rechtspopulistischen Wochenzeitung als peitschenbewehrte Reiterin des Schweizer Finanzministers Hans-Rudolf Merz, im Hintergrund streckt Wolfgang Schäuble den Kopf aus einem feldgrauen Panzer. Ist die Schweiz tatsächlich so verblödet?
Es macht leider ganz den Anschein: Die jungfreisinnige Partei, das Schweizer Pendant zu Deutschlands «Julis», publiziert ein «Wanted»-Plakat mit den Köpfen von Merkel und Schäuble. Politiker und Publizisten der rechtspopulistischen SVP, immerhin der grössten Schweizer Partei, diffamieren die Regierung in Berlin als kriminell und fordern die Verhaftung jedes deutschen Ministers, der es wagt, Schweizer Boden zu betreten.
Der helvetische Populist Christoph Blocher, seit Jahren Wortführer der äusseren Rechten, verunglimpft die Kanzlerin des Nachbarlandes: «Leider fehlt ihr das Unrechtsbewusstsein. Frau Merkel hat aufgrund ihrer Geschichte – sie stammt aus der DDR – ein anderes Verständnis vom Verhältnis Staat– Bürger.»
Den deutschen Medien behagt das Gelärm aus der Schweiz.
Sie führen das «Bergvolk» vor: zum Belächeln. Sie präsentieren die «Alpenpiraten»: zum Beschimpfen.
Die Schweiz ist das nicht. Ein Teil der Schweiz allerdings schon. Nämlich der kleine Teil des Landes, der sich in den vergangenen dreissig Jahren sukzessive der übrigen Schweiz und ihrer politischen Instanzen bemächtigt hat: die Bankenschweiz, die Spekulantenschweiz, die Geldschweiz.
Diese mächtige Minderheit verfolgt ein langfristiges Projekt: Das «Bergvolk» soll Statist spielen in einem Alpen-Monaco oder Alpen-Singapur, dem Wohlfühlresort für die Oligarchen einer unsicher gewordenen Welt. Wie im Zweiten Weltkrieg der Schweizer Heerführer General Henri Guisan das Réduit, seine Alpenfestung, in den Granit treiben liess, so träumen die Banker von einer Luxusfestung für die Reichen und Reichsten.
Teilweise ist der Bau schon fortgeschritten, virtuell und ganz konkret: durch Pauschalsteuern und Niedrigststeuern, durch Luxuswohnzonen, ja durch ganze Regionen, in denen das Leben nur noch für sehr gut Betuchte erschwinglich ist – von St. Moritz im Oberengadin über die Gold- und Silberküste am Zürichsee bis zu den grandiosen Gestaden des Genfersees.
Die weltweite Finanzkrise und der daraus folgende Druck auf das Bankgeheimnis haben die Vollendung dieser Monaco-Schweiz ins Stocken gebracht: Europa fordert auch von ihr europäische Fairness und europäischen Anstand.
Die Schweizer Politik lernt derzeit von Tag zu Tag, dass die globale Vernetzung des Landes nicht ohne globale Regeln funktioniert. Die Schweizer Bürger lernen derzeit von Tag zu Tag, das zu sein, was sie längst sind: Das «Bergvolk» ist ein Weltvolk. Ob es will oder nicht.
Abonnieren
Posts (Atom)