Mittwoch, März 03, 2010

TA - Magazin: Ein gutes Leben für Alle

Das Magazin 27.02.2010
Ein gutes Leben für Alle
Was hindert uns daran, den sterbenden Kindern in Entwicklungsländern zu helfen? Was sollte jeder Einzelne gegen die Armut tun? Ein Gespräch mit dem umstrittenen Philosophen Peter Singer über Elend und Luxus und die Wiederkehr der Moral.

Peter Haffner

Der Kasino-Kapitalismus hat ausgespielt, Banker müssen sich ihrer Boni schämen, und was wirklich zählt im Leben, steht wieder hoch im Kurs: Zeit, an die Armen zu denken.

Der australische Philosoph Peter Singer hat seine Karriere darauf aufgebaut, unser Unwohlsein zu wecken. Sein erster Bestseller, «Animal Liberation», 1975, war ein Angriff auf den «Speziezismus»: Der Mensch kann nicht auf seinen Status als «Krone der Schöpfung» pochen, wenn er Tieren Leid zufügt oder sie tötet. Das Buch ist zur Bibel der Tierrechtsbewegung geworden und sorgt noch heute für erregte Debatten, wie auch Singers Positionen in der Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener oder der Legitimität der Folter im Fall des «Tickende-Zeitbombe-Szenarios». Der Sohn von Wiener Juden, dessen Grosseltern im Holocaust umkamen, ist bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz heftig attackiert und am Reden gehindert worden — vorab von Leuten, die seine Bücher nur in Form aus dem Zusammenhang gerissener Zitate kennen.

Peter Singer ist ein Moralist. Im Zentrum seines Denkens steht das Leiden, nicht nur das von Menschen, sondern das aller Lebewesen, die fähig sind, Glück und Schmerz zu empfinden. Als Vertreter des Utilitarismus beschäftigt ihn die Frage, mit welchen Mitteln man Leid am wirksamsten vermindern kann. Singers Schlussfolgerungen sind provokativ, weil sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand oft widersprechen. Sie zwingen uns dazu, unser moralisches Tun und Lassen zu überprüfen.

Singers neustes Buch heisst «The Life You Can Save». Der Philosoph zieht uns darin zur Verantwortung für das Leben und Sterben jener Menschen, die selbst die Opfer der Wirtschaftskrise in unseren Breiten reich und privilegiert erscheinen lassen. Wir sind, sagt er, nicht die, die wir zu sein glauben, weder unschuldig noch machtlos.

Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der Anteil der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, ist geringer als je zuvor. Und da Reich und Arm dank moderner Technik im «globalen Dorf» miteinander verbunden sind wie noch nie, gibt es auch mehr Möglichkeiten, effizient zu helfen und der Weltarmut ein Ende zu bereiten. Wir sind als Privatpersonen dazu aufgerufen. Dies, weil auch die Schweiz das von der Uno beschlossene Entwicklungshilfe-Soll — 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens — mit knapp 0,4 Prozent immer noch nicht erfüllt.

Singers Buch kommt zur rechten Zeit. Mit dem Kasino-Kapitalismus hat auch der Hedonismus an Attraktivität eingebüsst — wer nur nach materiellem Genuss strebt, findet selten das Glück, das er sucht. Im Glücklichsein liegt aber auch für Singer der Sinn eines moralisch guten Lebens begründet. Der 63-jährige Professor für Bioethik lehrt am Center for Human Values der Princeton University. ......



Das Magazin 27.02.2010
Ein gutes Leben für Alle
Was hindert uns daran, den sterbenden Kindern in Entwicklungsländern zu helfen? Was sollte jeder Einzelne gegen die Armut tun? Ein Gespräch mit dem umstrittenen Philosophen Peter Singer über Elend und Luxus und die Wiederkehr der Moral.

Peter Haffner

Der Kasino-Kapitalismus hat ausgespielt, Banker müssen sich ihrer Boni schämen, und was wirklich zählt im Leben, steht wieder hoch im Kurs: Zeit, an die Armen zu denken.

Der australische Philosoph Peter Singer hat seine Karriere darauf aufgebaut, unser Unwohlsein zu wecken. Sein erster Bestseller, «Animal Liberation», 1975, war ein Angriff auf den «Speziezismus»: Der Mensch kann nicht auf seinen Status als «Krone der Schöpfung» pochen, wenn er Tieren Leid zufügt oder sie tötet. Das Buch ist zur Bibel der Tierrechtsbewegung geworden und sorgt noch heute für erregte Debatten, wie auch Singers Positionen in der Frage der Sterbehilfe, des Schwangerschaftsabbruchs, der Tötung schwerstbehinderter Neugeborener oder der Legitimität der Folter im Fall des «Tickende-Zeitbombe-Szenarios». Der Sohn von Wiener Juden, dessen Grosseltern im Holocaust umkamen, ist bei Auftritten in Deutschland und der Schweiz heftig attackiert und am Reden gehindert worden — vorab von Leuten, die seine Bücher nur in Form aus dem Zusammenhang gerissener Zitate kennen.

Peter Singer ist ein Moralist. Im Zentrum seines Denkens steht das Leiden, nicht nur das von Menschen, sondern das aller Lebewesen, die fähig sind, Glück und Schmerz zu empfinden. Als Vertreter des Utilitarismus beschäftigt ihn die Frage, mit welchen Mitteln man Leid am wirksamsten vermindern kann. Singers Schlussfolgerungen sind provokativ, weil sie dem sogenannten gesunden Menschenverstand oft widersprechen. Sie zwingen uns dazu, unser moralisches Tun und Lassen zu überprüfen.

Singers neustes Buch heisst «The Life You Can Save». Der Philosoph zieht uns darin zur Verantwortung für das Leben und Sterben jener Menschen, die selbst die Opfer der Wirtschaftskrise in unseren Breiten reich und privilegiert erscheinen lassen. Wir sind, sagt er, nicht die, die wir zu sein glauben, weder unschuldig noch machtlos.

Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der Anteil der Menschen, die unter dem Existenzminimum leben, ist geringer als je zuvor. Und da Reich und Arm dank moderner Technik im «globalen Dorf» miteinander verbunden sind wie noch nie, gibt es auch mehr Möglichkeiten, effizient zu helfen und der Weltarmut ein Ende zu bereiten. Wir sind als Privatpersonen dazu aufgerufen. Dies, weil auch die Schweiz das von der Uno beschlossene Entwicklungshilfe-Soll — 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens — mit knapp 0,4 Prozent immer noch nicht erfüllt.

Singers Buch kommt zur rechten Zeit. Mit dem Kasino-Kapitalismus hat auch der Hedonismus an Attraktivität eingebüsst — wer nur nach materiellem Genuss strebt, findet selten das Glück, das er sucht. Im Glücklichsein liegt aber auch für Singer der Sinn eines moralisch guten Lebens begründet. Der 63-jährige Professor für Bioethik lehrt am Center for Human Values der Princeton University.

Das Magazin: Herr Professor Singer, 27 000 Kinder sterben Tag für Tag an Hunger und Krankheit. Warum sollten wir ihr Leben retten?
PETER SINGER: Weil der Tod eines Kindes eine Tragödie ist. Wir sollten Mitgefühl haben. Sollten uns vorstellen, wie es ist, das eigene Kind zu verlieren. Wie es ist, wenn man ein Kind ist, krank und im Sterben liegend.

Das Magazin: Viele dieser Kinder würden auch sonst nie ein gutes Leben führen können.
SINGER: Ein Kind, das an Durchfall zu sterben droht, hat nicht ein so miserables Leben, dass es besser wäre, man würde es nicht retten. Es ist falsch zu glauben, ein Leben in Armut sei so elend, dass es nicht der Rettung wert ist.

Das Magazin: Sie spenden seit Jahrzehnten einen wachsenden Teil Ihres Einkommens für die Armen, mittlerweile ein Viertel, wenn ich richtig orientiert bin.
SINGER: Etwas mehr.

Das Magazin: Geben Sie Obdachlosen etwas, welche Sie auf der Strasse anbetteln?
SINGER: Im Allgemeinen nicht. Ich kaufe ihnen etwas zu essen, wenn sie danach fragen. Ich gebe kein Geld, weil ich denke, die geben das im Spirituosenladen aus. Das steigert nur dessen Profite und tut ihnen selber nicht gut.

Das Magazin: Kritiker argumentieren, Entwicklungshilfe bewirke dasselbe wie Bargeld für Alkoholiker: Sie schade mehr, als sie nütze, indem sie abhängig mache. Martin Wolf, der Chefökonom der «Financial Times», meint, es sei sinnvoller, die Handelsbarrieren wegzuräumen und mit der Globalisierung Ernst zu machen, sodass die armen Länder ihre Produkte auf den Weltmarkt bringen können.
SINGER: Wachstum um des Wachstums willen ist sinnlos. Es geht um das Ziel, um dessentwillen man Wachstum fördern will. Und das ist es, Leben zu retten, das Elend zu lindern und die menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen.

Das Magazin: Der Ökonom William Easterly beklagt, der Westen habe in den vergangenen fünf Jahrzehnten 2,3 Billionen Dollar für Entwicklungshilfe ausgegeben und es immer noch nicht fertig¬gebracht, Kinder mit Medikamenten ge¬gen Malaria zu versorgen, die 12 Cent kosten. Was die Malaria-Todesfälle halbieren würde.»
SINGER: Die Zahl sieht beeindruckend aus, ist es aber nicht. Rechnet man das herunter, sind es 0,3 Prozent des Totaleinkommens der begüterten Nationen, 30 Cent auf 100 Dollar. Ein grosser Teil dieser Hilfe wurde weniger für humanitäre als für politische und militärische Zwecke verwendet. Hunderte von Millionen Dollar, die in Easterlys Zahl inbegriffen sind, gingen beispielsweise auf die Schweizer Bankkonten des kongolesischen Diktators Mobutu Sese Seko.

Das Magazin: Leben denn nicht jetzt schon zu viele Menschen auf unserem Planeten? Werden am Ende nicht noch mehr an Hunger sterben, wenn wir die Ärmsten retten? Weil es keine Nahrung, kein Wasser für so viele gibt?
SINGER: Wir verfüttern jährlich 756 Millionen Tonnen Getreide an Tiere zur Fleischgewinnung. Das macht für die 1,4 Milliarden Menschen, die in extremer Armut leben, drei Pfund pro Tag. Wir produzieren genug Nahrung, um drei Milliarden Menschen mehr zu ernähren, als heute auf der Erde sind. Die einzige Gefahr, die uns droht, ist ein Massenvegetarismus.

Das Magazin: Wogegen Sie als Veganer natürlich nichts hätten.
SINGER: (Lacht) Nein. Überdies ist die hohe Geburtenrate auch das Resultat der hohen Säuglingssterblichkeit. Wenn die Kinder sterben, haben die Leute noch mehr Kinder. Geben wir ihnen das Vertrauen, dass sie überleben, werden sie weniger haben.

Das Magazin: Müssten Sie sich als Utilitarist nicht fragen, womit man die beste Wirkung erzielt? Gibt jemand, der bereit ist, Geld zu spenden, es nicht besser aus, wenn er Arbeitsplätze schafft, zum Beispiel mittels Mikrofinanzierung? Niedrige Darlehen an Kleinunternehmen, die Menschen helfen, sich aus der Armut hochzuarbeiten?
SINGER: Mikrofinanzierung ist ein Weg, Armut zu reduzieren. Wenn jemand sagt, ich investiere in Afrika, statt mein Geld einer Hilfsorganisation zu geben — grossartig!

Das Magazin: Doch Sie halten es nicht für den besseren Weg, Leben zu retten?
SINGER:Für mich ist es eine empirische Frage, ob man die Wirtschaft sinnvoll mit den Mitteln fördern kann, die uns zur Verfügung stehen. Oder ob wir nicht lieber direkt den Ärmsten helfen und sie mit den Mitteln für eine gute Gesundheitsversorgung und bessere Ernährung ausstatten. Man investiert seine Energie da, wo man das Gefühl hat, am meisten erreichen zu können. Den «komparativen Vorteil» geniesst, wie Geschäftsleute sagen.

Das Magazin: In Ihrem Buch erörtern Sie eines der unter Ethikern beliebten Fallbeispiele: Ein Kleinkind steht in einem knietiefen Teich. Weder Eltern noch Babysitter sind zu sehen. Strauchelt es, droht es zu ertrinken. Wird man es retten, auch wenn man dabei seine neuen Schuhe ruiniert, den Anzug verschmutzt und zu spät zur Arbeit kommt? Wer das als seine Pflicht ansieht, sagen Sie, sei ebenso verpflichtet, ein Kind in Afrika zu retten, das ohne Hilfe sterben wird. Aber das ist doch nicht dasselbe?
SINGER: Natürlich nicht. Doch ist der Unterschied moralisch relevant? Er ist psychologischer Natur. Unser moralisches Urteilsvermögen sollte das nicht beeinträchtigen.

Das Magazin: Ist das Argument nicht vielmehr ein logisches — nämlich, dass die Distanz nicht zählt? Die Tatsache irrelevant ist, dass es sich um jemanden handelt, den wir weder sehen noch kennen, der in einem Land lebt, in dem wir nie waren, und an dessen Schicksal wir nicht schuld sind?
SINGER: Es ist keine Sache der reinen Logik. Ich frage, ob die Distanz wirklich von Bedeutung ist. Ich meine, sie ist es nicht. Wenn ein Kind in Ghana an den Masern stirbt, weil die Eltern kein Geld für den Arzt und für Medikamente haben, ist es nicht ein Opfer der Krankheit, sondern der Armut. Daran sterben jährlich gegen zehn Millionen Kinder unter fünf Jahren, eine ungeheure Tragödie. Wir wissen davon, und es steht in unserer Macht, sie zu verhindern.

Das Magazin: Offensichtlich sinddie meisten Leute weniger rational und mehr emotional, was solche Fragen betrifft. Sieht man ein Kind ertrinken, eilt man selbstverständlich zu Hilfe. Hernach weiss man, dass man es gerettet hat. Spendet man Geld, hofft man, damit ein Kind zu retten, das einem unbekannt bleibt.
SINGER: Wenn man seriösen Organisationen Geld spendet, darf man darauf vertrauen, dass sie damit wirksame Hilfe leisten. Die Spenden kommen in einen Topf, mit dem Inhalt wird eine gewisse Anzahl Leben gerettet. Natürlich kann man nicht sagen: «Ich habe genau diese Person ge¬rettet.» Emotional macht das einen Unterschied, richtig.

Das Magazin: Nur emotional? Die Moral hat sich in Stämmen entwickelt, in kleinen Gruppen, Familien. Vielleicht gibt es so was wie eine absolute Moral nicht.
SINGER: Damit bin ich nicht einverstanden. Mit der evolutionären Herleitung der Ursprünge der Moral schon, aber nicht mit der Schlussfolgerung. Die Evolution erklärt die unterschiedlichen Gefühle, die wir gegenüber Individuen und Massen hegen, gegenüber Nahestehenden und Entfernten. Aber sie rechtfertigt diese Gefühle nicht. Denn wir haben auch die Vernunft entwickelt, die uns befähigt zu erkennen, dass die moralischen Urteile, die wir fällen, implizit universell sind.

Das Magazin: Die kulturelle Evolution erlaubt uns, die Grenzen unserer soziobiologischen Konditionierung zu überwinden?
SINGER: Genau. Und das ist kein neues Argument. Das geht auf Kants Ideen zu¬rück über den Menschen als rationales Wesen.

Das Magazin: So rational ist er in der Praxis nicht. Wie sagte Stalin: Der Tod eines Menschen ist eine Tragödie, der Tod von Millionen Statistik.
SINGER: Psychologisch, ja. Wir bringen eher Gefühle auf für das «identifizierbare Opfer» als für das «statistische». Wir reagieren mehr auf Bilder und Geschichten, die unsere Emotionen wecken, als auf abstrakte Tatsachen, auf Worte und Zahlen.

Das Magazin: Viele fühlen sich machtlos, sagen, Entwicklungshilfe sei ein Fass ohne Boden, und man könne ja doch nicht allen helfen.
SINGER: Der Sinn der Hilfe wird nicht vermindert dadurch, dass es mehr Bedürftige gibt, denen man nicht helfen kann, als solche, denen man helfen kann.

Das Magazin: Wie könnte man die psychologischen Barrieren abbauen, die uns hindern, Unbekannten zu helfen?
SINGER: Oft braucht es nur einen kleinen Schubs. Wie beim Organspenden. In Deutschland sind lediglich zwölf Prozent der Bevölkerung als Organspender registriert, in Österreich 99,98 Prozent. Der Grund ist einfach: In Österreich ist man automatisch Organspender. Will man es nicht sein, muss man dies ausdrücklich kundtun. In Deutschland ist es genau umgekehrt.

Das Magazin: Also eine Art obligatorische Entwicklungshilfe, ein Lohnabzug oder eine Steuer?
SINGER: Manche Banker machen das — Bear Stearns etwa, bevor das Institut in der Finanzkrise an JPMorgan ging. Rund tausend der höchstbezahlten Angestellten waren verpflichtet, vier Prozent ihres Einkommens und Bonus an Non-Profit-Organisationen zu spenden. Sie mussten ihre Steuererklärung vorlegen zum Beweis, dass sie es getan hatten. Es war Teil der Unternehmenskultur — 2006 gingen so 45 Millionen Dollar an die Wohlfahrt. Goldman Sachs macht etwas Ähnliches, Google ebenso.

Das Magazin: So werden Banker plötzlich zu Vorbildern.
SINGER: Wenn aus Grossunternehmen, Universitäten und anderen Institutionen ein Prozent der Saläre Organisationen gespendet würden, welche die Weltarmut bekämpfen, würde das nicht nur Milliarden von Dollar bereitstellen. Es würde auch die Angestellten zu mehr Generosität bewegen. Wer nicht mitmachen will, muss nicht. Doch es sollte als normales Verhalten gelten, dass man spendet — und nicht, dass man es nicht tut.

Das Magazin: Wie viel sollte denn jeder von uns geben?
SINGER: Ein Prozent im Mindesten. Fünf Prozent diejenigen, die finanziell auf gutem Fuss stehen. Weit mehr jene, die reich sind.

Das Magazin: Was nach Ihnen hiesse, ein moralisch gutes Leben zu führen.
SINGER: Ja. Wir tun das nicht, solange wir nicht viel mehr geben, als die meisten für realistisch halten. Wer Mineralwasser in der Flasche kauft, obwohl das Wasser, das aus dem Hahn kommt, sauber ist, hat Geld übrig, das er nicht wirklich braucht. Über eine Milliarde Menschen muss mit weniger pro Tag leben, als eine einzige Flasche Mineralwasser kostet.

Das Magazin: Sind die Menschen altruistisch?
SINGER: Stärker, als sie glauben. Zwar gibt es viele wie Molières «Tartuffe», die vorgeben, altruistisch zu sein, in Wirklichkeit aber scheinheilig sind. Doch der Soziologe Robert Wuthnow hat herausgefunden, dass auch das Gegenteil sehr häufig ist — Leute, die Freiwilligenarbeit leisten, sagen, «Das gibt mir etwas zu tun» oder «Es bringt mich aus dem Haus». Es widerstrebt ihnen zu sagen, «Ich will helfen».

Das Magazin: Stecken nicht oft egoistische Motive dahinter?
SINGER:Das ist doch nebensächlich. Es gibt eine schöne Anekdote über den Philosophen Thomas Hobbes, der berühmt ist für seine These, Menschen handelten ausschliesslich aus Selbstinteresse. Ertappt dabei, wie er einem Bettler eine Münze gab, verteidigte er sich damit, dass er es nur um seiner Freude willen tue, den armen Mann glücklich zu sehen. Es wäre schön, wenn es mehr Leute auf der Welt gäbe, die es glücklich macht, andere glücklich zu sehen.

Das Magazin: Alle Weltreligionen legen grosses Gewicht auf die moralische Verpflichtung, den Armen zu helfen. Im Christentum beispielsweise ist es Voraussetzung für die Erlösung, ein Mittel, das ewige Leben zu erlangen und in den Himmel zu kommen. Das ist ein starkes Argument.
SINGER: Sicher, wenn man an ein Leben nach dem Tod glaubt. Christen haben wohl etwas mehr gegeben als Nicht-Christen, aber nicht so viel, wie man erwarten würde, wenn man in den Evangelien nachliest, was Jesus fordert.
Das Magazin: In den meisten entwickelten Ländern, mit der Ausnahme Amerikas, hat die Religion an Einfluss verloren. Damit entfällt ein Antrieb, Bedürftigen zu helfen — gerade bei denen, die es vermöchten.
SINGER: Wir sollten von einer neuen, säkularen Grundlage starten. Historisch könnte sich das als erfolgreicher erweisen.

Das Magazin: Wie denn?
SINGER: Vielleicht mittels moderner Technologie, die uns näher an die Leute in der sich entwickelnden Welt bringt. Sodass wir sie besser kennenlernen, mit ihnen kommunizieren können, sie auf dem Computerschirm sehen. Das kann Mitgefühl wecken.
Das Magazin: Eine Art von Facebook-Freundschaft?
SINGER: Ja.

Das Magazin: Sie selber sind ein Ungläubiger, verlangen jedoch nicht von anderen, sich zum Atheismus zu bekehren, wie etwa Richard Dawkins.
SINGER:
Nein. Mit Richard Stearns, dem Präsidenten von World Vision, der ein Evangelikaler ist, arbeite ich zusammen. Sein Buch «The Hole In Our Gospel» handelt davon, was Gott von uns erwartet, für die Armen zu tun. Auch mit Rick Warren bin ich in Kontakt, dem Pastor der Saddleback Church, einer Mega-Kirche. Ich arbeite gerne mit diesen Leuten für die gemeinsame Sache.

Das Magazin: Sie sind ein Politiker.
SINGER: Mag sein.

Das Magazin: Sie scheren sich auch nicht um Motive. Ob Celebrities wie Angelina Jolie oder die Finanzhaie von Goldman Sachs — solange die Leute spenden, sind sie für Sie in Ordnung.
SINGER: Ja, ich möchte da nicht zu tief bohren.

Das Magazin: Aber gerade die Banker stürzten doch viele ins Elend.
SINGER: Das verurteile ich. Wir solltennicht zulassen, dass sie sich von ihren Übeltaten reinwaschen, indem sie spenden. Aber wenn sie spenden, ohne es als Publicity zu nutzen, sollten wir das Geld nehmen, um damit Gutes zu tun.

Das Magazin: Celebrities sind aber auf Publicity aus.
SINGER: Wir vermuten zu rasch eigennützige Motive. Angelina Jolie und Madonna unterstützen beide Organisationen, die Armen helfen, und sie machen das gut.

Das Magazin: Was ist mit den Adoptionen?
SINGER: Wenn Madonnas Adoption des einjährigen David, den sie in einem Waisenhaus in Malawi fand, alles wäre, was sie tut, wäre es nicht gut. Das hilft die Armut nicht zu beseitigen, aus der diese Kinder kommen. Aber sie tut mehr. Sie hilft Waisenkindern im Land, fördert die Schulbildung von Mädchen und sammelt Geld für Jeffrey Sachs’ Millennium Villages Project. Auch Angelina Jolie macht das. Das ist mehr, als die meisten Film- und Popstars tun, und dafür sollte man sie loben.

Das Magazin: Und andere Reiche tadeln.
SINGER: Manche sicher, ja. Die extravaganten Milliardäre wie der Russe Roman Abramowitsch, der Amerikaner Larry Ellison, die Hoheiten aus Dubai und Saudiarabien, die miteinander wetteifern, wer die grösste Jacht hat. Es ist Zeit, dass wir aufhören, das als törichte, aber harmlose Zurschaustellung von Eitelkeiten zu betrachten. Wir brauchen eine ethische Kultur, welche die Konsequenzen dessen in Rechnung stellt, was jeder von uns für die Welt tut, in der wir leben. Und die dementsprechend urteilt. Was diese Leute machen, zeugt von einem schreienden Mangel an Sorge für andere.

Das Magazin: Die grössten Wohltäter der Welt sind Bill Gates und Warren Buffett. Gates hat 29 Milliarden Dollar in seine Stiftung gesteckt, für die er jetzt vollamtlich arbeitet, Buffett hat 31 Milliarden für wohltätige Zwecke zugesichert. Beide sind Amerikaner, wie viele andere Philanthropen — etwa die Mitglieder der «50% League», welche die Hälfte ihres Einkommens und Vermögens weggeben. Warum ist das so?
SINGER: Das geht zurück auf eine amerikanische Tradition, auf Philanthropen wie Carnegie und Rockefeller. Doch es gibt nun auch in Asien und Indien grosse Spender. In Europa ist man eher der Meinung, Entwicklungshilfe sei Sache des Staates.

Das Magazin: Wie definieren Sie Luxus? Schon allein die Tatsache, dass wir hier in Ihrem Büro in Princeton sitzen, ist ein Luxus im Vergleich zu den Lebensumständen der meisten Menschen.
SINGER: Gewiss. Doch was Luxus ist, steht im Verhältnis zur Frage, was man braucht, um zu funktionieren. Ein Büro zu haben, mit bequemen Stühlen, einem Schreibtisch, Computer und Telefon, ist für mich kein Luxus, weil ich das für meine Arbeit benötige. Luxus ist, was darüber hinausgeht. An gewissen Orten braucht man ein Auto, um herumzukommen. Hier habe ich keines, in Australien hatte ich eines.

Das Magazin: Aber keinen Hummer…
SINGER: …richtig, kein Auto, das teuer ist und den Planeten noch mehr verschmutzt. Die Frage ist: Gibt man Geld aus für Dinge, die nicht die Grundbedürfnisse decken, die einen befähigen, effektiver zu funktionieren?

Das Magazin: Geben Sie Geld aus für so etwas, also für Luxus?
SINGER: Ja.

Das Magazin: Wofür?
SINGER: Für Reisen zu den Kindern und Enkeln in Australien, die wir jedes Jahr besuchen. Streng genommen ist das nicht nötig. Aber ich hasse die Vorstellung, für meine Enkel ein Fremder zu sein, jemand, den sie nicht kennen. Wir gehen auch in die Ferien, gelegentlich in Restaurants, ins Theater.

Das Magazin: Sie haben das New Yorker Metropolitan Museum of Art kritisiert, weil es für 45 Millionen Dollar ein Gemälde gekauft hat, eine kleine Madonna mit Kind des italienischen Meisters Duccio.
SINGER: Mit dem Geld hätte man 45 000 Leben retten können — ein volles Fussballstadion. Wie kann ein Bild, wie schön und historisch bedeutsam es auch immer ist, wertvoller sein als das?

Das Magazin: Ist Kunst denn Luxus?
SINGER: Nicht immer. Doch die Prei¬se, die auf dem Kunstmarkt bezahlt werden für Werke, die historisch bedeutend oder in Mode sind — das ist Luxus. Wir sollten nicht Geld verschwenden für so etwas in einer Welt, in der jedes Jahr achtzehn Millionen Menschen unnötig sterben. In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind das mehr als alle Toten aller Kriege und Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zusammen. Die beiden Weltkriege, Hitlers, Stalins und Maos Opfer — was hätten wir dafür gegeben, diese Katastrophen zu verhindern!

Das Magazin: Kaufen Sie selber Kunst?
SINGER: Wenig. Wir haben ein paar australische Kunstwerke von Eingeborenen, aber nichts wirklich Teures.

Das Magazin: Ihr zweites ethisches Fallbeispiel stellt einen Mann vor die Frage, ob er ein ihm unbekanntes Kind, das von einem herannahenden, führerlosen Zug erfasst zu werden droht, retten soll im Wissen, dass er dabei sein Lieblingsauto, einen Bugatti, verliert. Es steht auf dem Parkplatz hinter dem Puffer des Abstellgleises, auf das er den Zug umlenken könnte, um das auf dem Hauptgleis spielende Kind ausser Gefahr zu bringen. Das Auto, ein Oldtimer, macht ihm nicht nur viel Freude, sondern ist auch seine Altersversicherung — er kann es teuer verkaufen, wenn er Geld braucht. Sie meinen, er sollte es dem Kind zuliebe opfern.
SINGER: Ja.

Das Magazin: Als Utilitarist müsste man aber sagen, er sollte den Bugatti retten und ihn dann verkaufen, um mit dem Erlös weit mehr Kinderleben retten zu können als nur das eine.
SINGER: (Lacht) Ja, das ist ein Argument.

Das Magazin: Bei einem Museumsbrand, sagen Sie, würde man nicht zögern bei der Wahl, ob man ein Kind oder ein Gemälde — zum Beispiel die Mona Lisa — retten sollte. Angesichts der Tatsache, dass tagtäglich so viele sterben — was wäre wirklich der grössere Verlust für die Menschheit, das einzigartige Gemälde oder das Leben irgendeines Kindes?
SINGER: Das Leben des Kindes. Dass wir die Mona Lisa haben und sie wertschätzen — schön und gut. Aber wäre die Welt wirklich schlechter, wenn wir sie nicht hätten? Nie gehabt hätten? Was für den Bugatti gilt, gilt vielleicht auch für die Mona Lisa: Der Louvre sollte sie verkaufen und das Geld gebrauchen, um Leben zu retten.

Das Magazin: Das ist doch ein Totschlag-Argument. Man kann es auf alles anwenden. Zum Beispiel Weltraumforschung — ist das ein Luxus, den wir uns nicht leisten sollten?
SINGER: Ja, das finde ich. Ich bin zwar neugierig, wie das Universum aussieht, aber ich denke, wir sollten zuerst das Problem der Weltarmut lösen.
Das Magazin: Das Bild unseres Planeten, aufgenommen aus dem Weltall, hat die Einsicht beflügelt, dass wir auf einem Raumschiff leben, dass wir nichts anderes haben als diese Erde, und dass wir dafür Sorge tragen müssen — alle miteinander. Vielleicht war das die Milliarden von Dollar wert?
SINGER: Ich weiss nicht. Sicher, das Bild ist ein Symbol geworden. Aber das war nicht das Ziel des Projektes. Wenn es wirklich so viel bewirkt hat, dass es die Ausgaben rechtfertigt, dann war es Glück.

Das Magazin: Ihre Kampagne, denArmen der Welt zu helfen, starteten Sie 1972 mit dem fulminanten Essay «Famine, Affluence, and Morality». Gibt es grundlegend neue Erkenntnisse bei dem Thema?
SINGER: Ja, in der psychologischen Forschung, zur Frage, unter welchen Umständen Leute eher geneigt sind zu spenden. Für mich persönlich war das sehr erhellend. Es half mir erklären, warum das Argument vom Kind im Teich so gut funktioniert. Es hat alle Faktoren, die bewirken, dass Leute helfen: eine Beziehung von Angesicht zu Angesicht, die persönliche Verantwortlichkeit, aus der man sich nicht davonstehlen kann, die direkte Hilfeleistung, deren Resultat man sieht. Während die Hungersituation genau das Gegenteil ist: diese grosse, gesichtslose Masse, die Meinung, andere könnten helfen, das Problem des Geldes… Ich erkannte, dass logische Argumente nicht genügen, sondern dass wir auch die psychologischen Mechanismen entwickeln müssen, die Hemmnisse zu überwinden.

Das Magazin:
Mir scheint, Sie sind ohnehin ein bisschen milder geworden, was die Anerkennung der Grenzen der Rationalität betrifft.
SINGER: Mag sein. Das kam, als ich das Material aus der Psychologie studierte.

Das Magazin: Um nochmals auf Hobbes zurückzukommen: Vielleicht liefert er, der Philosoph des Egoismus, doch das stärkste Argument — Geben macht glücklich?
SINGER: Das lehrten schon Sokrates und Platon. Auch Epikur, den man als den Philosophen des Genusses kennt, sagte das, und Studien bestätigen es. Leute, die Geld für wohltätige Zwecke spenden oder Freiwilligenarbeit leisten, bezeichnen sich viel häufiger als «sehr glücklich» als solche, die das nicht tun.

Das Magazin: Das sind blosse Meinungsäusserungen.
SINGER: Die Verbindung zwischen Geben und Glücklichsein ist auch experimentell bewiesen. Probanden wurden je hundert Dollar gegeben, von denen sie, wenn sie wollten, einen Teil für die Lebensmittelhilfe für Arme spenden konnten. Sie wurden informiert, niemand, nicht einmal die Experimentatoren, wüssten, wer gespendet habe und wer nicht. Während des Experimentes wurde die Gehirnaktivität mittels Magnetresonanztomografie untersucht. Bei denen, welche spendeten, waren die «Belohnungszentren» aktiv, die Teile des Gehirns, die reagieren, wenn man etwas Süsses isst oder Geld bekommt. Das «warme Glühen», von dem hilfsbereite Menschen sprechen, hat also eine reale Basis im Hirn.

Das Magazin: Womit die Vernunft wieder in ihr Recht gesetzt wäre.
SINGER:
(Lacht) Ja.

Die deutsche Ausgabe von «The Life You Can Save» ist eben erschienen.
Peter Singer, «Leben retten. Wie sich die Armut abschaffen lässt — und warum wir es nicht tun»,Arche-Verlag, Zürich 2010
Peter Haffner ist redaktioneller Mitarbeiter des «Magazins». Er lebt in Kalifornien.
p.haffner@sbcglobal.net

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