Dienstag, März 02, 2010

Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer

Blick Online - 02.03.2010
Frank A. Meyer
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer

Hans-Hermann Tiedje, ehemaliger Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, spricht in einem Kommentar für eben jenes Blatt vollmundig im Namen aller Deutschen: «Wir lieben dieses kleine, kämpferische, tüchtige, leider nicht immer richtig Deutsch sprechende, aber dennoch kulturell hochstehende, inzwischen sogar recht gut Fussball spielende Bergvolk.»

Das ist das eine Bild der Schweiz.

Das andere malt die Illustrierte «Stern». Sie schildert die Schweizer als skrupellose «Alpenpiraten», für die eine Abschaffung des Bankgeheimnisses «eine existenzielle Bedrohung» bedeuten würde, weil sie ja nicht allein «von Chalet-Romantik, Schokolade und Präzisionsuhren» leben möchten.

Die Schweiz hat 330 Banken, 20 davon akquirieren vorwiegend Kunden im Ausland, betreiben mithin das Geschäft der Beihilfe zum Steuerbetrug.

Die Schweiz hat 290 000 Unternehmen. Das Kreditgewerbe erwirtschaftete vor der Finanzkrise neun Prozent des Bruttoinlandprodukts, aktuell sind es noch sieben. Um 0,5 bis ein Prozent dürfte der Anteil schrumpfen, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbetrüger liquidiert wird.

Die Finanzinstitute beschäftigten vor der Krise etwa 140 000 Menschen, 3,2 Prozent aller Arbeitsplätze.

Die Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie gibt....



Blick Online - 02.03.2010
Frank A. Meyer
Die Deutschen und wir – ein Essay von Frank A. Meyer

Hans-Hermann Tiedje, ehemaliger Chefredaktor der «Bild»-Zeitung, spricht in einem Kommentar für eben jenes Blatt vollmundig im Namen aller Deutschen: «Wir lieben dieses kleine, kämpferische, tüchtige, leider nicht immer richtig Deutsch sprechende, aber dennoch kulturell hochstehende, inzwischen sogar recht gut Fussball spielende Bergvolk.»

Das ist das eine Bild der Schweiz.

Das andere malt die Illustrierte «Stern». Sie schildert die Schweizer als skrupellose «Alpenpiraten», für die eine Abschaffung des Bankgeheimnisses «eine existenzielle Bedrohung» bedeuten würde, weil sie ja nicht allein «von Chalet-Romantik, Schokolade und Präzisionsuhren» leben möchten.

Die Schweiz hat 330 Banken, 20 davon akquirieren vorwiegend Kunden im Ausland, betreiben mithin das Geschäft der Beihilfe zum Steuerbetrug.

Die Schweiz hat 290 000 Unternehmen. Das Kreditgewerbe erwirtschaftete vor der Finanzkrise neun Prozent des Bruttoinlandprodukts, aktuell sind es noch sieben. Um 0,5 bis ein Prozent dürfte der Anteil schrumpfen, wenn das Bankgeheimnis für Steuerbetrüger liquidiert wird.

Die Finanzinstitute beschäftigten vor der Krise etwa 140 000 Menschen, 3,2 Prozent aller Arbeitsplätze.

Die Elektro-, Maschinen-, Metall- und Uhrenindustrie gibt 280 000 Menschen Arbeit, der Gross- und Einzelhandel 560 000, das Gesundheitswesen 540 000.

«Bergvolk»? «Alpenpiraten»?

Unter den 14 weltweit führenden Industrieländern ist die Schweiz im Rating der Hochtechnologie auf Rang 1 mit ihrem Maschinenbau, darunter Textil- und Werkzeugmaschinen, Automaten und Roboter; auf Rang 1 mit ihren wissenschaftlichen Präzisionsinstrumenten; auf Rang 1 mit ihrer Pharmaindustrie; auf Rang 2 mit ihrer Chemieproduktion.

Allein die Warenexporte der Schweiz pro Kopf der Bevölkerung betragen 26 000 Dollar. Deutschland exportiert pro Kopf für 18 000 Dollar, die USA für 4200 und China für 1700 Dollar. «Bergvolk»? «Alpenpiraten»?

Die Schweiz ist das kompetitivste aller Industrieländer, mit einer Facharbeiterschaft, deren Performance im Weltvergleich als unübertroffen gilt.

Auch Swissbanking, sofern es sich des Investment-Hütchenspiels enthält und auf Hehlerei mit Steuerfluchtgeldern verzichtet, ist Weltspitze: Notenbanken, Geschäftsbanken, multinationale Konzerne, Entwicklungsländer und Pensionskassen rund um den Globus schätzen es, ihre Kapitalien von Schweizer Banken verwalten zu lassen. Das alles muss einmal gesagt sein.

Gerade jetzt. Und gerade den Deutschen.

Es muss vor allem deshalb endlich einmal gesagt sein, weil die Schweiz über sich selbst das Allerdümmste erzählt. Gerade jetzt. Und gerade den Deutschen.

Angela Merkel erscheint in der Schweiz auf dem Titelbild einer rechtspopulistischen Wochenzeitung als peitschenbewehrte Reiterin des Schweizer Finanzministers Hans-Rudolf Merz, im Hintergrund streckt Wolfgang Schäuble den Kopf aus einem feldgrauen Panzer. Ist die Schweiz tatsächlich so verblödet?

Es macht leider ganz den Anschein: Die jungfreisinnige Partei, das Schweizer Pendant zu Deutschlands «Julis», publiziert ein «Wanted»-Plakat mit den Köpfen von Merkel und Schäuble. Politiker und Publizisten der rechtspopulistischen SVP, immerhin der grössten Schweizer Partei, diffamieren die Regierung in Berlin als kriminell und fordern die Verhaftung jedes deutschen Ministers, der es wagt, Schweizer Boden zu betreten.

Der helvetische Populist Christoph Blocher, seit Jahren Wortführer der äusseren Rechten, verunglimpft die Kanzlerin des Nachbarlandes: «Leider fehlt ihr das Unrechtsbewusstsein. Frau Merkel hat aufgrund ihrer Geschichte – sie stammt aus der DDR – ein anderes Verständnis vom Verhältnis Staat– Bürger.»

Den deutschen Medien behagt das Gelärm aus der Schweiz.

Sie führen das «Bergvolk» vor: zum Belächeln. Sie präsentieren die «Alpenpiraten»: zum Beschimpfen.

Die Schweiz ist das nicht. Ein Teil der Schweiz allerdings schon. Nämlich der kleine Teil des Landes, der sich in den vergangenen dreissig Jahren sukzessive der übrigen Schweiz und ihrer politischen Instanzen bemächtigt hat: die Bankenschweiz, die Spekulantenschweiz, die Geldschweiz.

Diese mächtige Minderheit verfolgt ein langfristiges Projekt: Das «Bergvolk» soll Statist spielen in einem Alpen-Monaco oder Alpen-Singapur, dem Wohlfühlresort für die Oligarchen einer unsicher gewordenen Welt. Wie im Zweiten Weltkrieg der Schweizer Heerführer General Henri Guisan das Réduit, seine Alpenfestung, in den Granit treiben liess, so träumen die Banker von einer Luxusfestung für die Reichen und Reichsten.

Teilweise ist der Bau schon fortgeschritten, virtuell und ganz konkret: durch Pauschalsteuern und Niedrigststeuern, durch Luxuswohnzonen, ja durch ganze Regionen, in denen das Leben nur noch für sehr gut Betuchte erschwinglich ist – von St. Moritz im Oberengadin über die Gold- und Silberküste am Zürichsee bis zu den grandiosen Gestaden des Genfersees.

Die weltweite Finanzkrise und der daraus folgende Druck auf das Bankgeheimnis haben die Vollendung dieser Monaco-Schweiz ins Stocken gebracht: Europa fordert auch von ihr europäische Fairness und europäischen Anstand.

Die Schweizer Politik lernt derzeit von Tag zu Tag, dass die globale Vernetzung des Landes nicht ohne globale Regeln funktioniert. Die Schweizer Bürger lernen derzeit von Tag zu Tag, das zu sein, was sie längst sind: Das «Bergvolk» ist ein Weltvolk. Ob es will oder nicht.

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