Freitag, März 19, 2010

Griechenland ohne Säulen

NZZ Online
18. März 2010
Griechenland ohne Säulen

Eine Krise, die historisch zu verorten ist – statt Realitäten wahrzunehmen, pflegte Europa allzu lange ein Wunschbild


Jahrelang sah Europa zu, wie Griechenland grobfahrlässig in eine Krise schlitterte, die nun die EU bedroht. Dabei hat man der Illusion von der Wiege der europäischen Kultur nachgehangen und übersehen, dass Griechenland von den Strukturen und den damit verbundenen Problemen her ein Balkanland ist.

Oliver Jens Schmitt

Im Athener Parlament wurde heftig diskutiert. Die Budgetnöte liessen den beiden grossen Parteien nur wenig Spielraum. Verflogen war der nationale Taumel nach den Olympischen Spielen, die soeben in Athen stattgefunden hatten. Für die Modernisierung der Infrastruktur und die Rüstungsausgaben war ebenso wenig Geld vorhanden wie für geplante Steuererleichterungen. Beide grossen Parteien erwogen aber den Abbau von Sozialleistungen und der Pensionszahlungen, die das Budget massiv belasteten. Gläubiger bedrängten das Land. Bauern und Wirtschaftstreibende klagten über die ausufernde und unfähige Bürokratie. Unzufriedene Jugendliche erschütterten mit ihren Demonstrationen Athen. Die Krise endete mit dem Bankrott des griechischen Staates, der der Aufsicht ausländischer Gläubiger unterstellt wurde.

Nicht die Lage Griechenlands im Jahre 2010 wird hier beschrieben, sondern Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Geschichte wiederholt sich glücklicherweise nicht. Denn 1897 liess sich die griechische Regierung mitten in schwersten Haushaltnöten von einer erregten Athener Volksmenge in einen Krieg gegen das militärisch weit überlegene....


NZZ Online
18. März 2010
Griechenland ohne Säulen

Eine Krise, die historisch zu verorten ist – statt Realitäten wahrzunehmen, pflegte Europa allzu lange ein Wunschbild


Jahrelang sah Europa zu, wie Griechenland grobfahrlässig in eine Krise schlitterte, die nun die EU bedroht. Dabei hat man der Illusion von der Wiege der europäischen Kultur nachgehangen und übersehen, dass Griechenland von den Strukturen und den damit verbundenen Problemen her ein Balkanland ist.

Oliver Jens Schmitt

Im Athener Parlament wurde heftig diskutiert. Die Budgetnöte liessen den beiden grossen Parteien nur wenig Spielraum. Verflogen war der nationale Taumel nach den Olympischen Spielen, die soeben in Athen stattgefunden hatten. Für die Modernisierung der Infrastruktur und die Rüstungsausgaben war ebenso wenig Geld vorhanden wie für geplante Steuererleichterungen. Beide grossen Parteien erwogen aber den Abbau von Sozialleistungen und der Pensionszahlungen, die das Budget massiv belasteten. Gläubiger bedrängten das Land. Bauern und Wirtschaftstreibende klagten über die ausufernde und unfähige Bürokratie. Unzufriedene Jugendliche erschütterten mit ihren Demonstrationen Athen. Die Krise endete mit dem Bankrott des griechischen Staates, der der Aufsicht ausländischer Gläubiger unterstellt wurde.

Nicht die Lage Griechenlands im Jahre 2010 wird hier beschrieben, sondern Entwicklungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Geschichte wiederholt sich glücklicherweise nicht. Denn 1897 liess sich die griechische Regierung mitten in schwersten Haushaltnöten von einer erregten Athener Volksmenge in einen Krieg gegen das militärisch weit überlegene Osmanische Reich treiben. Dass osmanische Truppen nicht in Athen einmarschierten, verdankte das Land einzig dem Eingreifen der Grossmächte.

Auf osmanischen Strukturen

Geschichte wiederholt sich nicht, Strukturen aber verändern sich bisweilen nur langsam. Und dies gilt für das neugriechische Staats- und Gesellschaftsmodell ebenso wie für die Reaktionen in Europa (das hier, dem neugriechischen Sprachgebrauch gemäss, als Gegenüber Griechenlands aufgefasst wird). Die neugriechische Gesellschaft ist wie ihre Nachbarn auf dem Balkan im Wesentlichen aus Strukturen des Osmanischen Reiches hervorgegangen. Das verbreitete Misstrauen der Gesellschaft gegenüber dem Staat, die Hemmung staatlicher Einrichtungen durch Klientelismus und Korruption, die Bedeutung persönlicher Beziehungen bei der Wahrnehmung sozialer Interessen, eine nicht gleichmässig akzeptierte Übernahme europäischer Normsysteme (Verfassung, Recht), eine geringe Konsensfähigkeit im politischen Leben, eine gewisse Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft, die bisweilen verbunden ist mit kollektivistisch ausgerichteten Gesellschaftsidealen – all dies findet sich in den Staaten der Region, in Teilelementen notabene aber auch ausserhalb derselben, etwa in Süditalien.

Um die griechische Krise historisch zu verorten, scheint aber ein Vergleich mit den strukturverwandten Staaten des Balkans hilfreich. Von deren Entwicklungsweg entfernte sich Griechenland nach 1945, da es als einziges Balkanland nicht unter kommunistische Herrschaft geriet. Doch auch die grosszügige Finanzhilfe der EG bzw. der EU seit 1981 hat langlebige Strukturelemente nicht grundlegend verändert, vor allem, da diese Mittel erheblich zum Erhalt und Ausbau von Klientelsystemen verwendet wurden, die von den beiden grossen politischen Parteien abhängen.

Heftigere Reaktionen


Die Reaktionen auf die griechische Finanzkrise sind in Europa heftiger als im Falle Portugals oder Islands. Geschichte und Kultur erscheinen plötzlich als Teil einer eigentlich finanztechnischen Debatte, wenn deutsche Magazine griechische Statuen als Symbol bemühen und griechische Politiker ihre zivilisatorische Überlegenheit gegenüber deutschen Kritikern hervorheben.

Wie ist dies zu erklären? Griechenland dient «Europa» als Projektionsfläche, die ihrerseits das Projizierte zum Selbstbild gemacht hat. Im neuzeitlichen Griechenland sahen antikebegeisterte europäische Intellektuelle das antike Hellas, die Wiege europäischer Kultur und Demokratie. Viele Anführer der orthodoxen Aufständischen, die seit 1821 für eine Sezession als eigener Staat am Rande des Osmanischen Reichs kämpften, übernahmen diese Vorstellung. Die Antike bildete fortan das wichtigste symbolische Kapital des 1830 gegründeten Kleinstaates, der stets viel mehr europäische Sympathie genoss als seine allmählich entstehenden nördlichen Nachbarstaaten auf dem Balkan.

Das wiedererstandene Hellas sollte zum Musterland im Orient werden. Die bayrischen Wittelsbacher übernahmen die Krone und schickten bayrische Beamte, die das Staatswesen aufbauen sollten. Der junge Staat und seine Eliten verschrieben sich ganz dem Antikekult. Mit Bezug auf die Kontinuität zum antiken Hellas entwickelte die griechische Elite eine ausgeprägte Überlegenheitshaltung gegenüber den slawischen, albanischen und türkischen Nachbarn, aber auch bisweilen gegenüber Europa, dem sich das Land wiederholt als Wiege europäischer Werte in Erinnerung brachte. Die griechische mission civilisatrice führte zu Angriffen auf das Osmanische Reich (1897, 1912, 1919), die letztlich in die Niederlage gegen Kemal Atatürks Türkei und in das Ende des kleinasiatischen Griechentums mündeten. Erst angesichts der Katastrophe wurden in Griechenlands weltlicher Elite kritische Stimmen lauter, die den inneren Landesaufbau über nationalen Expansionismus stellten und organisch gewachsene kulturelle Traditionen aus byzantinischer und nachbyzantinischer Zeit dem Antikekult entgegensetzten.

Doch zeitigte die Selbstdarstellung als wiedererstandenes Hellas in Europa bis heute wesentliche Vorteile: Griechenland wurde als Mittelmeerland, als Teil des Westens, nicht des Balkans empfunden. Nach 1923 finanzierte der westlich dominierte Völkerbund die Integration der 1,5 Millionen Flüchtlinge aus Kleinasien – und trug damit die Kosten des gescheiterten Traums von einem Grossgriechenland. Rund zwanzig Jahre später trugen diese besonderen Sympathien – gewiss nicht ausschliesslich, viel gewichtiger war die strategische Lage des Landes – dazu bei, dass Griechenland nicht unter die Herrschaft Stalins gelangte wie die meisten anderen Balkanländer.

Als erstes Balkanland wurde Griechenland in die EG aufgenommen, die damit den Demokratisierungsprozess nach dem Ende der Obristendiktatur (1974) unterstützte. Dass damit Deutschland über seine Beiträge an die EG/EU die Hauptlast der Modernisierung des Landes trug – die Griechenland heute so stark von seinen Nachbarn in der Region unterscheidet –, scheinen griechische Politiker heute ebenso zu vergessen wie die bisher herrschende Langmut der EU, die Griechenlands Obstruktion in der Makedonienfrage oder sein Junktim zwischen der EU-Osterweiterung und der Aufnahme des geteilten Zypern hinnahm.

Sturz vom hohen Podest


Griechenland verlangt Anerkennung und auch Sympathie für seine Stellung als Mutterland der europäischen Kultur. Wer auf ein hohes Podest steigt, stürzt tiefer als andere. Die Empörung über Griechenland stammt in Europa zumeist aus enttäuschter Zuneigung. Und derart desillusionierte Liebe kennzeichnet seit langem das Verhältnis zwischen Hellas und Europa. Schon viele Philhellenen des 19. Jahrhunderts reagierten verbittert, als sie in Griechenland keinen antiken Hellenen, sondern einer orthodoxen postosmanischen Gesellschaft griechischer, albanischer und aromunischer Sprache begegneten. Immer wenn die enorme Spannung zwischen Anspruch und soziokultureller Wirklichkeit abfiel, entluden sich heftige identitäre Gewitter, in Griechenland selbst, noch stärker aber bei jenen im Ausland, die sich in ihren Projektionen betrogen fühlten.

Man täte daher gut daran, die Finanzkrise und ihre kulturelle Metaebene – den heftigen Umgang mit derselben – in zwei grössere Zusammenhänge zu stellen. Zum einen in einen gesellschaftlichen Vergleichsrahmen, innerhalb dessen Griechenland als Teil Südosteuropas betrachtet und damit an seinem Entwicklungsgang in den letzten Jahrhunderten gemessen wird – ein Griechenland ohne Säulen sozusagen, dessen nördliche Provinzen vor 100 Jahren mit einer von der heutigen ganz verschiedenen ethnischen Struktur Teil des Osmanischen Reiches gewesen waren. Zum anderen sollte bedacht werden, dass diese Säulen zu Griechenland gehören, aber eben zu einem imaginierten Griechenland, zu dem die neugriechische Elite ebenso beigetragen hat wie die europäische Griechenschwärmerei.


Prof. Dr. Oliver Jens Schmitt lehrt Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien. Vor kurzem erschien bei Pustet der vielbeachtete Band: «Skanderbeg. Der neue Alexander auf dem Balkan».

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