Mittwoch, Oktober 13, 2010

Der englische Mittelstand ächzt unter Camerons Spardruck

Tages Anzeiger 12.10.2010
Der englische Mittelstand ächzt unter Camerons Spardruck
Von Philipp Löpfe.

Die Regierung von David Cameron verlangt von den Menschen grosse Sparopfer und will gleichzeitig den Gemeinschaftssinn fördern. Ist das zynisch oder nur dumm?

Auf der britischen Insel wird derzeit ein soziales Experiment mit realen Menschen durchgeführt: Die neue konservativ-liberale Regierung will mit drakonischen Sparmassnahmen den Staatshaushalt sanieren und gleichzeitig die Menschen zu mehr Freiwilligenarbeit an der Menschheit anhalten. Anstelle von «Big Government» (aufgeblähte Regierung) soll so die «Big Society», eine faire und gerechte Gesellschaft entstehen, in der man sich wieder gegenseitig hilft.

Die Idee für eine «Big Society» ist nicht neu. «Frag nicht, was der Staat für dich tun kann, sondern frag dich, was du für die Gesellschaft machen kannst», hat bereits John F. Kennedy in seiner legendären Antrittsrede proklamiert. An diesen Geist will der britische Premierminister David Cameron anknüpfen. Dummerweise haben sich in den rund 50 Jahren, die zwischen ihm und Kennedy liegen, die gesellschaftlichen Umstände massiv verändert.

Andere Situation in den USA

Die Vereinigten Staaten waren in den 60er-Jahren geprägt von einem breiten Mittelstand. Die Menschen hatten einen sicheren Job, verdienten.....
anständig und konnten sich ein gutes Leben mit steigendem Wohlstand leisten. Die Einkommens- und Steuerverhältnisse waren aus heutiger Sicht geradezu «sozialistisch». Spitzenverdiener bekamen etwa zehnmal mehr als der Mittelstand, und sie mussten dafür sehr hohe Steuern bezahlen. «1964 fiel der Grenzsteuersatz auf 77 Prozent», schreibt Robert Reich in seinem neuen Buch «Aftershock». «Er lag auch 1969 unter Richard Nixon immer noch bei 77 Prozent. Selbst wer alle Steuerschlupflöcher ausnutzte, musste in der Zeit des «Grossen Wohlstandes» immer noch mehr als die Hälfte seines Einkommens als Steuer abführen.»

Das Vereinigte Königreich im 21. Jahrhundert ist geprägt von einem neuen Klassengeist. Es gibt eine neue Oligarchie – Banker, Hedgefonds-Manager, Fussball- und Rockstars – die in kurzer Zeit unglaublich reich geworden ist. Und es gibt einen Mittelstand, der seinen bescheidenen Wohlstand schmelzen sieht wie Schnee an der Sonne. Von diesem Mittelstand fordert die neue Regierung sehr grosse Opfer. So verlieren beispielsweise Familien, die ein Einkommen von mehr als rund 70'000 Franken aufweisen, den Anspruch auf Kindergeld. Nicht nur das: Cameron und Co. werden Sozialhilfe jeglicher Art beschneiden, Renten kürzen und Schulgelder erhöhen. Dies alles ihm Namen von Fairness und Gerechtigkeit.

Cameron – ein Mann der Oberschicht

David Cameron ist, wie die meisten seiner Regierungskollegen, ein Mitglied der britischen Oberschicht. Diese Menschen werden in exklusiven Privatschulen wie Eton erzogen und studieren an Eliteuniversitäten wie Oxford und Cambridge. Sicher, auch sie werden sich einschränken und mit höheren Steuern rechnen müssen. Sie werden es verkraften. Die Angst, dass ihnen unter der Woche das Haushaltsgeld ausgeht, kennen sie nicht. Unter dem Strich das Ergebnis: Der Mittelstand trägt die Hauptlast des Sparpaketes.

Die Globalisierung hat massenhaft sogenanntes soziales Kapital vernichtet. Darunter versteht man Dinge wie Gemeinschaftssinn und Vertrauen. Das Anreizsystem der Wirtschaft – Leistungslohn, Boni etc. – hat uns in den letzten 30 Jahren zu Egoisten erzogen. Wir zügeln in Gemeinden mit dem tiefsten Steuersatz und arbeiten bei Unternehmen mit den höchsten Löhnen. Wer in einer solchen Gesellschaft von Gemeinschaftssinn schwärmt und von «Grosser Gesellschaft» schwafelt, ist entweder zynisch oder dumm. (Tagesanzeiger.ch/Newsnetz)

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