24. Oktober 2010, NZZ am Sonntag
Der gesunde Schlaf ist eine Traumvorstellung
Unser Ideal vom ungestörten Schlaf ist eine Idee, die unserer Natur widerspricht
(ein weiterer Artikel zum Thema Schlaf findet sich hier/ul)
Von Ori Schipper
Wenn uns in der Werbung Matratzen «für einen tiefen, gesunden Schlaf» angepriesen werden, meinen wir, genau zu wissen, was wir uns darunter vorzustellen haben: Der Gerechte schläft täglich 8 Stunden, ungestört und ununterbrochen. Und die anderen schlucken Medikamente, um es ihm gleichzutun – es werden immer mehr, wie die Verkaufsstatistiken von Schlaftabletten belegen.
Aber vielleicht hat diese Epidemie mehr mit unseren kulturell geprägten Vorstellungen eines gesunden Schlafs als mit unserer Natur zu tun. Vielleicht rennen wir einem Idealbild des Schlafens hinterher, das es in der Menschheitsgeschichte nie gegeben hat und das wir deswegen auch mit Medikamentenhilfe nicht erreichen werden.
Seit der Erfindung der Glühbirne vor über hundert Jahren machen wir mit gleissendem elektrischem Licht die Nacht zum Tag. Für unseren Körper, der seine innere Uhr an den verlängerten Tagen – und verkürzten Nächten – ausrichtet, bedeutet die künstliche Beleuchtung eine Herausforderung, der wir offenbar nicht gewachsen sind.
Anderswo auf dieser Welt – bei verschiedenen indigenen Gruppen wie etwa bei den Hirten der Gabra in Kenya oder den Ackerbauern auf Suleleng in Bali – schlafen die Menschen völlig anders, wie die Anthropologinnen....
Carol Worthman und Melissa Melby gezeigt haben. Die Balinesen beispielsweise kennen eine Art Angst-Schlaf, in den sie in gefährlichen oder angstauslösenden Situationen fallen.
Schlafen ohne Körperkontakt
Zwischen den weltweit verschiedenen Schlafkulturen haben die Anthropologinnen grosse Unterschiede ausgemacht. Unsere westlichen Schlafgewohnheiten heben sich in zwei Punkten von allen anderen ab. Erstens schlafen wir allein, mit höchstens geringem Körperkontakt zu anderen Schlafenden. Und dies gut zugedeckt in einem sauberen, bequemen Bett, das im stillen, abgedunkelten Schlafzimmer steht. Aber weil der Mensch im Lauf seiner stammesgeschichtlichen Entwicklung wohl Sicherheit schöpfte aus dem Beisein anderer und ihren gelegentlichen Geräuschen in der Nacht, fehlen uns diese beruhigenden Signale, spekulieren die beiden Forscherinnen.
Zweitens schlafen wir in einem einzigen, zeitlich geregelten Block von 6 bis 8 Stunden, während der Schlaf bei allen beobachteten indigenen Gruppen in mehrere Phasen unterteilt ist. Auch in Europa schlief man vor der industriellen Revolution – also vor dem Einzug der Glühbirnen in alle Haushalte – zweimal, wie der Historiker Roger Ekirch in seinem Buch «In der Stunde der Nacht. Eine Geschichte der Dunkelheit» mit zahllosen historischen Dokumenten darlegt.
Der «erste Schlaf», den anscheinend schon Homer in seiner «Odyssee» erwähnte, begann nach Einbruch der Dunkelheit und dauerte bis kurz nach Mitternacht. Dann waren die Leute ein bis zwei Stunden wach. Einige standen auf, rauchten oder besuchten ihre Nachbarn. Andere blieben im Bett: «Nach dem ersten Schlaf gelingen die Kopulationen besser», ist von einem französischen Arzt im 16. Jahrhundert überliefert. Viele besprachen sich, beteten oder lagen still in einer Art meditativem Zustand und sannen über ihre Taten, Pläne oder Träume – um dann, gegen zwei Uhr morgens, in den «zweiten Schlaf» zu sinken.
Auch der Schlafforscher Thomas Wehr hat untersucht, wie unser Schlaf aussähe, wenn wir – wie unsere Vorfahren, die im Winter nicht auf den Lichtschalter drücken konnten – 14 Stunden pro Tag in der Dunkelheit ausharren müssten. Genau das war die Aufgabe von 16 Freiwilligen, die 1992 an seinem Experiment am National Institute of Mental Health in den Vereinigten Staaten teilnahmen. Während sie – mit einer Temperatursonde im Anus – tagsüber ihren persönlichen Aktivitäten nachgehen konnten, begaben sie sich nachts in ein Schlaflabor. Dort wurde ihnen eine Kappe mit Elektroden zur Messung der Hirnströme übergestülpt, bevor man sie in ein fensterloses Zimmer schickte, wo sie in der ersten Woche während 8 Stunden, dann aber vier Wochen lang 14 Stunden im Dunkeln lagen und dabei möglichst viel schlafen sollten.
Lange Nächte
In der ersten Woche passierte nichts Spektakuläres. Die Probanden schliefen im Mittel innerhalb einer halben Stunde ein und wachten nach 7,6 Stunden, knapp bevor das Licht im Zimmer anging, wieder auf. Als sie sich aber in der zweiten Woche an die langen Nächte zu gewöhnen hatten, lagen die Teilnehmer durchschnittlich vor dem Einschlafen 2 Stunden lang wach, schliefen einige Stunden, dämmerten dann wieder eine Stunde lang vor sich hin, um schliesslich nochmals einzuschlafen. Insgesamt schliefen sie 10,6 Stunden, 3 Stunden mehr pro Nacht.
Auch die körpereigene Biochemie der Probanden stellte sich radikal auf den vorindustriellen Winter um und setzte während der längeren Nächte verschiedene Hormone, Melatonin und Prolaktin, über einen grösseren Zeitraum hinaus frei. Die Teilnehmer fühlten sich energetischer, glücklicher und weniger müde.
Drei verschiedene Argumentationsketten – Beobachtungen bei indigenen Gruppen, historische Forschungen und das kontrollierte wissenschaftliche Experiment der Schlafforscher – weisen unabhängig voneinander auf einen gemeinsamen Punkt hin: Unser verkürzter, durchgehender Schlaf hat mit dem archaischen, mehrteiligen Schlaf fast nichts gemein. Was viele als Schlaflosigkeit wahrnehmen und medikamentös therapieren, scheint in Tat und Wahrheit der natürliche Rhythmus zu sein, der unserer inneren Uhr im Laufe der Evolution seit Millionen von Jahren den Takt angegeben hat und der sich bei einigen Personen gegen den mit elektrischem Licht künstlich induzierten ewigen Sommer durchsetzt.
Für die Schlaflosen kann dieser Befund mehr als nur einen schwachen Trost bedeuten: Wer sich von der Vorstellung eines durchgehenden Schlafes lösen kann und dadurch lernt, sein eigenes Schlafverhalten zu akzeptieren – anstatt am Wachsein in der Nacht zu verzweifeln –, verträgt die Schlaflosigkeit besser.
(ein weiterer Artikel zum Thema Schlaf findet sich hier/ul)
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