Mittwoch, Oktober 20, 2010

Hors-sol-Kinder

23. August 2010, Neue Zürcher Zeitung
Hors-sol-Kinder
Der Strassenverkehr setzt den Kindern zu


Mit den zunehmenden Gefahren im Verkehr dürfen sich jüngere Kinder kaum noch unbegleitet auf der Strasse aufhalten. Die Folgen sind Übergewicht, weniger Sozialkompetenz und fehlende Kenntnis der Umwelt.

Marco Hüttenmoser

Beatrice kann unbegleitet im Freien spielen. Im Rahmen eines Forschungsprojekts hat sie ein detailreiches, buntes Bild ihres Wohnumfeldes gemalt (siehe Abbildung). Die gleichaltrige Claire kann hingegen nicht allein ins Freie. Das Wohnumfeld in ihrer Zeichnung besteht aus einer grauen Fläche. Beim Malen beklagte sich Claire: «Vor dem Haus hat es eine Strasse und etwa 200 Meter entfernt einen Spielplatz, zu dem ich nicht allein gehen kann.» Insgesamt haben 173 Kinder der ersten Primarklassen der Stadt Basel ihr Wohnumfeld gezeichnet. Die Unterschiede zwischen den Zeichnungen von Kindern, die unbegleitet im Freien spielen können, und jenen von Kindern, die dies nicht können, sind frappant. Erstere zeichneten durchschnittlich 16 Objekte (Kinder, Spielgeräte, Pflanzen und Tiere), letztere noch deren 2. Auch die soziale Situation ist völlig verschieden: Erstere haben durchschnittlich 12 Spielkameraden, letztere 2.

Die Kinderzeichnungen offenbaren zwei völlig verschiedene Welten. Vertieft analysiert wurden diese in einer Intensivuntersuchung bei 20 Familien mit fünfjährigen Kindern der Stadt Zürich: Wer in einem Wohnumfeld aufwächst, das kein....
unbegleitetes Spiel im Freien zulässt, zeigt im Alter von 5 Jahren deutliche Defizite in der motorischen und sozialen Entwicklung. Eine anschliessend in der Stadt Zürich durchgeführte repräsentative Studie und eine Kontrollerhebung in sieben Landgemeinden zeigte auf, dass in der Stadt wie auf dem Land ein Viertel bis zu einem Drittel der Kinder bis im Alter von 5 Jahren Wohnung und Haus nicht unbegleitet verlassen darf. Der Verlust an Spielkameraden für diese Kinder ist gross, und der Zwang, die Kinder dauernd zu begleiten, führt zu einem massiven Verlust an Bewegungszeit. Als wichtigste Ursache bezeichnen 76 Prozent von 1729 Eltern der Stadt Zürich den Strassenverkehr. Von 142 Eltern auf dem Land sind 87 Prozent dieser Meinung. Kinder, die ohne rechte Bodenhaftung aufwachsen – Hors-sol-Kinder sozusagen –, sind das Produkt der modernen, vom privaten Motorfahrzeugverkehr dominierten Gesellschaft.

Aus dem Verkehr gezogen

Im Jahr 1894 betonte die Zentralschulpflege der Stadt Zürich in einem Schreiben noch, dass es wichtig sei, die Kinder auf den Strassen und Plätzen der Stadt spielen zu lassen. 1923 verbot die gleiche Instanz den Kindern das Spiel im Strassenraum. Die Kinder liessen sich allerdings lange nicht von der Strasse vertreiben. Erst als die Zahl der Kinderunfälle stetig anstieg – den Höhepunkt erreichte sie 1976 –, wurden die Kinder von den Eltern sukzessive wörtlich aus dem Verkehr gezogen. Die Kinderunfälle sanken in der Folge bis heute. Im Gegensatz zu dieser Interpretation betonen offizielle Stellen und Verkehrsverbände, dass der Rückgang der Unfälle ein Erfolg der ergriffenen Sicherheitsmassnahmen sei. Eine differenzierte Analyse der Unfallzahlen zeigt nun aber, dass der deutliche Rückgang der Kinderunfälle sich auf die Gruppe der 5- bis 9-jährigen zu Fuss gehenden Kinder beschränkt, wie untenstehende Grafik belegt. Das stets wieder ertönende Eigenlob des Bundesamtes für Strassen, der Beratungsstelle für Unfallverhütung und der Verkehrsverbände trifft also nicht zu: Es gibt keine Verkehrssicherheitsmassnahme, die sich nur auf die jüngere Gruppe der zu Fuss gehenden Kinder auswirkt. Die einzige plausible Erklärung lautet, dass die Eltern mit den zunehmenden Gefahren auf der Strasse den jüngeren Kindern verbieten, unbegleitet im Freien zu spielen.

Kinder an die Leine nehmen

Übergewichtige Kinder standen jüngst im Zentrum vieler Medienberichte. Die Stadt Zürich etwa klagte, dass 20 Prozent der Kinder Übergewicht aufwiesen, wenn sie in den Kindergarten einträten. Im Konsens wird die Meinung vertreten, dass einmal angesetztes Fett nur schwer wieder reduziert werden kann. Neue Erkenntnisse machen auch deutlich, dass Übergewicht vorab auf Bewegungsmangel zurückgeführt werden muss.

Im Rahmen von Suisse Balance (www.suissebalance.ch) hat der Bund daher Massnahmen vorgeschlagen, die von mehreren Kantonen (z. B. Zürich: www.leichter-leben-zh.ch) übernommen wurden. Die Massnahmen entsprechen aber in keiner Weise heutigen Erkenntnissen. Sie setzen zu spät ein und belasten Kindergärten und Schulen mit Aufgaben, die weit über den Bildungsauftrag hinausgehen. Die wichtigste Massnahme hingegen – mehr Spielraum für Kinder im Wohnumfeld –, die als einzige wirksam Bewegungsmangel bereits bei jüngeren Kindern verhindern könnte, wird aus Rücksichtnahme auf den Strassenverkehr ausgeklammert.

Als «Perle» unter den angepriesenen Massnahmen sei der Pedibus erwähnt. Die Kinder werden – vorne eine Mutter, hinten eine Mutter – gruppenweise in den Kindergarten oder die Schule geführt. Eine fragwürdige Massnahme. Zwei- oder viermal 10 oder 15 Minuten gemächlich in die Schule trotten, trägt wohl kaum zur Bekämpfung von Übergewicht bei. Im Gegensatz dazu spielen in einem guten Wohnumfeld bereits 3- bis 4-jährige Kinder stundenlang im Freien. Hinzu kommt, dass in der Deutschschweiz «nur» 6 Prozent der Kinder mit dem Auto in die Schule gefahren werden. Es besteht also die Gefahr, dass beim Pedibus vorab Kinder mitmachen, die bisher selbständig zur Schule gingen. Die besonderen Qualitäten des Schulweges bestehen in den frühen selbständigen Erfahrungen: Kontakte mit andern Kindern anknüpfen, miteinander streiten und Konflikte lösen, die Umwelt vertieft wahrnehmen. Einer Katze, einem Igel am Wegrand auch einmal nachgehen usw. Mit dem Pedibus ist all das nicht möglich. Im Gegenteil: Unselbständigkeit wird gefördert, die Verantwortung der begleitenden Erwachsenen mündet in Dressurakten. Bestehende Projekte der Gemeinden für die Sicherung der Schulwege verschwinden in der Schublade.

Lösung liegt auf der Strasse

Nicht mehr Mutterliebe, nicht mehr Begleitung brauchen die Kinder, sondern mehr eigenständig erreichbaren Raum. Die Wohnquartiere müssen für die Kinder mit Tempo-30-Zonen wieder erkundbar und dank Begegnungszonen wieder bespielbar gemacht werden. Insbesondere die 2002 vom Bundesrat geschaffenen Begegnungszonen wären von grosser Bedeutung. Leider entwickelten sich die Bemühungen darum aber rasch zum Trauerspiel: Der grösste Teil von ihnen ist heute mit Parkplätzen verstellt und erfüllt ihren Zweck nicht. Einmal mehr ist es dem Individualverkehr gelungen, die Kinder aus dem Strassenraum zu vertreiben. Dies auf Kosten einer gesunden Entwicklung. Die Folgen sind Bewegungsmangel, massiv ansteigendes Körpergewicht, weniger Sozialkompetenz und fehlende Kenntnis der Umwelt.

Weil wir zu bequem sind, auch nur 50 Meter bis zum nächsten Parkplatz zu Fuss zu gehen, bleiben die Kinder vor dem Fernseher sitzen, bis sie, versehen mit verschiedensten Defiziten, in die gesellschaftlichen «Flickbuden» Kindergarten oder Schule eingeliefert werden.

Infos auf www.kindundumwelt.ch.
Der Autor arbeitet beim Netzwerk Kind und Verkehr.

Keine Kommentare: