Tages Anzeiger
Dossier: Leser fragen
Tue recht und scheue niemand?
Peter Schneider
Leser fragt: Vor vielen Jahren haben wir als Neuntklässler in einer bernischen Sekundarschule mit einem für damalige Verhältnisse recht progressiven Phil.-I-Lehramtskandidaten den Spruch «Tue recht und scheue niemand» diskutiert. Ich erinnere mich, wie der junge Lehrer diesen Satz vollständig zerzauste und mich damit für mein ganzes bisheriges Leben beeinflusst hat, dass «recht tun und niemanden zu scheuen» für ein anständiges, verantwortungsvolles Leben nicht genüge. Bitte liefern Sie mir ein paar durchdachte Argumente, wieso dies so ist – oder eventuell auch nicht. E. O.
Liebe Frau O. Ihr freundliches Angebot, auf meine alten Tage mal wieder einen richtigen Besinnungsaufsatz schreiben zu dürfen, nehme ich natürlich noch so gerne an. Ich hoffe, ich weiss noch, wie das geht. Item, hier ist meine Second Opinion: Dass recht tun und niemanden scheuen nicht langt – geschenkt! Aber welche Maxime langt schon für alle Details eines ganzen Lebens?
Was mir an der von ihrem Lehramtskandidaten so schnöde zerzausten altväterlichen Lebensregel vor allem gefällt, ist das unscheinbare «und» zwischen den Satzteilen: «Tue recht» allein wäre bloss ein ziemlich trüber Spiesser-Ratschlag, wohingegen «scheue niemand» für sich allein genommen lediglich ein prima Querulantenmotto ergäbe. Den rechten Pfiff erhält der Spruch jedoch durch die Verbindung beider Regeln: Das «und» bereitet den Rechttuenden und Niemandscheuenden nämlich auf einen Konflikt zwischen den beiden Teilen des Sprichworts vor: Wer recht tun will, kann es nicht vermeiden, sich mit Autoritäten anzulegen. Der Satz ist gewissermassen eine alltagspraktische Variation über die Maxime der Aufklärung, dass man nur mündig wird, wenn man sich beim Denken nicht durch Autoritätsargumente einschüchtern lässt.
Der so betulich daherkommende Ratschlag hat also einen recht antiautoritären Einschlag: Rechttun ist nichts für Leute, welche die Auseinandersetzung mit Autoritäten scheuen. Das Sprichwort impliziert aber auch, dass es mit Aufmüpfigkeit allein nicht getan ist. Mit anderen Worten: Rechttun ist eine Angelegenheit, die sich argumentativ behaupten muss. Und diese Pointe des vermeintlich ziemlich angestaubten Sprichworts lässt mein antiautoritäres Aufklärerherz natürlich frohlocken. Jessesmariaundjosef, habe ich wirklich dieses altmödige Wort geschrieben? «Frohlocken»? (Wenigstens nicht «jauchzen» oder «jubilieren».) Ich hoffe, es reicht trotzdem noch für einen knappen Fünfeinhalber. (Tages-Anzeiger)
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